Statt Eskapismus zu frönen, geht Food Sovereignty, also Ernährungssouveränität, einen entscheidenden Schritt weiter. Die Idee, eigene Lebensmittel anzubauen oder sogar eigenes Land zu bewirtschaften, ist hier nicht nur ein Tagtraum, sondern ein pragmatischer Ansatz, der nicht-westlichen Staaten helfen soll, unabhängiger zu werden, ohne dabei die Umwelt zu zerstören. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Der Journalist Mihajlo Vujasin geht in Serbien den Anfängen einer nachhaltigeren Landwirtschaft nach.
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Es ist ruhig, Frühherbst, und die Ernte ist fast abgeschlossen. Die Landarbeiter*innen pflücken noch Quitten für Schnaps und Marmelade. Auf den Feldern in der Nähe von Novi Sad sehen die gelben Quittenfrüchte wie Sterne aus. Sie liegen verteilt in den Hügeln neben der unbefestigten Straße, die an dem Grundstück vorbeiführt, das mein Freund für den Preis eines Laptops und eines Gebrauchtwagens bekommen hat.
Das Grundstück liegt auf der Sonnenseite des Hügels, mit Blick nach Südwesten – ein Weinberg, der jetzt mit Büschen und Sträuchern zugewachsen ist. Mein Freund nimmt an diesem Grundstück sehr wenige Eingriffe vor und pflanzt Eichen. Diese Bäume wachsen langsamer als die Geschichte, sagt er. Angesichts der Klimafrage – es war ein trockener Sommer, wieder einmal der heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen – stellt sich gleichzeitig die Frage nach der Bewirtschaftung. Soll er die Sträucher schneiden, sie verbrennen und den Ort kultivieren?
Ein Schritt tiefer in den Wald
Kultivieren bedeutet, etwas an sich selbst anzupassen. Wir könnten diesen Ansatz irgendwie übernehmen, doch kann dies so ein Ort der Souveränität werden? Es sieht eher nach einem Schritt tiefer in den Wald aus, aber man nennt es auch Agroforstwirtschaft.
Die Agroforstwirtschaft gilt als das nachhaltigste Konzept der Nahrungsmittelproduktion. Man macht nicht viel und kämpft nicht gegen die Natur an. Effizienz steht nicht im Vordergrund. Stattdessen die Idee: dies könnte der Ort für ein nachhaltigeres und natürlicheres Landwirtschaftskonzept sein. Eines, das die Nahrungsmittelproduktion mit der Artenvielfalt und den Vorteilen für die Umwelt verbindet. Bäume sind perfekt für die Kohlenstoffbindung und so weiter. Ganz einfach, keine Ansprüche. Aber wie können wir das mit unserer Vorstellung von Freiheit verbinden?
Das Konzept der Food Sovereignity besteht aus vielen Elementen. Manche werden sagen: Vorwärts in die Vergangenheit. Vorwärts zum autarken integralen Ansatz in der Landbewirtschaftung und -verwaltung. Dabei geht es in erster Linie um die Frage der Unabhängigkeit – gemeinsam an den Fronten der Kämpfe im Globalen Süden! Oder ist es nur ein theoretisches Modell? Wir versuchen es einfach mal. Schließlich steht im Zeitalter des Klimawandels, der Radikalisierung der Rohstoffmärkte und der Zerstörung der natürlichen Ressourcen alles auf dem Spiel.
Ernährungssouveränität im aktuellen Kontext in Serbien
Wir können Food Sovereignity in Serbien nur isoliert betrachten. Nach Angaben der Landworkers’ Alliance gibt es sechs Prinzipien, die das Konzept der Food Sovereignity manifestieren:
1) Fokus auf Lebensmittel für Menschen: Der Schwerpunkt liegt auf der Ernährung der Menschen und nicht auf der Erzielung von Gewinnen auf dem globalen Rohstoffmarkt. Jeder Mensch hat ein Recht auf Nahrung.
2) Wertschätzung der Lebensmittelproduzent*innen: Gewährleistung eines existenzsichernden Lohns, sicherer Verträge und einer fairen Vertretung der Lebensmittelproduzent*innen und -verarbeiter*innen, einschließlich Saison- und Wanderarbeiter*innen.
3) Lokalisierung der Lebensmittelsysteme: Vorrang für eine wirklich lokale Produktion und kurze Lieferketten. Der internationale Handel sollte sicherstellen, dass die Menschenrechte respektiert werden, insbesondere das Recht auf lokale, gesunde und kulturell angemessene Lebensmittel.
4) Lokale Kontrolle in den Mittelpunkt stellen: Die Kontrolle über die Ressourcen für die Produktion, den Vertrieb und den Zugang zu Lebensmitteln in die Hände der Erzeuger*innen, Gemeinden und Arbeitnehmer*innen des gesamten Lebensmittelsystems legen.
5) Aufbau von Wissen und Fähigkeiten: Wertschätzung der Kulturen der Lebensmittelproduzent*innen und ihrer Gemeinschaften und Befähigung zur Entwicklung und Weitergabe von Wissen und Fähigkeiten an künftige Generationen.
6) Mit der Natur arbeiten: die Lebensmittelproduktion auf die Agrarökologie gründen und Lebensmittel innerhalb der endlichen Grenzen der Ressourcen unseres Planeten produzieren, um unsere Umwelt zu schützen und zu respektieren, ohne zukünftigen Generationen die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst zu versorgen.
Die blinden Flecken der Umweltbewegungen
Freilich, die Idee der Food Sovereignity in Serbien könnte fragwürdig erscheinen. Denn es gibt keine Bewegung in diesem Sinne. Einzelne Initiativen rufen zur agrarökologischen Lebensmittelproduktion auf: den Boden als lebendigen Organismus, das Saatgut für die Zukunft und die Artenvielfalt zu erhalten. Doch es gibt nur sehr wenige dieser Initiativen, sie existieren an den Rändern der Gesellschaft. Die Agrarökologie wird hier und anderswo noch nicht in ihrem Potenzial erkannt.
Dabei handelt es sich um ein wichtiges Umweltthema, denn die Landwirtschaft ist die intensivste Beziehung zwischen Mensch und Natur, und es besteht die Chance, dass dies so bleibt. Bei den meisten Umweltbewegungen ist dieses Thema jedoch ein blinder Fleck. Die Bauernschaft und die Landbevölkerung sind auf sich allein gestellt, um Lösungen zu finden. Sie sind nicht in der Lage gemeinsame Forderungen zu artikulieren, da sie sich in diesem Zusammenhang nicht einig sind. Sie vernachlässigen das ökologische Potenzial. Der Bauer denkt immer noch nur an die Ernte, während andere vielleicht an die Schönheit denken. Die Aufgeklärteren denken an die Qualität der Produkte, und nur selten wird bei der Forderung nach Genossenschaften die Frage der Agrarökologie und der Food Sovereignity im Zusammenhang mit dem sozialen und wirtschaftlichen Potenzial berücksichtigt. Die Agrarökologie scheint an letzter Stelle zu stehen, obwohl sie die Avantgarde sein könnte.
Doch die Agrarpolitik ist in einem bedenkenswerten Zustand. Sie hat nicht ansatzweise erkannt, wie wichtig es ist, die agrarökologische Praxis zu verteidigen. Es war eben stets die Bauernschaft, die die Trägerin der Ernährungssicherheit und einer Art von Souveränität war – und das meist in Krisenzeiten. Und jetzt? Wir leben in der Zeit der Monopole und der wirtschaftlichen Berechnungen und Spekulationen.
Serbien als Agrarland
Man kann von Serbien durchaus als einem Agrarland sprechen. Wir können auf einige Fakten hinweisen: dass das Klima immer noch gut ist, dass es Wasser gibt, vier Jahreszeiten, und dass das Land relativ günstig ist. Man hat ideale Voraussetzungen, um für den eigenen Bedarf anzubauen.
Die Landwirtschaft der Konzerne wirft Gewinne ab und verschlechtert die Böden durch Raubbau ohne ausreichende Rücksicht auf den Umweltschutz. Gleichzeitig bewegt sie sich auf eine zukünftige Politik zu, die das Ziel hat, keine Kohlenstoffemissionen zu verursachen. Kleinbauern und Kleinbäuerinnen können mit der agrarökologischen Praxis derzeit noch mithalten. Sie sind auf dem Markt nicht wettbewerbsfähig, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass Hilfe und Unterstützung von einer der beiden Seiten kommen kann. Die Deregulierung des Marktes und fehlende Subventionen machen die Sache auch nicht besser. Die Souveränität ist dieses Mal an Sichel und Hacke gebunden. Die Hämmer schlagen im Moment auf ein anderes Fass.
Selbst wenn die Erzeuger*innen erkennen, dass sie sich in Genossenschaften zusammenschließen sollten, um wettbewerbsfähig zu werden und auf dem Markt zu überleben, spielen die Konzerne und Importeure ihr übliches Spekulationsspiel, und viele können deren Regeln nicht akzeptieren. Es gab Versuche mit Community Supported Agriculture-Gruppen und Marktplattformen für Kleinerzeuger*innen unter dem Motto “Let’s buy domestic”. Viele dieser Initiativen sind jedoch kurzlebig. Aber es ist ein langsamer Anfang.
Wenn wir weiter ins Detail gehen, müssen wir anerkennen, dass die Landbevölkerung anspruchsvoll und spezialisiert ist, so dass sie entweder Himbeeren oder Honig, Schnaps oder Marmelade herstellen. Aber auch in den Dörfern ist es schwer, Käse, Milch, Eier oder Grundnahrungsmittel zu finden, außer in den Supermärkten. Und so setzt sich der Kreislauf fort.
Verwirrend für viele, aber einfacher für die meisten
Betrachten wir drei Fälle, um meinen Standpunkt zu veranschaulichen. Der erste Fall ereignete sich Anfang dieses Jahres. Mein Freund und ich gingen in einen örtlichen Lebensmittelladen auf dem Stadtboulevard. Ein Fünf-Kilogramm-Sack Möhren kostet dort 50 Cent. Wer kann bei seiner Produktion unabhängig sein, und bei dieser Kalkulation spekulieren? Als nächstes kostete ein Sack mit zehn Kilogramm Zwiebeln und zehn Kilogramm Kartoffeln jeweils weniger als zwei Euro. Insgesamt also vier Euro, mit den Möhren. So viel würde man in der Hauptstadt für einen Cappuccino bezahlen. Verwirrend für viele, aber einfacher für die meisten.
Im zweiten Fall liegt die Schönheit in der Einfachheit. Es gibt eine Vielzahl von hausgemachten Suppenrezepten mit Zwiebeln, Kartoffeln und Karotten; einfache Gerichte, bescheiden, aber lecker. Aber wie bescheiden ist das wirklich? Den Wert erkennen wir erst, wenn man alles anbauen, umgraben und gießen muss. Wenn man die Samen aufbewahren, auf Regen hoffen und nach dem Frost und vor der Dürre in der Nähe bleiben muss. Es ist eine Vollzeitbeschäftigung – für die Suppe der armen Leute. Ist das ein Hobby oder ein Bedürfnis? Es ist ein Schritt in die harte Arbeit und könnte Souveränität hinauslaufen. Einfach durchhalten.
Fall drei: die Konzentration auf vertikale Landschaften. Ein Freund erinnerte mich kürzlich daran, dass es nicht um Rendite und Überfluss geht, sondern um Spannung und Unabhängigkeit. Der Gedanke, den Gebrauchtwagen und den Laptop gegen einen vernachlässigten Weinberg und eine Holzhütte neben dem Feldweg einzutauschen. Es ist ein Ort zum Werden. Nicht um zu fliehen, sondern um einzutauchen. Aber warum? Warum, wenn es nicht billig ist, warum, wenn es so schwer ist? Ich habe keine Antwort, nur einen Eindruck. Der Wagen auf dem Feld und das Grundstück mit dem Garten werden in der Vertikalen der Bemühungen schweben, kurz bevor sie sich zersetzen. Und die Eichen werden am Ende alles überwuchern.
Nicht buchstäblich, aber zufällig steht der Black-Box-Waggon auf einem nahe gelegenen Hügel, mit Blick auf Sonnenuntergänge und alte Grenzen und neue Eisenbahnlinien, neben der Off-Road-Bike- und Skate-Strecke, wo einst die Europameisterschaft stattfand. Jetzt ist das alles eine Schafsweide und ein Grillplatz für den Tag der Arbeit. In meiner kleinen Stadt gibt es eine Friedenskapelle. Die Donau fließt, und, um ehrlich zu sein, sie vergisst. Sie schmilzt die Landschaften ein.