Gehypte Netflix-Dokus zeichnen Rumänien als ein urwüchsig-unberührtes Stück Natur. Dieser Orientalismus passt ins Bild, welches sich der westliche Teil der EU macht: rückständiges Land, arbeitswillige Bevölkerung. Welche Funktion hat diese Vorstellung für die Politik der Arbeitsmigration? Der Anthropologe und Berliner Gazette-Autor Florin Poenaru sieht hier keinen Sonderfall an den Rändern der EU, sondern Europas Zukunft.
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Zwei relativ neue Serien, die auf Netflix verfügbar sind, drücken die allgemeine Art und Weise aus, mit der westliche Medien Rumänien und seine Bürger*innen dargestellt. Die Tatsache, dass sie als Dokumentarfilme gekennzeichnet sind, verleiht ihnen einen Anschein von Realismus und Authentizität. Was sie jedoch befeuern, ist eine orientalisierende Konstruktion, die die internen Hierarchien und ungleichen Beziehungen widerspiegelt und rechtfertigt, auf denen die EU notwendigerweise beruht.
“Flavors of Romania” etwa ist eine britische Produktion aus dem Jahr 2018, die aus neun Episoden besteht und in der Hauptrolle Charlie Ottley zeigt, der mit seinem Motorrad die historischen Regionen des Landes bereist. Der Auftakt der Serie beschwört die alte Trope, wonach Rumänien der Schnittpunkt zwischen Orient und Okzident ist, “ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen”. Die begleitenden Bilder zeigen altrömische ukrainische Lipovens (eine Minderheit in der nördlichen Dobrudscha), die nachts an einem Strand singen und tanzen; die einzige Lichtquelle ist ein riesiges Feuer, um das sich die Menschen versammeln. Für ein ungeschultes Auge mögen sie wie Roma aussehen, wie sie sich in anderen bekannten westlichen Darstellungen abgebildet finden.
Während Rumänien als kulturell vielfältig gepriesen wird, geht es schon bei der nächsten Botschaft um Natur. Die Off-Stimme erklärt den Zuschauer*innenn, dass Rumänien der “Hüter des letzten großen Wildnisgebiets Europas” ist: der Karpatenwald und seine Braunbärenpopulation.
Ein seltsamer Ort
Dies ist dann die Dualität, die die gesamte Serie strukturiert, die Linse, durch die das Land und seine Bürger*innen präsentiert werden: diverse vormoderne Kulturen, die heidnisch anmuten und wilde, rohe, ungezähmte Natur. Ein Land, das in Mythologie, alter Geschichte und Ritualen versunken ist. In diesem Kontext erscheint die Beschwörung des Dracula-Mythos gleich zu Beginn der Serie nur logisch und vorhersehbar. Es gibt nichts Modernes an Rumänien in dieser Serie. Die Kamera und die Erzählung fokussieren einsame Priester, vergessene Fischerdörfer und exotische Jäger. Die Absicht der Show ist es, das Seltsame, das Einzigartige und “die alten Traditionen” Rumäniens hervorzuheben. Ihre Aufgabe ist es, einen seltsamen Ort noch seltsamer erscheinen zu lassen. Sogar die Essensoptionen und Rezepte werden als skurril und geheimnisvoll dargestellt – etwas, das nur einige wilde Wilde essen würden.
Manchmal sind die Bilder sehr vertraut. Sie erinnern an die Art und Weise, wie westliche Reportagen Orte in Afrika oder Südostasien abbilden. Out of time and out of touch, sozusagen. Die Serie feiert Rumänien für seine Rückständigkeit und seine Abgeschiedenheit von der heutigen modernen Welt. Aber sie schimpft auch sanft über die Gleichgültigkeit der Rumän*innen gegenüber ihrem eigenen riesigen natürlichen und kulturellen Erbe. Jede Episode macht sich über die Einheimischen lustig, weil sie es versäumen, ihre Vergangenheit zu schützen, gleichzeitig werden sie verhöhnt, weil sie es nur ungenügend schaffen, ihr Land als Touristenmagneten für Westeuropäer*innen zu monetarisieren.
Beide Forderungen sind für die Rumän*innen nicht miteinander zu vereinbaren, was ihre suggestive Kraft noch verstärkt. Einerseits werden die Rumän*innen dazu angehalten, ihren “natürlichen”, uralten Traditionen und Gewohnheiten treu zu bleiben. Auf der anderen Seite werden sie unter Druck gesetzt, sich zu modernisieren und ökonomisieren, ihre “Identität” in eine Ware zu verwandeln und sie auf dem modernen Tourismusmarkt zu verkaufen.
Uralte Vorurteile
“Untamed Romania” (2018) ist eine 92-minütige Dokumentation über die Flora und Fauna der Karpatenwälder und des Donaudeltas. Der Fokus liegt dabei ausschließlich auf den Tieren, ihrem Lebensraum und ihrer Geschichte. Es werden keine Menschen vorgestellt. Rumänien scheint nur der Name eines riesigen Tierreichs zu sein, in dem noch fantastische Kreaturen aus uralten Zeiten leben. Der Subtext dieser Dokumentation ist ebenfalls deutlich lesbar: Rumänien als das Land der wilden, ungezähmten Tiere und als Hort der letzten vormodernen Überbleibsel in Europa.
Diese orientalisierenden Darstellungen sind ein kleines Beispiel für ein allgemeines Thema: die wilde Natur und die unzivilisierte, rohe, rückständige und unbändige Bevölkerung Rumäniens. Sie sind keine zufälligen Konstruktionen. Sie durchdringen die alltäglichen Darstellungen in Medien, Politik und bürokratischen Kreisen auf dem ganzen Kontinent. Auch ihr Status ist nicht unschuldig. Er rechtfertigt die Deklassierung rumänischer Bürger*innen innerhalb der europäischen Macht- und Arbeitsverhältnisse.
Nahezu fünf Millionen Rumän*innen wurden gezwungen, auf der Suche nach Arbeit quer über den Kontinent zu migrieren, vor allem an Orte wie Spanien, Italien, Deutschland und Großbritannien. Die intensive Arbeitsausbeutung, der die meisten von ihnen unterworfen sind, und die rassistischen Diskriminierung, die sie erdulden müssen, ist seit langem ein offenes Geheimnis und wurde in letzter Zeit in akademischen und NGO-Kreisen genau unter die Lupe genommen. Zahlreiche Artikel und Expert*innen weisen auf die unangemessenen Arbeitsbedingungen, die ungerechte Bezahlung, den fehlenden sozialen Schutz und den fehlenden Zugang zur Gesundheitsversorgung hin.
Systemrelevant und ausgebeutet
Die Covid-19 Pandemie fungiert als Brandbeschleuniger für all die zuvor vorhandenen Probleme. Rumänische Arbeiter*innen waren zunächst die ersten, die entlassen und nach Hause geschickt wurden, als das Gastgewerbe in Italien und Spanien geschlossen wurde, ohne dass sie Arbeitslosenunterstützung erhielten. Dann, als in Westeuropa strenge Schließungen verhängt wurden, stufte man rumänische Arbeiter*innen wieder als “systemrelevant” ein.
Sie durften die Quarantäne verlassen und damit ihr Leben und das ihrer Familien riskieren, um Corona-Arbeiter*innen zu werden: zum Spargelstechen und zum Schlachten in den Fleischereien in Deutschland, zum Traubenpflücken und zur Weinherstellung in Italien, zur Pflege als Krankenschwestern und Ärzt*innen in Österreich und zur Landarbeit in Spanien. Allerdings waren die Rumän*innen nicht die einzigen Osteuropäer*innen mit diesem Status während der Pandemie. Bulgar*innen, Ukrainer*innen und Moldawier*innen teilten ein ähnliches Schicksal. Was die Rumän*innen herausstechen lässt, ist die schiere Anzahl an Arbeitsmigrant*innen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung.
Ihren Herkunftsort – Rumänien – als roh, rückständig, unzivilisiert und ungezähmt zu konstruieren, hilft dabei, ihren Status als Arbeiter*innen, die in ganz Europa niedere, halsbrecherische und gefährliche Arbeiten verrichten, zu festigen und zu rechtfertigen. Da sie als “noch nicht so weit entwickelt” gelten, um als richtige Europäer*innen integriert zu werden, ähnelt ihr Status der “vierten Klasse” im Snowpiercer: Sie dürfen an Bord sein, solange sie die notwendige Arbeitskraft liefern, um den Zug in Gang zu halten. Wie die Pandemie zeigt, ist es genau diese Art von Arbeit, die die Wirtschaft und die Verteilungsnetze der EU am Laufen hält.
Das Herz der EU
Ideologische Formationen, wie sie von der oben erwähnten Serie (und anderen wie ihnen) propagiert werden, sind nicht einfach falsch in dem Sinne, dass sie die Realität verzerren und mystifizieren. Sie sind in der Tat “wahr” als moralische Darstellungen von ungleichen Machtverhältnissen. Was sie jedoch übersehen, ist ein komplexeres Ergebnis der ungleichen europäischen Integration. Aus der Perspektive der politischen Ökonomie ist Rumänien vollständig in die von Deutschland dominierte exportorientierte Industrie integriert, die die treibende Kraft der EU-Wirtschaft als Weltakteur darstellt.
Dank billiger Lohnkosten, geringer Steuern auf Einkommen und Gewinn, freundlicher Regulierungen für Unternehmer*innen und eines schwachen Staates wurde Rumänien in den letzten 20 Jahren zu einem Outsourcing-Paradies für verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten, von der industriellen Produktion von Autoteilen bis hin zu IT, Kommunikation und Logistik. Die Investitionen des Kapitals waren ungleichmäßig und zielten nur auf bestimmte Gebiete des Landes ab, vor allem auf die Region um die Hauptstadt Bukarest und auf einige wichtige regionale Zentren wie Cluj, Timisoara und Brasov.
Dies führte zu einem beispiellosen Wirtschaftswachstum, sowohl vor der Finanzkrise als auch unmittelbar danach, bis hin zu dem Punkt, an dem Rumänien unmittelbar vor der Pandemie eine der höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten in der EU hatte. Der Wohlstand war ungleich verteilt und trug zur Beschleunigung der Ungleichheiten zwischen Menschen und Regionen bei. Dies führte zu weiterer arbeitsbedingter Migration, diesmal aber nicht nur nach Westeuropa, sondern auch in die oben genannten Wachstumszentren. Einige von ihnen, wie jetzt Bukarest und die umliegende Region, wuchsen zu einem der reichsten in Europa heran. Das Pro-Kopf-BIP in Bukarest ist inzwischen höher als das in Ländern wie Kroatien und Bulgarien und übertrifft das von Berlin und Helsinki.
Was Narrative über ein vermeintlich unberührtes, unzivilisiertes Rumänien verdecken, ist genau diese interne ungleiche Entwicklung, nicht nur innerhalb des Landes, sondern auch innerhalb der EU selbst. Sie stellen eine Sehnsucht nach den guten alten Zeiten dar, in denen eine saubere Trennung in einen entwickelten, zivilisierten Westen und einen rückständigen, unzivilisierten Osten ausreichte, um die Welt zu erklären.
Diese imaginäre Geopolitik funktioniert in der Praxis nicht mehr. Das Wesen der EU-Politik und die ihr zugrundeliegenden Wirtschaftsbeziehungen haben einen Kontinent geschaffen, der voller Spaltungen und Ungleichheiten aller Art ist. Sie gehen über die nationalen Grenzen hinaus und betreffen auf unterschiedliche Weise alle EU-Mitgliedsstaaten. Anstatt einen Rückfall in die Vergangenheit zu repräsentieren, weisen die Osteuropäer*innen und insbesondere die Rumän*innen in der Tat auf die Zukunft des Kontinents hin, sollten die gegenwärtigen wirtschaftlichen und ideologischen Produktionsverhältnisse weiterhin vorherrschen.
Ich bin Dautscher und war zur Zeit der “Wende” an Weihnachten 1989 einige Tage in Rumänien, genauer in Sibiu, im Rahmen der ersten humanitären Unterstützung durch die damalige Johanniter Unfall Hilfe.
Die Eindrücke, die dieses Land und seine Leute zu dieer so besonderes schwierigen Zeit bei mir hinterließen, erzeugten in mir eine Verbindung zwischen der realen europäischen Vergangenheit, die ich bis dahin nur aus dritter Hand kannte.
Aus meiner Sicht war das Rumänien 1989 eine einzige riesige Chance, von der ich allerdings ahnte, daß man sie, aus Gründen, die nicht in Rumänien selber zu finden sind, nicht nutzen wird.
Mein Filmtipp für ein ganz anderes Bild, das von Rumänien gezeichnet wird, mit besonderem Blick auf die Roma: Transilvania mea: Von Gewinnern und Verlierern (https://greencampus.boell.de/de/afar/event%3Atransilvania-mea-von-gewinnern-und-verlierern-0)