Blinde Flecken: Warum in der Europakrise die Bevölkerung Griechenlands unsichtbar bleibt

Bei der Europakrise handelt es sich um ein ebenso drängendes wie komplexes Problem. Sie basiert auf einer Vielzahl von Krisenherden und ist multidimensional. Wie ein Naturzustand wirkt hier, dass Griechenland der Dreh- und Angelpunkt dieser Dystopie ist. Doch warum ist das so? Und warum bleibt die Bevölkerung dieses Landes dabei unsichtbar? Der Literaturwissenschaftler Tobias Lachmann geht diesen Fragen nach. Eine Medienkritik.

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In der Rede von der Europakrise überlagern sich mit der Krise des kapitalistischen Finanzsystems, der Krise der europäischen Politik und der Krise der europäischen Medien mindestens drei Problemkomplexe.

Wahrscheinlich steht Griechenland aktuell nicht zuletzt deshalb im Fokus der Debatte, weil diese Dimensionen auf die denkbar konfliktträchtigste Weise zusammentreffen. Insbesondere in der Presseberichterstattung über die Verhandlungen zwischen der gewählten Regierung Griechenlands und den demokratisch nicht weiter legitimierten Institutionen von Eurogruppe, EZB und IWF über eine nachweislich kontraproduktive Sparpolitik.

Diagnostische Stichworte machen die Runde: Ob Postdemokratie und Postsouveränität (Colin Crouch), Katastrophen-Kapitalismus und Schock-Strategie (Naomi Klein), Griechenland als Krisenlabor (Costas Douzinas), die Fabrikation von verschuldeten Menschen (Maurizio Lazzarato), schuldige Schuldner (Jacques Rancière) oder das Finanzregime als parademokratische Ausnahmemacht (Joseph Vogl).

Alltagsrealität vs. mediale Inszenierung

Was sich darunter wissenschaftlich differenziert beschreiben und diskutieren lässt, zeitigt im Alltagsleben Effekte: Steigende Selbstmordraten, der Zusammenbruch des Gesundheitswesens, explodierende Lebensmittelpreise, stetig sinkende Löhne und Renten, eine Massenarbeitslosigkeit von ungekannten Ausmaßen, das Kappen der sozialen Netze, die Besteuerung der Existenz von Kindern, die Privatisierung von Staatseigentum, geschlossene Banken.

Diese Lebenswirklichkeit, die auf frappierende Art und Weise an das ‚System’ des letzten Reichskanzlers der Weimarer Republik erinnert, bildet die reale Kehrseite der medial inszenierten Verhandlungen zwischen der Syriza-Regierung und ihren Gegenspielern. Also primär jenen Institutionen, die etwa darauf drängen, die Mehrwertsteuersätze noch weiter zu erhöhen und die minimale Grundsicherung EKAS zu streichen, während die Militärausgaben von den Kürzungen paradoxer Weise ausgeklammert bleiben sollen.

In der Berichterstattung über die zwischenzeitlich gescheiterten Verhandlungen zeigt sich eine extreme Schieflage zwischen der medial verbreiteten politischen Rhetorik und den alltagspraktischen Auswirkungen der verfolgten Politik. Die Auswirkungen finden in der hiesigen Medienberichterstattung über Griechenland kaum Platz.

Kriechströme des Euphemismus

Der Athener Journalist Wassilis Aswestopoulos spricht daher vom Euphemismus. Dies ist treffend mit Blick auf den Sachverhalt selbst und auch im Hinblick auf den Modus des mediopolitischen Diskurses. Immerhin stellen Euphemismen eine Spielart der Ironie dar und neigen dazu, jene zynischen Züge anzunehmen, von denen die Statements vieler Politiker und Journalisten nur so strotzen.

An diesem Punkt treffen sich die Ausführungen Aswestopoulos’ mit den Analysen Clemens Knoblochs. Der Siegener Sprachwissenschaftler skizziert in seiner Medienanalyse ein Szenario von Moralisierung und Gegenmoralisierung. Die Mechanismen veranschaulicht er am Beispiel des symbolischen Komplexes des „Spiels“ sowohl in der Boulevardpresse als auch in den so genannten Qualitätsmedien.

Mit Blick darauf müssen wir uns mit den Apparaten und Automatismen des Journalismus konfrontieren. Also einem außerordentlich stark eingeschränkten Raum dessen, was öffentlich überhaupt sagbar ist. Hier ist nur ein sehr enges Spektrum von Sprecherpositionen zulässig. Das führt letztlich dazu, dass die immergleichen Aussagen, Bilder, Denkfiguren und Symbole, Mythen, Klischees und Narrationsschemata fortwährend reproduziert werden.

Diese Art der gesellschaftlichen Rede ist von einer gewaltigen Einförmigkeit geprägt. Und sie begünstigt die unheimliche Wiederkehr von nationalen Stereotypen. Jene galten angesichts eines vereinten Europas längst als überholt. Insofern: Die Einschätzung José Manuel Barrosos, einhundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg habe man es mit dem friedlichsten und stabilsten Europa aller Zeiten zu tun, erscheint vor diesem Hintergrund bestenfalls als ein weiterer Euphemismus.

BILD und FAZ in einem Boot

So würde der Medienkonsument vielleicht vermuten, dass das stereotype Bild des arbeitsscheuen Griechen für einen seriösen Journalismus nicht akzeptabel sein dürfte. Doch wenn sich bei genauerer Betrachtung eines in aller Deutlichkeit zeigt, dann dies: Die so genannten Qualitätsmedien argumentieren nicht minder boulevardesk als der Boulevard selbst.

Gewiss, einige Abstufungen zwischen Qualität und Boulevard sind zu erkennen: Die FAZ etwa arbeitet mit weniger Bildmaterial als die „Mutter aller Zeitungen“, ihre Beiträge sind auch länger, lehnen sich stärker an das Hochdeutsche an, weisen einen komplexeren Satzbau auf und geben unterschiedliche Stimmen in indirekter Rede wieder.

Was aber die Bildlichkeit ihrer sprachlichen Darstellung angeht, greifen die “Qualitätsmedien” auf eben jene Arsenale stereotyper Figuren und Denkmuster zurück, in denen sich auch BILD-Zeitung und DER SPIEGEL bewaffnen. Um ein Beispiel zu geben: Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis hat sich als Wirtschaftswissenschaftler unter anderem auch mit Ansätzen der Spieltheorie beschäftigt.

Varoufakis: Spieltheoretiker oder Zocker?

Das Bekanntwerden dieses Umstands hat dem Motiv der „Spieltheorie“ Flügel verliehen. Den Zeitungen bot es die Möglichkeit, Varoufakis einem belesenen Publikum als genialischen Spieltheoretiker vorzustellen. Dem breiten Massenpublikum hingegen ist er als „skrupelloser Zocker“ präsentiert worden. Dies wiederum entspricht dem Bild des „gierigen Griechen“, der allen anderen Europäern ihr Geld abluchsen will.

Die Gier ist nicht bloß eine der sieben Todsünden des katholischen Katechismus. Seit Beginn der Krise des Finanzsystems im Jahr 2007 sucht man die Ursachen für den Kollaps vor allem auch in der Habsucht einzelner Bankster. Dieses Motiv der Syriza-Regierung zu unterstellen, erfordert eine abenteuerliche gedankliche Akrobatik, die der BILD-Zeitung aber virtuos gelingt.

Nehmen wir beispielsweise den vampirologischen Titel „GRIECHEN-RAFFKE BEIßT SICH AN SCHÄUBLE DIE ZÄHNE AUS“ (BILD, 17.02.2015). Hier wird die in Teilen antisemitische Herkunft der Figur des „Raffke“ strapaziert. Diese geht bekanntlich aus dem Gegensatz zwischen gutem arischen „schaffenden Kapital“ und bösem jüdischen „raffendem Kapital“ der NS-Wirtschaftsideologie hervor, wie der Diskursanalytiker Jürgen Link erklärt.

Linksextrem oder sozialdemokratisch?

Es ist in der Tat erschreckend, wie klein die Entfernung ist zwischen einer boulevardesken Position und Meinungen, die unter dem Label eines Qualitätsmediums wie der FAZ verkündet werden. Auch an einem Leitartikel von Michael Martens wird dies deutlich. Er rückt das Bündnis zwischen Syriza und ANEL mit einer waghalsigen historischen Analogie in die Nähe des Hitler-Stalin-Pakts. Titel: „Der Kammenos-Tsipras-Pakt“ (FAZ, 28.01.2015).

Einer der Gründe für diese hanebüchene Falschdarstellung liegt in der Unkenntnis. Aber auch in der verzerrten Wahrnehmung des politischen Spektrums. Hier ist die Politik der Tsipras-Regierung keineswegs linksextrem, sondern vertritt klassisch sozialdemokratische Forderungen.

Die „Unabhängigen Griechen“ stellen eine Links-Abspaltung von der konservativen Nea Dimokratia dar, so dass sie in der deutschen politischen Landschaft mitten zwischen CDU und SPD – und damit gewissermaßen in der ‚Mitte der Gesellschaft’ – zu verorten wären.

Griechenlands Bevölkerung bleibt unsichtbar

Damit stellt sich die folgende Frage: Ist die Darstellung des Regierungsbündnisses in Griechenland durch FAZ und BILD-Zeitung lediglich ideologisch überformt? Und müsste sie in liberaleren Medien nicht grundlegend anders ausfallen? Davon kann keine Rede sein. Die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung unterscheidet sich von jener der FAZ keineswegs – von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Margarete Jäger und Regina Wamper vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung haben die entsprechenden Kommentare im Politik-Teil der SZ sprachwissenschaftlich ausgewertet. Dabei haben sie feststellen müssen, dass die Ressentiments des Boulevards und in seltenen Fällen sogar einzelne Maßnahmen der Institutionen dort mitunter zwar moderat kritisiert werden. Einen Platz für alternative Sichtweisen bietet jedoch auch die SZ nicht.

Wie in allen anderen Medien auch, herrscht in der SZ ein unterkomplexes Denken in einfachsten Oppositionen vor. Sie unterscheiden nach dem Schema „Wir“-gegen-„Sie“ zwischen den Interessen der Euro-Staaten (allen voran Deutschlands) und Griechenlands. Sie brandmarken Syriza als linksextrem und begründen die deutsche Vormachtstellung in Europa. Zudem bauen sie politische Fronten – und zwar auch gegen den „äußeren Feind Russland“ – auf und schreiben sie weiter fort.

Die Bevölkerung Griechenlands taucht als Akteur in diesem Spiel fast nie auf. Hingegen werden immer wieder Stimmen aus anderen europäischen Musterländern, vornehmlich dem Baltikum zitiert. Diese kritisieren die griechische Politik von ihrer nationalen Warte aus. Die Konzepte der europäischen Institutionen werden als alternativlos dargestellt. Es dominiert ein technokratisches Weltbild. Aus dieser Perspektive werden die Akteure aus Griechenland mit paternalistischem Gestus diskreditiert. Wahlweise als Anfänger, Populisten, Extremisten, Utopisten oder Hochstapler.

Anm.d.Red.: Der zweite Teil des Beitrags erscheint kommende Woche. Der Text entstand im Rahmen einer Tagung, die unter dem Titel “Wie ‚einäugig’ ist die deutsche Medienberichterstattung über Griechenland” medien- und kulturwissenschaftliche Beiträge versammelte. Dort wurden all die Stimmen, die der Text zusammenträgt, eingefangen. Ein Ausgangspunkt für die Tagung war der Appell “Für eine faire Berichterstattung über demokratische Entscheidungen in Griechenland”, den die Berliner Gazette in diesem Frühjahr veröffentlichte. Das Foto stammt von Mario Sixtus. Es steht unter einer Creative Commons Lizenz. Mehr zum Thema in unserem Dossier Europakrise.

4 Kommentare zu “Blinde Flecken: Warum in der Europakrise die Bevölkerung Griechenlands unsichtbar bleibt

  1. Lieber Jens Schmidt, da haben Sie natürlich recht und diese Darstellung ist in der Berichterstattung insgesamt auch eher marginal. Selbst BILD wittert Antisemitismus ansonsten relativ zuverlässig. Umso bezeichnender ist es andererseits aber wiederum, dass sich derartige Schnitzer in der Griechenland-Berichterstattung doch wieder einschleichen.

  2. Liebe Amelade, ich glaube, es ist entscheidend und keineswegs zufällig, dass Berichte über die ‘tatsächliche Lage’ in Griechenland in Medien wie der FAZ erst nach dem Referendum lanciert werden. Die relativ leicht zu durchschauende Logik dahinter besteht darin, die Situation nunmehr der Syriza-Regierung anlasten zu wollen. Das ist insofern nicht korrekt, als die Situation vor dem Referendum nicht schlimmer gewesen ist, als danach. Ausgeblendet bleibt nach wie vor der Umstand, dass diese Lage von den ‘Institutionen’ nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sogar aktiv herbei geführt wurde.

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