Wo endet Europa? Rechter Antikolonialismus und universalisierender Postkolonialismus

Mit einer scharfen Analyse der Gender-Debatten in Ungarn versucht die Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts, einen kritischen Raum für Ostmitteleuropa zu schaffen – zwischen rechtem Antikolonialismus und universalisierendem Postkolonialismus. Eine Bestandsaufnahme.

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Die Regierung Orbán und ihre Ideologen und Organisationen bedienen sich routinemäßig antikolonialer Argumente, wenn es um ihren sogenannten Freiheitskampf gegen „Brüssel“, die liberale Elite und die Oppositionsparteien geht, die angeblich nationale Interessen „verraten“, wie Kasia Narkowicz und Zoltán Ginelli in einem kürzlich erschienenen Text argumentieren.

Diesem Narrativ zur Folge, werden die „ungarische Kultur und Werte“ sowie „unser“ Demokratieverständnis nicht respektiert. Einer der Ideologen des Regimes zitiert sogar dekoloniale Gelehrte aus Ungarn und anderen Ländern, darunter Frantz Fanon, um seine Argumente darüber zu untermauern, wie Ideen, die der „ungarischen Kultur“ fremd sind, durch Machtmechanismen von supranationalen Einrichtungen durchgesetzt werden.

Wie heuchlerisch diese Freiheitskämpfer-Rhetorik ist, lässt sich am besten an den weithin dokumentierten Verstrickungen der ungarischen herrschenden politischen Klasse mit deutschen Automobilkonzernen und transnationalen Unternehmen im Allgemeinen verdeutlichen – mit weitreichenderen Folgen für die Souveränität Ungarns als jede Erklärung des Europäischen Parlaments oder der Kommission zur Verletzung der Menschenrechte es sein kann.

Allerdings kann man ihre Behauptungen über die Machtdynamik, die für die Beziehungen innerhalb der EU charakteristisch ist, nicht so einfach beiseite schieben. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass diese Behauptungen ernsthaft betrachtet werden müssen, um besser zu verstehen, warum sie bei Teilen ihrer Wählerschaft auf Resonanz stoßen könnten, und außerdem, warum eine Universalisierung des Postkolonialismus nicht der richtige Weg ist, um diese Probleme anzugehen.

Der Anti-Gender-Diskurs als rechter Widerstand gegen den West-Eurozentrismus

Gender-Debatten sind ein gutes Beispiel für die vermeintlich antikoloniale Rhetorik der Rechten. Die Anti-Gender-Politik ist seit Anfang der 2010er Jahre ein globales Phänomen. Reproduktive Rechte, Gewalt gegen Frauen, Sexualerziehung, LGBT-Themen, Gender Mainstreaming und Gender Studies werden von sozialen Bewegungen und rechten (populistischen) Parteien ins Visier genommen. Was sie verbindet, ist, dass sie nun als Vertreter der „Gender-Ideologie“ und einer globalen Verschwörung zur Zerstörung der „menschlichen Zivilisation“ angegriffen werden.

Obwohl weder der Aufstieg der Anti-Gender-Bewegung noch der illiberalen Kräfte per se ein ostmitteleuropäisches Phänomen ist, darf die Relevanz der geopolitischen Einbettung der Gleichstellungspolitik, der Gender Studies und der feministischen sowie der LGBT-Politik in dieser Region nicht unterschätzt werden. Um dies beurteilen zu können, müssen wir über die Analyse des Diskurses der rechten Akteure hinausgehen. Die bestehenden materiellen und symbolischen Ost-West-Ungleichheiten sind die Anker, die die illiberalen rechten Kräfte für ihre politischen Ziele nutzen, und diese erklären teilweise die besonderen ostmitteleuropäischen Treiber der Anti-Gender-Mobilisierung.

Zunächst einmal ist Ungarn ein Nachzügler. Während es seit 2009 vereinzelte Anti-Gender-Vorfälle gab, begannen Anti-Gender-Kampagnen erst 2017 im Zusammenhang mit der Istanbul-Konvention und der De-Akkreditierung von Gender Studies MA-Studiengängen im Oktober 2018. Seit dem Frühjahr 2020 setzten sie sich im Zusammenhang mit LGBT-Themen fort und gipfelten im sogenannten „Kinderschutzgesetz“ im Juni 2021, das Pädophilie und die Verbreitung von Informationen über Homosexualität und Transgender unter Minderjährigen diskursiv miteinander verbindet.

Das späte Aufkommen lässt sich dadurch erklären, dass die seit 2010 amtierende Fidesz-KDNP-Regierung keine Gesetze erlassen hat, die einen Anti-Gender-Protest auslösen. Im Gegenteil, der Diskurs verstärkte sich, als er für die polarisierenden Ziele der Regierung selbst von Nutzen war. Der Hauptakteur in Ungarn ist also die Regierung selbst und ihre Handlanger: gefakte Denkfabriken, Propagandamedien und NGOs, die ihre Ideologie teilen.

Ihre „zentrale diskursive Strategie“ gegen die „Gender-Ideologie“ (wie in den anderen Visegrád-Ländern) dreht sich um die Behauptung, dass das, womit „wir“ es zu tun haben, eine „ideologische Kolonisierung“ ist. Angesichts der wirtschaftlichen und symbolischen Asymmetrien innerhalb der EU (und der EU-Gender-Politik), innerhalb der Sozialwissenschaften (und insbesondere der Gender Studies) und innerhalb des progressiven politischen Aktivismus (einschließlich der feministischen und LGBT-Politik, die von ausländischen Förderinstitutionen abhängig ist), ist diese Behauptung nicht weit hergeholt und kann und sollte aus einer kritischen Perspektive analysiert und angegangen werden.

Im Juni gab es in Deutschland Proteste gegen das „Kinderschutzgesetz“ der ungarischen Regierungskoalition, die sich zu einem pseudopolitischen Kampf entwickelten, der in der Forderung gipfelte, das Münchner Stadion am Tag des Fußballspiels Deutschland-Ungarn in Regenbogenfarben zu beleuchten – eine Form des Homoliberalismus. Wie kritische Wissenschaftler wie Koen Slootmaeckers und Robert Kulpa ausführlich dargelegt haben, wurde das Eintreten für die Rechte von Schwulen und Lesben zu einem Kennzeichen der europäischen Identität. Darüber hinaus diente sie als Mechanismus des Andersseins, mit dem westeuropäische Akteurinnen und Akteure aus Politik und Aktivismus die internen Grenzen innerhalb der EU neu ziehen konnten, indem sie das Narrativ verstärkten, dass die osteuropäischen Mitgliedstaaten „nicht europäisch genug“ und „nur Mitgliedsstaaten der zweiten Reihe“ seien.

Offensichtlich sind nicht nur Diskurse über das Anderssein, sondern auch materielle Realitäten von Bedeutung. Daher müssen wir in der Lage sein, Orte zu benennen, an denen beispielsweise die Rechte von Schwulen/Lesben besser oder schlechter gewährleistet sind. Wir müssen uns jedoch überlegen, wie wir Indikatoren für die Gewährleistung von Rechten festlegen und zwischen realen Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Betroffenen und symbolischen Gesten unterscheiden, die tatsächlich nur dazu dienen, moralisch überlegene von unterlegenen Akteuren zu differenzieren.

Diese Verbindung von LGBT-Rechten mit der „europäischen Identität“, die als Abgrenzung zu den „nicht so aufgeklärten Menschen aus dem Osten, die zivilisatorisch noch Nachholbedarf haben“, diente, löste Widerstand aus – sie wurde von den rechten Anti-Gender-Akteurinnen und -Akteure in einer polarisierenden Sprache politisch artikuliert.

Martijn Mos stellt anhand einer Analyse der Reden des ungarischen Premierministers Orbán fest, dass die Grundwerte der EU „mehrdeutig und nicht einklagbar“ sind, weshalb Orbán sie nach Belieben auslegen kann. Anstatt die Werte der EU zu verletzen, könnte er sich zum Beispiel als derjenige präsentieren, der sie wirklich vertritt. Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Orbán macht sich nicht nur diese Unterdefinition der Werte zunutze, sondern auch den Raum, den die radikale Version des Poststrukturalismus geschaffen hat: dass es keine objektiven Tatsachen mehr gibt und keine wahren oder falschen Lesarten, sondern nur noch Interpretationen aus verschiedenen Subjektpositionen.

Die Grundwerte der EU sind jedoch nicht nur unzureichend definiert und mehrdeutig und daher von autoritären Führern in einer „strategischen Form der interpretativen Politik“, wie Mos es formuliert, leicht zu ihrem Vorteil formbar. Darüber hinaus ist eine Doppelmoral zu beobachten: Diese Werte werden strategisch hochgehalten oder strategisch vernachlässigt, je nachdem, was der Stärkung der imperialen Ambitionen der EU in den Peripherien besser dient. Man denke beispielsweise an die Debatten in Deutschland über die Beziehungen zu Russland und die Gaspipeline Nord Stream 2. Die mangelnde Durchsetzbarkeit der fraglichen Werte resultiert also nicht in erster Linie aus einem Mangel an klaren Definitionen und institutionellen Mechanismen, sondern aus einem Mangel an politischem Willen – Ein Mangel, der sowohl mit politischen als auch mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden ist.

Dorothee Bohle und Béla Greskovits formulieren es so: „Obwohl sich die EU als normative Macht geriert hat, geht sie in der Praxis anders vor. Und genau das, die Selbststilisierung der EU als normative Macht, die angeblich das tut, was sie behauptet zu tun, hat Auswirkungen auf die politischen Akteure in Osteuropa; die Selbststilisierung der EU als normative Macht trägt auch zur Verstärkung des Ost-West-Gegensatzes bei.“

Um es zusammenzufassen: Wenn wir Fragen der Gleichberechtigung von Frauen und LGBT und den Widerstand der Rechten in zivilisatorischen Begriffen von Fortschritt/Rückschlag formulieren, übersehen wir die sehr wichtigen Machtverhältnisse, in die sie eingebettet sind. Wir brauchen Instrumente, um sie wahrnehmen und beschreiben zu können, denn sie nähren Anti-Gender- und EU-feindliche Stimmungen an den Rändern der EU, aus denen die Rechte Kapital schlagen kann. Auch wenn diese Asymmetrien nicht nur für Geschlechterfragen charakteristisch sind, so sind sie doch auch für Geschlechterfragen charakteristisch. Daher sind sie geeignete Träger für den Freiheitskampf-Diskurs der ungarischen Regierung. Was kann der Postkolonialismus ausrichten, um dieser Situation zu begegnen?

Universalisierung des Postkolonialismus?

Ein großer Teil der aktuellen postkolonialen und dekolonialen Forschung befasst sich nur mit Fragen des Diskurses und der Repräsentation („Othering“), was, wie ich zu zeigen versucht habe, die Problematik nicht vollständig erfasst. Außerdem werden diese Theorien im Kontext Ostmitteleuropas oft dekontextualisiert und Copy-Paste-mäßig angewendet. Die unkritische Anwendung von Analyseinstrumenten, die sich gut mit den Erfahrungen der USA mit Sklaverei und Rassismus befassen, reicht beispielsweise nicht aus, um einige europäische Phänomene zu analysieren, z. B. die gegenwärtigen Formen des Anti-Roma-Rassismus in den MOE-Ländern oder antislawische (und anti-osteuropäische) Stimmungen und wirtschaftliche Ausbeutung in Westeuropa. Schauen Sie sich nur die Landwirtschaft, die Altenpflege oder die Fleischindustrie an, um nur die krassesten Beispiele aus der COVID-19-Zeit zu nennen.

Auch wenn es um eine postkoloniale Kritik an Europa geht, ist eine Kritik an der kolonialen Vergangenheit einiger westeuropäischer Länder und an der Überlegenheit des Westens im Sinne des universalistischen Denkens der Aufklärung gemeint – in der die Länder Ostmitteleuropas eine unbedeutende oder keine Rolle gespielt haben. Der kritische Begriff des Eurozentrismus schließt also Ostmitteleuropa im Sinne des Kolonialismus, wie ihn József Böröcz formuliert hat, fälschlicherweise mit ein. Daher scheint der Begriff West-Eurozentrismus die Erfahrung Ostmitteleuropas besser zu erfassen: Die Beziehung zum Westen ist eine Frage der „Rückkehr nach Europa“, der Konditionalitäten des EU-Beitritts und der anhaltenden asymmetrischen Beziehungen innerhalb der EU.

Paradoxerweise scheint auch die queere und postkoloniale Kritik an der Art von Wissenschaft, die vorgibt, objektiv zu sein, in Wirklichkeit aber in Machtverhältnisse verstrickt ist und zur Reproduktion von Hierarchien beiträgt, zu einem neuen Universalismus geworden zu sein: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus anderen wissenschaftlichen Traditionen kommen (wie z. B. der politischen Ökonomie oder dem weichen Konstruktivismus), werden tendenziell als „rückständig“ und „essentialistisch“ abgestempelt. Obwohl der Poststrukturalismus und der Dekonstruktivismus wie alle anderen sozialen Theorien Produkte der materiellen und geopolitischen Umstände sind, in denen sie entstanden sind, wurden sie zu Markern des Fortschritts in der Geschlechterforschung.

Diese Richtung scheint in der westlichen Geschlechterforschung eine hegemoniale Stellung eingenommen zu haben, während sie in Ostmitteleuropa eher eine Errungenschaft der letzten Jahre ist. Das späte oder zögerliche Bekenntnis zu diesem theoretischen Ansatz wird manchmal als „Essentialismus“ oder „Rückständigkeit“ interpretiert. Ähnliche Tendenzen sind im Postkolonialismus zu beobachten, wenn z.B. westeuropäische Erfahrungen und Selbstreflexionen mit der eigenen kolonialen oder faschistischen Vergangenheit universalisiert werden und die Wissenschaft über Ostmitteleuropa und ihre in den eigenen historischen Erfahrungen wurzelnden Theorien nicht nach den aktuellen westlichen Maßstäben gesehen oder beurteilt werden.

Deshalb müssen queere und postkoloniale Ansätze meines Erachtens sehr vorsichtig sein, um nicht die Machtverhältnisse innerhalb der kritischen Wissenschaft mit genau den Mitteln zu reproduzieren, mit denen sie eigentlich beabsichtigt hatten, (West-)Europa zu provinzialisieren und auf positioniertes Wissen aufmerksam zu machen. Aber auch hier gilt, dass die Bedeutung von positioniertem Wissen nicht verabsolutiert werden sollte. Andernfalls geraten wir in das Dilemma, das Martha Nussbaum bereits vor mehr als zwanzig Jahren formuliert hat: Wenn nicht aufgrund universeller moralischer Kriterien, woher wissen wir dann, dass die rechten Interpretationen und positionierten Kenntnisse schlechter sind als unsere?

Vor diesem Hintergrund möchte ich mit den folgenden Gedanken schließen: Der antikoloniale Diskurs der Rechten könnte als eine Sprache betrachtet werden, die den West-Eurozentrismus zum Ausdruck bringt: reale Ungleichheiten innerhalb der Europäischen Union. Um sie anzusprechen, brauchen wir in der Wissenschaft weniger Tabuisierung (in Form von Vorwürfen der Ähnlichkeit mit den Argumenten der Rechten) und mehr kritische Auseinandersetzung mit den Ungleichheiten, die der von der Rechten geschickt geschürten gesellschaftlichen Forderung zugrunde liegen. Und politisch brauchen wir anstelle von „Widerstand“ gegen ihren polarisierenden und stigmatisierenden Diskurs eine wirksame Organisation, die sich mit den eigentlichen Ursachen, den realen wirtschaftlichen und symbolischen Ungleichheiten auseinandersetzt.

Ein Kommentar zu “Wo endet Europa? Rechter Antikolonialismus und universalisierender Postkolonialismus

  1. Nun ist die Istanbul-Konvention in jeder Hinsicht ein technisch mangelhaftes Dokument für die “gute Sache”.

    https://rm.coe.int/16806b076a

    Was mich gestört hat, war die Zumutung dieses Dokument gegen Ungarns Führung zu verteidigen. Es steht Ungarn in der Tat vollkommen frei internationale Abkommen zu zeichnen oder nicht, zu ratifizieren oder nicht. Der Skandal ist, dass Länder wie Deutschland diese Fehlleistung ratifiziert haben, trotz der gravierenden technischen Mängel.

    In Osteuropa die Folie der Fremdherrschaft zu bedienen ist mäßig originell. Mit 9.8 Millionen Einwohnern ist Ungarn zu klein, um sich ohne Interdependenz nach außen zu wähnen. Die Stärke der EU ist es genau solche Möglichkeiten zur Gelassenheit und Absicherung der Mitgliedstaaten bereit zu stellen. Die mangelnde Gelassenheit ggü. Soros-finazierter Bewegungen bzw. Institutionen und die populistische Instrumentalisierung ihrer Abwehr muss sicher auch vor dem Hintergrund der Größe des Landes gesehen werden. Der Teich war zu klein für den Fisch. Der gleiche Fisch macht in Berlin kaum Wellen.

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