SOS EU: Wer wagt’s die Grenze zwischen Belarus und Polen in eine humanitäre Zone zu verwandeln?

Die Rechnung der polnischen Regierung ist nicht ganz aufgegangen: Man wollte mit der Schließung des Grenzgebiets zu Belarus einen Ort des Schweigens errichten – die Menschenrechtsverletzungen sollten ungesehen und ungehört bleiben. Doch die Bevölkerung macht da nicht mit. Es gibt zahlreiche helfende Hände und Leute, die sich einmischen. Die Kultur-Anthropologin Maria Gutowska hat Stimmen zusammengetragen.

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Die humanitäre Krise an der weißrussisch-polnischen Grenze eskaliert und Medien aus aller Welt haben begonnen, darüber zu berichten. Das Lukaschenko-Regime wird beschuldigt, Menschen, die in Europa Zuflucht suchen, zu ermutigen, nach Belarus zu kommen und die Grenze nach Polen zu überqueren. Doch die polnische Armee drängt sie zurück und die Spannungen nehmen zu. Man spricht von drei- bis viertausend Menschen in behelfsmäßigen Lagern entlang des Stacheldrahts. Es ist wichtig, sich ein Bild von der polnischen Seite der Grenze mit ihren über 15.000 bewaffneten Grenzsoldat*innen, der Armee und der Polizei zu machen und zu begreifen, welche Konsequenzen die Maßnahmen haben, die die polnische Regierung bisher ergriffen hat.

Am 2. September 2021 verhängte die polnische Regierung den Ausnahmezustand über das Grenzgebiet, das sich über 418 km erstreckt und 183 Städte und Dörfer umfasst. Zwei Dinge müssen laut und deutlich über die Situation gesagt werden, die für jeden, der in den letzten Jahren friedlich in Europa gelebt hat, ein Schock sein könnte und sollte. Erstens dürfen keine Medien die Zone betreten. Zweitens dürfen keine humanitären Organisationen die Zone betreten. Aber das ist noch nicht alles. Am 22. Oktober unterzeichnete der polnische Präsident Andrzej Duda ein Gesetz, das es dem Grenzschutz offiziell ermöglicht, Menschen über die Grenze zurück nach Weißrussland abzuschieben, ohne einen Asylantrag zu prüfen. Um es anders auszudrücken: Der Präsident eines europäischen Landes hat ein Dokument unterzeichnet, das Soldat*innen dazu ermutigt, gegen die Genfer Konvention zu handeln.

Für eine Reihe von Menschen in Polen ist das unverständlich, nicht zuletzt, weil seit August Hilfe organisiert wird. Zum Beispiel helfen die Bewohner*innen der Notstandszone im Stillen. Die meisten von ihnen werden wir wahrscheinlich nie kennenlernen; einige streifen nachts durch die Wälder und tragen 50 Kilogramm schwere Rucksäcke mit Hilfsgütern für die Bedürftigen, andere hängen Plastiktüten mit Lebensmitteln an Äste und stellen Wasser an Kreuzungen ab, wieder andere bieten heimlich Unterschlupf für erschöpfte Menschen, die sie in den Straßengräben gefunden haben. Außerhalb der Zone koordinieren Organisationen wie Grupa Granica und die Ocalenie-Stiftung die Freiwilligen. Sie helfen den Asylbewerber*innen, die es schaffen, die Zone zu verlassen, und Sanitäter*innen an der Grenze leisten medizinische Hilfe.

Es stellt sich die Frage: Woher wissen die humanitären Hilfsorganisationen, wohin sie gehen sollen? Normalerweise erhalten sie die Informationen von den Menschen, die im Wald festsitzen und einfach nach Hilfsorganisationen in Polen googeln. Oder sie senden mit ihrem Handy einen Hilferuf, und plötzlich erscheint eine Stecknadel auf der Landkarte bei Familien in Syrien, Afghanistan oder im Kongo, die verzweifelt versuchen, ihre Lieben zu retten, indem sie aus der Ferne helfen. Ein Freund von mir, der in den sozialen Medien aktiv ist, befand sich beispielsweise mitten in einer Konferenz, als er eine Facebook-Nachricht von einem Fremden in Kurdistan erhielt, der nach seiner Familie suchte, die einige Tage zuvor nach Belarus geflogen war. Mein Freund riet ihm, sich an die Ocalenie-Stiftung zu wenden, die ihm dann auch helfen konnte.

Um ein differenzierteres Bild davon zu bekommen, wie die aktuelle Hilfe an der Grenze aussieht, müssen die Stimmen derjenigen gehört werden, die helfen. Die unten zitierten Berichte wurden in den letzten zwei Monaten auf Facebook geteilt. Ich habe auch eine Datei von Paweł Stolarski verwendet, der Geschichten gesammelt, übersetzt und in der Facebook-Gruppe “Familien ohne Grenzen” geteilt hat.

Das Leben dort bei Tageslicht

Eliza Kowalczyk, 22. Oktober, 10:04 Uhr: Ich hatte noch nicht einmal gefrühstückt, als hinter meinem Fenster mit Blick auf die Kirche, auf dem Parkplatz, der Verkehr begann. Grenzbeamt*innen. Ich schnappe mir schnell meinen Rucksack, lade die Vorräte ein und renne los. Ich sehe drei Personen am Straßenrand sitzen, umgeben von Grenzschützern. Ich gehe auf sie zu (und bitte per SMS Freund*innen um Hilfe) und frage, ob ich ihnen Essen und Wasser geben kann. Einer der Wächter sagt mir, ich solle warten, aber die Frau springt vom Bordstein auf und rennt weinend auf mich zu, umarmt mich und fleht: “No Belarus”. Ich umarme sie und frage, ob sie etwas essen wollen, und dann passiert das Schlimmste. Einer der Männer öffnet eine Reisetasche, die vor ihm steht und in der sich ein Baby befindet. Ich fange an zu weinen. Ich knie mich neben sie und öffne einen Rucksack mit Essen.

Alles geschieht so schnell und emotional, dass ich die Reihenfolge der Ereignisse durcheinander bringen könnte.

Ich streichle das Baby, drehe meinen Kopf zu den Wachen und die vier Kinder, Männer und schwangeren Frauen kommen näher. Ich möchte heulen. Sie fragen nach Milch. Sie zeigen mir etwas gelbes Wasser, das sie von den Belarussen bekommen haben, und betteln immer wieder darum, nicht über die Grenze zurückgedrängt zu werden. Sie haben Euros, die sie umtauschen wollen, um im örtlichen Laden etwas zu kaufen. Ich laufe los, um die Milch aus dem Laden zu holen. Ich kaufe auf Kredit, da ich kein Geld habe. Ich kehre zurück. Mein Nachbar hat auch angefangen zu helfen, er trägt Wasser und Brötchen für die Kinder.

Die Flüchtlinge wollen internationalen Schutz, aber einer der Wächter sagt ihnen, dass sie kein Recht haben, darum zu bitten, und dass sie ihn nicht bekommen werden. Ich bitte sie, diese Menschen nicht zu täuschen. Ich schaue in die Augen der Wächter, vertraute Männer, sie wissen, dass ich sie erkenne. Und wenn schon? Wir werden uns bald auf der Straße in zivil begegnen. Vier Jungen sitzen auf dem Lastwagen, sie essen Schokolade und wiederholen immer wieder “No Belarus”.

Ich berühre sie freundlich. Die Frauen weinen, die Mutter holt das Baby aus der Tasche, der Bus ist da, um sie alle abzuholen. Ich nehme das Baby in meine Arme; es weint, also streichle ich es sanft und schaukle es, so wie ich es mit meinen Kindern gemacht habe, als sie noch klein waren. Mein Albtraum ist wahr geworden. Meine Freund*innen treffen ein, aber man kann nichts mehr tun. Der Wachmann sagt: “Sie hätten zu Hause bleiben können!”. (Übersetzung P. Stolarski)

Nachts dort leben

Nina Boichenk, 10. Oktober, 13:42 Uhr: Letzte Nacht habe ich Kinder im Wald zurückgelassen. Mit warmem Essen, Wasser und Schlafdecken bin ich durch den Wald gewatet. Ich kann nicht sagen, wie viele Grad es waren, aber ich habe meine Finger nicht gespürt. Schließlich erreichte ich die Familie: eine Mutter und ein Vater, die vier Kinder bewachten. Die Kinder lagen neben ihren Eltern, eingewickelt in nasse Decken. Ausgehungert und unterkühlt. Still und stumm. Ich begann, das jüngste Kind zu wickeln. Es war fast ein Jahr alt. Es ging schnell – ein halb bewusstloses Kind ist leicht zu wickeln. Ihm war heiß, und ich fragte mich, ob ich mir das nur einbilde, weil meine Hände kalt sind, oder ob das Kind hohes Fieber hat. Ich wickelte ihn in einen zusätzlichen Schlafsack ein. Mit jedem weiteren Kind habe ich dasselbe gemacht. Den Erwachsenen gab ich Schlafdecken.

Und dann ging es los.

Die erschöpfte Familie hat es bereits drei Mal versucht. Dreimal wurden sie von den polnischen Behörden nach Belarus zurückgeschickt, dreimal zwangen die belarussischen Behörden sie, wieder nach Polen zu gehen. Sie sind gelähmt vor Angst vor den Beamt*innen. Sie sagen, dass sie eine weitere Zurückdrängung, eine weitere erzwungene Überquerung des Stacheldrahtes nicht überleben werden.

Die Fröste kommen, in einem Monat wird die Partei “Recht und Gerechtigkeit” die Leichen einsammeln. (Übersetzung P. Stolarski)

Helfen im Schichtbetrieb

Ewa Ber, 7. November, 21:35 Uhr: Ich ging an die Grenze der Menschlichkeit, d.h. in das Dorf, hinter dem der Ausnahmezustand beginnt. Ich wohnte in einem großen Haus, in dem junge Leute ein Hilfsunternehmen gegründet haben. Jeden Tag hat jeder Bewohner eine Aufgabe, die über den Erfolg der Operation entscheidet. Dort gibt es ein Lager, in dem die Geschenke der Menschen (auch die von euch) sortiert werden. Stapel von Kleidern, Overalls, Schuhen, Matten, Powerbanks, Energieriegeln, Verbandsmaterial… Und dort hatte ich meine erste Schicht, in der ich dicke von dünnen Kleidern trennte, dunklere von den hellen und farbenfrohen, mit denen ein Mann im Wald leichter zu erkennen ist.

Das kann eine weitere Abschiebung nach Belarus bedeuten, und dort: Schläge, oft auch Folter. Als es jedoch an der Zeit war, ein Set für ein dreijähriges Kind zu packen, schaute ich etwa ein Dutzend Mal nach, ob ich nichts vergessen hatte, denn wenn ich es vergesse, würde es vielleicht eine weitere kalte Nacht nicht überleben. In den Rucksack kommen ein Satz Unterwäsche (vorzugsweise Thermounterwäsche, aber die geht schnell aus), zwei Paar Socken, eine Skihose, eine Jacke und das so genannte kleine Set, also Mütze, Schal und Handschuhe. Powerbank, Schaumstoffmatte, Schlafsack und Tarp, also eine Art Zelt, NRC-Folie. Fläschchen mit heißem Tee, Brotscheiben, einige Energieriegel. Suppengläser werden in die Gummistiefel gesteckt. Beim Packen schießt das Adrenalin in die Höhe, denn man darf nichts vergessen. […]

Am nächsten Tag hatte ich Küchendienst. Man muss einen Kessel “Suppe für den Wald” kochen, Sandwiches machen, Hektoliter süßen Tee aufbrühen. Die Bewohner und die Damen der örtlichen Frauenorganisationen kommen und helfen uns bei der Zubereitung des Abendessens, denn an sich selbst zu denken ist das Letzte, was in diesem Haus passiert. Ich hatte einmal die Aufgabe, zwei 25-Liter-Thermoskannen mit Suppe aus einer Bar in einer nahe gelegenen Stadt zu holen. Ich weiß nicht, ob das eine bewusste Hilfe der Bar war, oder ob jemand für die Suppe bezahlt hatte. Niemand stellt hier Fragen. Als es jedoch an der Zeit war, Milchpulver für einen Zweijährigen zuzubereiten, zerbrach etwas in mir. Nein, ich habe nicht geweint. Ich habe hier niemanden weinen sehen. Man konnte nur Verzweiflung in den Augen und zusammengebissene Kiefer sehen.

Mehrere Teams sind im Einsatz, um humanitäre Hilfe zu leisten. Jeden Tag, Tag und Nacht. Manchmal muss man jemanden aus einem Sumpf herausziehen, manchmal muss man einen Fluss überqueren, immer muss man sich einen Weg durch den Wald bahnen. Die Gegend ist nass, also geht man in Gummistiefeln. Oftmals dauert eine solche Aktion nachts mehrere Stunden, so dass die Beine zwar trocken bleiben, aber durch und durch gefroren sind. Einige Leute kehren zurück, andere gehen weiter. Packen, kochen, in den Wald gehen. Das Ausmaß des Ganzen ist schockierend. In Zentralpolen haben die Menschen keine Ahnung, was an der Grenze wirklich vor sich geht. Und das im Zeitalter des Internets! Zugegeben, die Regierung war sich des menschlichen Handicaps durchaus bewusst. Wir werden die Grenzzone schließen, es wird keine Journalist*innen geben, es wird kein Problem geben. Keiner wird mehr nach Informationen suchen wollen. (Übersetzung: M. Gutowska)

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