Inmitten der Panik auf den Energiemärkten – ausgelöst durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Sanktionspolitik des Westens – werden alle Klimaziele und Forderungen nach Umwelt-, geschweige denn Transitionsgerechtigkeit über Bord geworfen, erinnert uns der Anthropologe, Aktivist und Autor Florin Poenaru in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism”.
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Zu den unmittelbaren und langfristigen Opfern der russischen Aggression gegen die Ukraine gehören das Klima und unsere kollektive Fähigkeit, die globale Erwärmung aufzuhalten. Das Geräusch der russischen Bomben, die auf Menschen und Infrastruktur in der Ukraine abgefeuert wurden, ließ die eindringlichen Warnungen des sechsten IPCC-Berichts der Vereinten Nationen verstummen. Das ist nicht nur im übertragenen Sinne gemeint: Wissenschaftler*innen aus der Ukraine, die an dem Bericht mitgewirkt hatten, mussten die Online-Sitzung zur Verabschiedung der Schlussnote verlassen, um Schutz zu suchen. Unmittelbare Bedrohungen übertrumpfen die Sorgen um die Zukunft.
Es ist kein Zufall, sondern ein Symptom, dass das Regime, das Krieg gegen die Ukraine führt, einen Nationalstaat regiert, der zu den zehn größten Kohlenstoffverschmutzern und Energieverbrauchern der Welt gehört. Letztlich eine Möchtegern-Supermacht, deren Stärke auf Extraktivismus beruht: nicht nur Öl und Gas wird in großem Maße gefördert, sondern es wird auch eine intensive Agrarproduktion betrieben und seltene Metalle werden abgebaut.
Die Verlängerung des Ruinösen und Mörderischen
Naomi Klein schrieb über die Sehnsucht nach einer Zeit, in der Öl und Gas aus dem Boden geholt und in die Wirtschaft und anschließend in die Atmosphäre gepumpt werden konnten, ohne dass man als Folge mit einem Massensterben rechnen musste. Diese Nostalgie ist ihrer Meinung nach das, was Putin, Trump und die kanadischen LKW-Konvois verbindet.
Doch damit sich Nostalgie und Melancholie einstellen, muss, wie Sigmund Freud vor langer Zeit schrieb, zuerst etwas verloren gehen. Stehen wir wirklich vor einer Krise des extraktivistischen Modells, das den Weg in die Klimakatastrophe und das Aussterben ebnete? Kämpft Putin (oder Trump oder Bolsonaro) eine verlorene Schlacht, indem er versucht, einen Zustand zu verlängern, der sowohl ruinös als auch mörderisch ist? Wenn überhaupt, dann weisen der Krieg und die Reaktion darauf in die entgegengesetzte Richtung: die Suche nach neo-extraktivistischen Wegen in einem globalen (post-)pandemischen Klima, das durch einen schweren wirtschaftlichen Abschwung und soziale Unruhen gekennzeichnet ist.
Timothy Mitchell hat aufschlussreich festgestellt, dass für die Förderung und den Transport von Öl und Gas eine geringere Zahl von Arbeiter*innen benötigt wird als für Kohle – die wichtigste Energiequelle des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert. Da die Zahl der Arbeiter*innen begrenzt ist und sie weniger Möglichkeiten haben, die Förderung und den Transport zu stören, neigen sie dazu, sich der von ihren Chefs auferlegten Arbeitsdisziplin zu unterwerfen, und es fällt ihnen schwerer, sich als soziale Kraft zu organisieren. Mitchell kommt zu dem Schluss, dass Gesellschaften, die um den Verbrauch von Öl und Gas herum strukturiert sind, dazu neigen, weniger demokratisch und eher autoritärer zu sein, und zunehmend von schweren militärischen Mitteln zum Schutz ihrer Reserven abhängig sind.
Russland, Saudi-Arabien und der US Dollar
Russland und Saudi-Arabien sind typische Beispiele für das, was Mitchell anspricht. Beide erfüllen bestimmte Funktionen innerhalb des globalen kapitalistischen Systems, und ihre (autoritären) politischen Regime, einschließlich ihrer Unterschiede, sind Ausdruck ihrer extraktivistischen politischen Wirtschaft. Gas und Öl aus Russland haben die deutsche Wirtschaft, die treibende Kraft der EU, angekurbelt, die ihrerseits zu einem wesentlichen Bestandteil des gesamten Weltmarkts geworden ist.
Diese bekannte und gut dokumentierte Abhängigkeit ist nicht zuletzt den USA ein Dorn im Auge, denn Nord Stream 2, die 1.234 Kilometer lange, durch die Ostsee verlaufende Erdgaspipeline von Russland nach Deutschland, die von Gazprom und mehreren europäischen Energiekonzernen finanziert wird, sollte sie nicht nur vertiefen, sondern auch die Bildung eines großen eurasischen Bündnisses ausweiten, was Washington seither zu verhindern versucht. Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde die Einweihung von Nord Stream 2 verschoben (oder gar abgesagt), aber das Problem bleibt bestehen.
Saudi-Arabien ermöglicht seinerseits die Existenz des Petro-Dollarsystems. Alle Öltransaktionen werden in Dollar abgewickelt, die dann über die Banken der Wall Street recycelt werden. Diese konstante Nachfrage nach Dollar ermöglicht es der US-Regierung, hohe Defizite zu machen und mehr Geld zu drucken, ohne einen Zahlungsausfall oder eine Inflationsspirale befürchten zu müssen.
Die Mentalität des Extraktivismus
Doch zurück zum Extraktivismus, dem zentralen Element der globalen politischen Ökonomie – und das schon seit dem 16. Jahrhundert. Eine “Ökologisierung” der kapitalistischen Wirtschaft wird nichts an dieser Schlüsselstellung ändern – abgesehen davon, dass sie einige Wege für die Kapitalakkumulation unter den Bedingungen niedriger Rentabilitätsraten eröffnen wird. Solange das Streben nach Profit und Wachstum im Mittelpunkt des Systems steht, wird der Extraktivismus dominant bleiben. Nicht nur als Rohstoffquelle, um das System zu nähren, sondern auch als Denkweise, der zufolge Natur, Landschaft, Menschen und praktisch alles abgebaut werden kann und soll. Sind Kryptowährungen nicht die jüngste und krasseste Ausprägung dieses Denkens?
Schürfen, abbauen, graben: All dies sind Schlüsselwörter, die die spanische Unterwerfung Amerikas im 16. Jahrhundert und die westliche Expansion in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert kennzeichnen. Beides sind Schlüsselmomente für die Festigung der kolonialen westlichen Moderne, die ihrerseits die globale Welt, wie wir sie kennen, ermöglicht hat. Beide bringen eine Grenzmentalität mit sich: Gebiete, die erobert werden und anschließend bewacht werden müssen, um die eigenen Interessen und strategischen Positionen zu wahren. Die tiefen Wurzeln der “realistischen” Position in der Theorie der internationalen Beziehungen sind in diesem extraktivistischen und expansionistischen Boden gepflanzt.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sowohl den Extraktivismus als auch den Realismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Die Geschwindigkeit, mit der dieser “Agenda-Reset” stattfand, hat mich davon überzeugt, dass er weniger mit der Dringlichkeit des Augenblicks zu tun hat (dem unerträglichen Verlust von Menschenleben in der Ukraine), sondern mit einer tief verwurzelten Reaktion des kapitalistischen Systems, jede Krise zu seinem Vorteil zu nutzen.
Naomi Klein bemerkte treffend: “Innerhalb weniger Stunden nach der Invasion wurde jedes planetenfressende Projekt, das die Bewegung für Klimagerechtigkeit in den letzten zehn Jahren blockieren konnte, von rechten Politiker*innen und industriefreundlichen Expert*innen verzweifelt wieder auf den Tisch gebracht: jede gestrichene Ölpipeline, jedes abgelehnte Gasexportterminal, jedes geschützte Fracking-Feld, jeder arktische Bohrtraum. Da Putins Kriegsmaschinerie mit Petrodollars finanziert wird, besteht die Lösung darin, mehr von unserem eigenen Öl zu bohren, zu fracken und zu verschiffen.”
Russlands Extraktivismus mit noch mehr Extraktivismus besiegen?
Hier kommt der Neo-Extraktivismus ins Spiel. Das Neue an ihm ist, dass er auf eine ethische und moralische Verpflichtung zu reagieren scheint: den russischen Staat für seine Aggression gegen die Ukraine zu bestrafen. Diese Reaktion beruht jedoch darauf, dass z. B. Saudi-Arabien, ein Regime, das nicht gerade für seinen demokratischen Charakter und seine Friedensliebe bekannt ist, mehr Öl fördert. Der Hintergrund: Um die in die Höhe schießenden Ölpreise in Schach zu halten, nachdem die USA die Einfuhr von Öl aus Russland verboten hatten, hat die US-Regierung die Saudis und die Iraker unter Druck gesetzt, mehr Öl zu fördern und auf den Weltmarkt zu bringen. Das zugrunde liegende Kalkül: Russlands Extraktivismus kann nur durch mehr Extraktivismus in anderen wichtigen Knotenpunkten der Weltwirtschaft besiegt werden.
Am dramatischsten ist, dass sich die EU in ihre eigenen Widersprüche verstrickt hat, die durch den Krieg nur noch größer wurden. Bis vor kurzem war die EU, zumindest rhetorisch, einer der fortschrittlichsten Akteure, wenn es darum ging, auf den Klimazusammenbruch aufmerksam zu machen und konkrete Schritte dagegen zu unternehmen. Nun sind diese Pläne auf Eis gelegt. Diejenigen, die gehofft hatten, dass die Abhängigkeit der EU von russischem Gas und Öl in Richtung erneuerbare Energien und “grünere” Quellen aufgelöst werden würde, wurden schwer enttäuscht.
Deutschland kündigte an, den Import von LNG zu prüfen, das sowohl teurer als auch umweltschädlicher ist. Investitionen in Gas- und Ölinfrastrukturen werden wieder ernsthaft in Erwägung gezogen. Die Kernenergie, die kurz vor dem Krieg offiziell als umweltfreundlich eingestuft wurde, hat wieder Hochkonjunktur. Selbst Deutschland könnte seinen Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie widerrufen, eine Kehrtwende vollziehen und wieder investieren. Während dieses Comeback trotz eines drohenden Atomkriegs stattfindet, werden die Risiken heruntergespielt nach dem Motto: “Keine Sorge, Atomkraft ist in Ordnung, wenn man nicht in der Nähe einer Uranmine oder eines Atomkraftwerks wohnt.” Während ich diese Zeilen schreibe, befindet sich der Uranpreis auf einem historischen Höchststand und verzeichnet seit Februar 2022 einen sprunghaften Anstieg. In diesem Zusammenhang scheint es sicher, einen Uranrausch vorherzusagen, der den Extraktivismus verstärken wird.
Auch die Kohle ist wieder da. Bereits im Jahr 2021 erreichte der Kohleverbrauch einen Rekordwert, da die Nachfrage nach Energie nach der Pandemie stark anstieg. Das Vereinigte Königreich kündigte Monate vor Beginn des Krieges in der Ukraine Pläne zur Eröffnung einer Kohlegrube an. Damit bot es Ländern wie Polen einen Vorwand, den Bergbau zu intensivieren und sich so der Europäischen Kommission zu widersetzen, die das Land jahrelang zur Schließung gedrängt hatte. Rumänien kündigte an, dass es die Förderung in seinen verbleibenden Kohlebergwerken verstärken wird. Gleichzeitig beschleunigte das Land die Pläne zur Erkundung seiner Gasreserven vor der Küste des Schwarzen Meeres.
Das Öl und Gas aus Russland, das jetzt in den USA und Europa boykottiert wird (obwohl die Pipeline durch die Ukraine immer noch mit voller Kapazität arbeitet), wird nicht verschwinden. Diese Rohstoffe werden nach China, Indien und in andere Länder des globalen Südens umgeleitet, die einen großen Energiebedarf haben. Um die niedrigeren Preise auf diesen Märkten und die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen auszugleichen, wird Russland mehr fördern und verkaufen müssen. Ähnlich verhält es sich mit seinen seltenen Metallen.
Wessen Energiesouveränität?
Das Zeitalter des Neo-Extraktivismus, das der gegenwärtige Krieg in der Ukraine eher planlos beschleunigt als sinnvoll gestaltet hat, wird auch von einem wachsenden Realismus in den internationalen Beziehungen begleitet. Nach der realistischen Doktrin haben Staaten ihre eigenen existenziellen Interessen, und sie sind berechtigt, diese um jeden Preis zu durchzusetzen, solange sie die Macht dazu haben (militärisch, wirtschaftlich, geopolitisch usw.).
Der vorherrschende Realismus war bereits in der Anfangsphase der Pandemie im Jahr 2020 sichtbar, als mächtigere Staaten (wie die USA weltweit oder Deutschland in der EU) in der Lage waren, knappe Ressourcen auf Kosten anderer Länder zu monopolisieren, die manchmal stärker von der Pandemie betroffen waren. Dieser Zustand wird sich nur noch verstärken. Es ist schon jetzt klar, dass immer mehr Länder von Energiesouveränität und größeren Sicherheitsbedürfnissen sprechen. Die Verfolgung der unmittelbaren Interessen des eigenen Staates steht jedoch im Widerspruch zu den globalen, konzentrierten Anstrengungen, die notwendig sind, um die Klimakatastrophe zu bewältigen. Die Energieversorgung wird auf absehbare Zeit Vorrang vor diesen Anliegen haben.
Der Realismus ist eine Doktrin der Macht. Je mehr Macht ein Land hat, desto eher ist es in der Lage, seine Interessen zu schützen und durchzusetzen. In der Vergangenheit wurde dies in der Regel durch militärische Macht erreicht. Der Krieg in der Ukraine hat zu einer erhöhten staatlichen Nachfrage nach Waffen geführt. Deutschland ist ein Beispiel dafür. Die Pläne der NATO zur Verstärkung ihrer Ostgrenze sehen den Kauf und die Stationierung von immer ausgefeilteren militärischen Mitteln vor. Dabei muss man im Hinterkopf behalten: Die US-Armee, das Herzstück der NATO, ist bereits für mehr Kohlendioxidemissionen verantwortlich als 140 Länder und die umweltschädlichste Institution der Welt.
Unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine ist es wahrscheinlich, dass die kapitalistische Welt einen neuen Kalten Krieg erleben wird, der dieses Mal wirklich den gesamten Planeten betrifft. Während des letzten Kalten Krieges erreichten die CO2-Emissionen in der Atmosphäre ein Rekordniveau und führten zu unserer aktuellen Lage, in der ein Temperaturanstieg von 3°C bis zum Ende dieses Jahrhunderts bereits als wahrscheinlich erscheint, mit horrenden sozialen und ökologischen Folgen. Es ist schwer zu glauben, dass ein neuer Kalter Krieg irgendetwas tun wird, um diesen Trend umzukehren. Vielmehr wird er ihn beschleunigen. Es wird also ein heißer Kalter Krieg werden – wenn wir nicht alles tun, was wir können, um die oben beschriebenen Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette; seine englische Version ist hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen After Extractivism-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de