Was können wir von pandemischer Abstandskultur für den Umgang mit der Öko-Katastrophe lernen?

Die Welt steht in Flammen, real und virtuell. Was läge näher als Weltflucht? Eskapismus – dieses tendenziell unpolitische, reaktionäre und verantwortungslose Verhalten – ist in Zeiten des Umbruchs immer wieder zu beobachten gewesen. Nichts Neues im Westen, also? Der Autor Kilian Jörg schlägt vor, sich nicht mit Diagnosen des Zeitgeists zu begnügen, sondern die Frage nach den politischen Lektionen zu stellen.

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Die letzten Jahre haben einen Boom des politischen Aktivismus erlebt: Die Ungerechtigkeit der Welt wird wieder vermehrt in ihren rassistischen, sexistischen und ökologisch katastrophalen Problemzusammenhängen erfasst und mannigfaltig auf den Straßen, in den Wäldern und Zeitungen, auf den Messen und Social Media-Plattformen skandiert und bekämpft. Gleichzeitig macht sich ein großes Bedürfnis nach Rückzug und Desinvolvierung aus der rasenden, hypervernetzten Welt des Desasterkapitalismus bemerkbar, welches wohl seinen stärksten Ausdruck in der euphorischen Überaffirmation des sogenannten Social Distancing in der ersten pandemisch bedingten Lockdownphase 2020 erlebt hat: Landflucht, Rückzug, Nicht-Berührbar-Sein-Wollen und ein oftmals strenges Sich-Raushalten aus den als falsch erkannten Diskursen haben zum ersten Mal landläufig eine positive, gar progressive Konnotation erfahren.

Hierin besteht eine Grundspannung der aktivistischen Gegenwart: Die Welt ist eine vielfache, beinahe unüberschaubare Katastrophe und es gilt unbedingt etwas an ihr zu ändern. Gleichzeitig muss man seine Angriffsfläche mit Bedacht wählen und von ganz vielen Dingen wegschauen, um an einer Stelle überhaupt produktiv handeln zu können. Um etwas zu ändern, muss man von viel anderem wegsehen – denn das Zuviel lähmt zu leicht.

Sich-Raushalten?

Traditionellerweise wird Sich-Raushalten als reaktionärer Eskapismus und bürgerlicher Defaitismus verstanden. „Wie kannst Du im Angesicht der Lage nur untätig bleiben?“ Eine progressive Affirmation der Desinvolvierung fehlt in den meisten aktivistischen Kontexten, weswegen Burnout, Erschöpfung und Zersetzung so oft zum Problem werden. Es mag zur Zeit des Ausnahmezustandes während der Covid-19-Pandemie gar nicht richtig aufgefallen sein, bedarf meines Erachtens aber umso mehr einer gründlichen, theoretischen Nachbetrachtung: Zum ersten Mal war Sich-Raushalten und Zuhause-Bleiben die progressive Tugend der Stunde.

Wann wird eine kompromisslos und unabdingbar vorpreschende Haltung zum Problem? Wieviel Filterarbeit und Blasenbildung braucht ein effizienter Aktivismus? Und wann und wie kann Sich-Raushalten nicht als stillschweigendes Einlenken mit der furchtbaren Norm, sondern als notwendiges Fokussieren und Konzentrieren der Kräfte für den Kampf um Veränderung verstanden werden?

Grundannahme einer hier tentativ skizzierten Ethik einer „Neuen Vorsicht“ ist, dass es das Bedürfnis nach Desinvolvierung stets und in egal welchem politischen Lager gibt, es bislang aber noch kaum gelungen ist, dieses Bedürfnis auf einen progressiv-emanzipatorischen Begriff zu bringen.

Neue Vorsicht

Neue Vorsicht. – Lasst uns nicht mehr so viel an Strafen, Tadeln und Bessern denken! Eine*n Einzelne*n werden wir selten verändern; und wenn es uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch Etwas mitgelungen: wir sind durch sie* verändert worden! Sehen wir vielmehr zu, dass unser eigener Einfluss auf alles Kommende ihren* Einfluss aufwiegt und überwiegt! Ringen wir nicht im directen Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserm Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir die Andere*n durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um ihretwillen selber dunkler werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei Seite! Sehen wir weg!“

In diesem Aphorismus Friedrich Nietzsches aus der Fröhlichen Wissenschaft (§ 321 – gegendert von mir)drückt sich eine Intuition einer progressiven Desinvolvierung aus, der ich in diesem Essay nachgehen möchte.

Einer Haltung der Vorsicht und des Wegsehens werden in klassisch linkem Politikverständnis leicht reaktionäre und eskapistische Tendenzen vorgehalten. Diese Art von negativ verstandener Vorsicht wird mit privilegierter Zurückgezogenheit, Borniertheit und der Unfähigkeit assoziiert, aus sich selbst herauszukommen. Dem entgegen stellt man den Wagemut des Aktivisten, der aus der eigenen Komfortblase und der eigenen sicheren Umgebung ohne Rücksicht auf Verluste heraus prescht, um die Ungerechtigkeit der Welt zu bekämpfen. Der Aktivist in diesem Beispiel ist nicht mit Genderstern angeführt, um auf den meines Erachtens maskulinistischen Heldenpathos in dieser Konfrontationslogik hinzuweisen – wobei ich selbstverständlich damit nicht ausschließen will, dass auch weiblich gelesene Personen diese Art von Maskulinismus performen können (oder teilweise sogar sollen).

Doch auch jenseits einer solchen feministischen Kritik an einer konfrontativen Aktivismuslogik ist noch etwas dran an der Gefahr, aufgrund einer Haltung der Vorsicht und des Vorzugs der Desinvolvierung in eine Art bürgerlichen Eskapismus abzurutschen, der sich den Problemen der Welt nicht (mehr) stellen möchte und also in eine privilegierte Komfortblase flüchtet. Die Wahrnehmung wird dann selektiv und baut auf einem Ausblenden der Strukturen auf, die den eigenen Komfort auf der Ausbeutung von anderen basieren lässt.

Alte und Neue Vorsicht

Zum Zweck der analytischen Abgrenzung möchte ich diese Art Vorsicht tentativ als „Alte Vorsicht“ bezeichnen und von der „Neuen Vorsicht“ abgrenzen, wobei die Adjektive „neu“ und „alt“ nicht so sehr als eine zeitliche Abfolgenordnung verstanden werden sollen, sondern eher als eine Unterscheidung der Einstellung gegenüber Neuem bzw. Altem. Ich glaube nicht, dass es die hier so bezeichnete „Alte Vorsicht“ zeitlich eher gab als die Neue. Vielmehr denke ich, dass beide Varianten in fast allen Haltungen der Vorsicht angelegt und stets latent vorhanden sind – es handelt sich immer um einen Balanceakt zwischen ihnen, was ein Nachdenken über sie so leicht ambivalent und explosiv macht.

Keine der beiden Vorsichten existiert jemals in Reinform – die Distinktion ist also bloß eine analytische. Die „Alte Vorsicht“ wird demnach als solche bezeichnet, weil sie das Alte und Bestehende akzeptiert und eskapistisch bejaht, während eine dem entgegengestellte „Neue Vorsicht“ versucht, den Rückzug und die Desinvolvierung dahingehend zu nützen, um einen feineren Geschmack für die latenten Potenziale zur Erneuerung zu entwickeln.

Diese Potenziale finden sich nämlich, wie diverse Theoretiker*innen des Minoritären in der Folge von Gilles Deleuze und Felix Guattari argumentieren, zumeist außerhalb des Bereich des in der majoritären Ordnung Sichtbaren, weswegen eine Haltung der Vorsicht gegenüber dem Zuviel an sichtbaren (Ungerechtigkeiten) notwendig wird. Man kann den ganzen Tag und die ganze Nacht damit verbringen, sich über jeden problematischen Twitter-Post aufzuregen, der einer* angezeigt wird – doch ändern wird dies nichts an der problematischen Ordnung der Welt.

Vorsicht in einer anderen Natur

Die „Alte Vorsicht“ kann im klassischen Philosophiekanon mit diversen Positionen assoziiert werden, unter anderem jener der antiken Traditionen der Stoa oder der Kyniker, in modernen Texten besonders mit jenen von Kierkegaard und Schopenhauer. Schnell zusammengefasst, um nicht zu sehr in diese Denkgeschichte weißer Männer abzudriften, lässt sich die Tendenz der „Alten Vorsicht“ mit einer Ausrichtung des Lebens im Einklang mit den vorgefundenen Umständen (oftmals: „der Natur“) identifizieren. Ziel ist die Entwicklung einer Art Gelassenheit gegenüber diesen vorgefundenen Umständen, die man nicht ändern kann. Man zuckt die Achseln gegenüber der Schlechtigkeit der Welt und zieht sich in die Komfortblase einer stoischen Ruhe zurück. Das Problem an der Haltung der „Alten Vorsicht“ wäre aus aktivistischer Perspektive demnach, dass man sich durch eine als statisch und unveränderlich definierte „Natur“ der Dinge die Umstände der eigenen Lebensweise diktieren lässt und man also reaktionär in dem Maße wird, wie man sich an die vorgegebenen und sichtbaren Seins-Umstände anpasst.

Wohingegen dieser Traditionslinie einer Alten Vorsicht im Kanon viel Raum zugestanden wird, ist einer anderen Vorsicht, die innerhalb dieser „Natur“ Potenziale zur Veränderung und Erneuerung sucht, wenig Theoriebildung gewidmet. Deswegen konnte sie Nietzsche wohl auch als „Neue Vorsicht“ bezeichnen.

Diese „Neue Vorsicht“ zeichnet sich meines Erachtens durch einen radikal veränderten – und nicht mehr modernen – Begriff von „Natur“ aus. Zu lange wurde im abendländischen Kanon „Natur“ als etwas dem Menschen Äußeres verstanden – etwas, dem man entweder seinen* Willen aufzwingen muss oder dem man sich defätistisch fügen muss. Doch spätestens in einem Zeitalter der Katastrophen, wie Isabelle Stengers das vom „Einbrechen des Ökologischen“ gekennzeichnete Anthropozän nennt, ist dieser moderne Begriff der „Natur“ an seine semantischen Grenzen gestoßen. Die scharfe Trennung zwischen menschlicher Kultur und äußerer Natur ist in der Zeit des Ozonloch oder des Klimawandel hinfällig geworden: Unsere Kulturen haben massiven Einfluss auf das, was wir „Natur“ nannten und die jeweilig spezifische “Natur“ hat einen wesentlichen Einfluss auf die Bildung von „Kultur“. Wir Menschen können uns nicht mehr als der Natur Äußeres begreifen. „Wir verteidigen nicht die Natur, wir sind die Natur, die sich verteidigt“ –in diesem aktivistischen Slogan, der ursprünglich aus den französischen „ZADs“ stammt, drückt sich dieses neue politische Verhältnis am bisher klarsten aus.

In dieser neuen politischen Gemengelage nimmt auch die Vorsicht einen neuen und für die Neuerung oder Veränderung wesentlichen Platz ein. Entgegen einer „Alten Vorsicht“ kultiviert eine „Neue Vorsicht“ das Wegsehen und In-die-Blase-Gehen dann nicht als Selbstzweck einer ethischen Beruhigung und Befriedigung, sondern um die Veränderungs- wie Gefahrenpotentiale der sogenannten Natur, von der man sich nicht mehr abgrenzen kann, besser schmecken zu können. Diese Art von „Neuer Vorsicht“ blendet bewusst und gekonnt die allerorts sichtbaren Seins-Zustände aus, um sich für das Werden der Welt mitgestaltend zu sensibilisieren.

Das Virus zersetzt die Natur-Kultur-Dichotomie

Meine These ist, dass im Zuge der Pandemie-bedingten Lockdowns der letzten Jahre ein Vorzeichenwechsel entstanden ist, der die Entwicklung einer solchen Ethik der Neuen Vorsicht gleichzeitig notwendig und möglich macht. Das Virus verdeutlicht am vielleicht klarsten, dass die Natur auch in unserem Inneren ist. Die Kultur-Natur-Dichotomie hält dem mikrobiellen Bereich keine Sekunde stand und in Zeiten einer Pandemie merken wir plötzlich alle, dass alle unsere kulturellen Institutionen stets unter dem Einfluss der sogenannten „Natur“ stehen: gänzlich neue soziale Gepflogenheiten und Selbstverständlichkeiten mussten sich aufgrund der Pandemie entwickeln.

Der Begriff des „Social Distancing“ konnte sich während der Pandemie trotz seiner seltsamen antisozialen Konnotationen deshalb so breit durchsetzen, weil er ein bislang auf linker Seite eher moralisch verfemtes Bedürfnis nach Abstandskultur auf einen majoritären Begriff gebracht hat, der plötzlich progressiv und emanzipatorisch konnotiert war. Zum ersten Mal konnte man sich distanzieren und raushalten, ohne vom nagenden schlechten Gewissen heimgesucht zu werden. Plötzlich stand man auf der moralisch guten Seite, wenn man sich raushielt.

Weil die Natur im landläufigen Verständnis intuitiv als etwas Äußeres verstanden wurde, puschte man sich, wie der strohmännische Aktivist am Anfang dieses Kapitels, zu oft in die permanente Aktion gegen das Schlechte in der Welt und konnte dem Bedürfnis nach Rückzug kaum Positives abgewinnen. Auch noch während der Pandemie verzweifelten linke Denker*innen älterer Schule, wie Giorgio Agamben, über diesen Verlust der für sie als politisch unumgänglich betrachteten Nähe-Involvierung, während jüngere, Queer-Denker*innen, wie Eva von Redecker, darin die Utopie eines „solidarischen Distanzgebens“ sahen.

Wenn die Natur hingegen stets in mannigfaltiger Weise auch in uns vorhanden ist, bedarf es einer vorsichtigen Filterarbeit, den richtigen Impulsen und Potentialen zu folgen. Vieles nicht sehen, um das produktive Chaos der Welt zu spüren und mit ihm plural, vielfältig, kreativ und gleichzeitig vorsichtig spielen zu können.

Freilich liegt auch in dieser neuen Haltung die Gefahr einer moralisierenden Normierung, wie wir in der Corona-Krise und ihrem sozialen Ergebnis einer extremen Polarisierung in zwei verfeindete (und gleichermaßen auf komplexitätsfeindliche Slogans verkürzte) Lager bereits bezeugen mussten. Doch gerade in der Kultivierung (anstatt eben der Moralisierung) einer Neuen Vorsicht und Abstandskultur auch noch lange nach der Covid-19-Pandemie liegt ein wesentliches politisches Potenzial, dem rasenden Stillstand unserer spätkapitalistischen Welt zu entkommen und im Zeitalter der Katastrophen der Komplexität der Lage gerecht zu werden.

Das Streben nach Wegsehen und (sicherer) Blase ist kein bloß reaktionäres und rechtes. Besonders in Zeiten von extremen Umweltkatastrophen und globaler Vernetzung, in der uns die Schreckensnachrichten der Gegenwart in eine Art schockierte Dauerlähmung bringen können, entpuppt sich eine Neue Vorsicht als wichtige Übung zur Bewahrung eines kühlen Kopfes und guten Geschmacks, um nicht bloß den majoritären Affektstimuli und ihren vorgegebenen Handlungsschemata hilflos ausgeliefert zu sein. Neue Vorsicht wird dann zu einer zentralen Voraussetzung für das Beibehalten von nachhaltiger Solidarität und Handlungsfähigkeit.

Anm.d.Red.: Mehr zu dieser hier skizzierten Neuen Vorsicht findet sich im jüngst erschienen Buch des Autors „Neue Vorsicht – Philosophie des Abstands im Zeitalter der Katastrophen.“

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