Detektivdilemma: Ermittlungen in den brüchigen Zusammenhängen, die die Welt zusammenhalten

Als Hybrid zwischen Existential- und Kriminalroman im Format des Mockumentary fordert uns Benjamin Heisenbergs “Lukusch” heraus, die Selbstverständlichkeit der Welt zu hinterfragen. Dabei legt er nahe, dass das Verhältnis von Ich und Welt als Konstruktion eines brüchigen Zusammenhangs lesbar ist – und somit nicht zuletzt als eine Erzählung, die nicht immer zuverlässig und eindeutig ist. Ein Interview.

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Lukusch” (2022) kann als spannendes Hybrid zwischen Existential- und Kriminalroman im Format des Mockumentary gelesen werden. Die Existenzkrise des Protagonisten Simon Ritter führt zu einer umfassenden Investigation, der Suche nach Anton Lukusch, einem Schach-Genie. Dabei wird, wie im Kriminalroman üblich, eine Welt kartiert, die zugleich die Welt des Verschwundenen – Lukusch – und die Welt en gros ist. Als Detektiv, der obsessiv recherchiert, baut Simon eine Welt, mit der er soweit eins wird, dass er am Ende selbst verschwindet. Uns hat dieses Spannungsfeld an Filme erinnert, die ebenfalls das Existential- und Kriminalgenre vermischen, so unterschiedlich wie “Sunset Boulevard” (1950), “The Long Goodbye” (1973), “Professione: Reporter” (1975), “Identificazione di una donna” (1982) und “Zodiac” (2007). Inwiefern hast Du bewusst an einem Hybrid des Existential- und Kriminalromans gearbeitet?

Grundsätzlich finde ich das Hybrid eines Existenzial- Kriminalromans im Kleid der Mockumentary sehr passend für unsere Zeit, in der so viele Nachrichten und Geschichten aus teils widersprüchlichen, oder wenigstens widerstreitenden Quellen und in heterogenen Formaten auf uns einprasseln. Diese Wahrnehmung ist auch ein ganz wichtiger Anlass gewesen, den Roman auf diese Weise zu schreiben. Ursprünglich ist Lukusch ja als Kurzgeschichte geschrieben, die als Grundlage für einen abendfüllenden Spielfilm dienen sollte.

Über die Jahre habe ich mit Freunden immer mal wieder daran gearbeitet, aber der genaue Ablauf, das Ende und vor allem die genaue Struktur des retrospektiv recherchierenden Simon Ritter war noch nicht Teil der Erzählung. Ich habe mich im Schreiben wie die Protagonisten der von Euch genannten Filme ins Ungewisse vorwärtsbewegt, durch emotional und faktisch unübersichtliches Gelände, mit der vagen Idee, dass Simon zuletzt selbst verschwindet, nachdem er Anton Lukusch gefunden und einen Teil des Indizienpuzzles vor uns auf den Tisch gelegt hat. Dabei ist es nicht zuletzt auch deshalb ein Existenzialroman für mich, weil doch viele autobiographische Splitter darin enthalten sind und eigene Themen, in denen ich sozusagen selbst ermittle.

Ohne den Existenzialismus wäre auch “True Detective” (2014ff) zu nicht einer derart prägenden Serie avanciert. Was den Vergleich zu Deinem Roman auch nahe legt: Das Bauen einer Welt führt zu einer zunehmenden Komplexität und Verrätselung. Wie bei Franz Kafkas “Das Schloss” (1922/26) etwa: je weiter die Figur mit ihren Erkundungen geht, je konkretere Konturen das Schloss (als Metapher für die Welt) im Zuge dessen annimmt, desto mysteriöser, undurchsichtiger wird alles. So erweist sich das zunehmende Wissen auch als das Wissen über das Nicht-Wissen bzw. das Nicht-Wissen-Können, aber auch über die Beschaffenheit der Welt als solche. Wenn der Landvermesser bei Kafka an die Grenzen der Vermessbarkeit stößt, ließe sich sagen, dass Simon Ritter in Deinem Roman an die Grenzen des Ermittelbaren stößt. Der Roman wirft die Frage auf: Wie ist die Welt gebaut? Wie kann das Ich zu der Welt in Beziehung treten?

Vielleicht verhält es sich mit der Vermessbarkeit oder Ermittelbarkeit der Welt wie mit den Wurzeln eines Baumes, die immer tiefer in die Erde vorstossen. Je tiefer und breiter der Raum wird, den die Wurzeln durchdringen und erfassen, umso grösser wird auch der Raum um sie und zwischen ihnen, den sie (noch) nicht erfasst haben, von dem sie aber “wissen”, dass er existiert. Gleichzeitig lebt der Baum von diesem Wachstum. Es ist also keine sinnlose Bewegung, wie wir sie in Kafkas Welt erfahren.

In Simon Ritter und einigen Charakteren im Roman gibt es den tiefen Wunsch in eine unmittelbarere Beziehung zum Leben und zur Welt zu treten. Gleichzeitig erleben sie die Furcht im Angesicht des unerklärlichen Unbekannten (Diese zwei Anteile kann man auch in dem zweigesichtigen “Wesen” Igor-Anton erkennen). Simon wandelt sich und reist zuletzt mit aufgeklebtem Schnurrbart, mit neuer Identität. Sein betrunkener Mitreisender macht ihm klar: “You are a piece of art and I am a piece of art. (…) This telegraph pole is a piece of art, this wo­man is piece of art …” Er und alles um ihn ist ein Erzeugnis künstlerischen Schaffens. Kurz darauf im Dorf ereilt ihn die tiefste Krise und er beschreibt sich als “ein Kind an der Hand eines Toten gehend.” Damit reiht er sich in die Gruppe der Hauptfiguren der genannten Existential- und Kriminalfilme ein.

Um auf das Visuelle zurückzukommen. Vielleicht erinnert uns Dein Roman auch deshalb nicht zufällig an Filme, weil Du einen filmischen Roman gebaut hast, der sich durch eine spezifische Zusammenführung von Text und Bild auszeichnet: Bilder, die Du konstruiert hast, werden im Buch als Dokumente präsentiert, die Simon Ritter zusammenträgt, um seinen Fall / seine Welt zu konstruieren. Im Anschluss an die vorangegangene Frage, ließe sich sagen, dass Dein Bemühen spürbar wird, zu zeigen, dass sich die Welt nicht so einfach und vor allem nicht so verlässlich festhalten lässt, wie das etwa die gängige Wahrnehmung der Fotografie als “Wahrheitsmedium” suggeriert. Hier könnte die Frage lauten, wie Deine künstlerische Arbeit an Bildern, die nun auch Eingang in das Roman-Format gefunden hat, diesen spezifischen Diskurs zu “unverlässlichen Weltentwürfen” vorbereitet hat?

Seit den ersten Anfängen meiner Arbeit in der Kunst beschäftige ich mich mit Erzählung und dem Verhältnis von Sprache zu Bild, Objekt und Wirklichkeit. Dabei interessiert mich besonders, dass unsere Formen von Kommunikation auf Vereinbarungen beruhen, die überhaupt nicht selbstverständlich sind. Beispielsweise beruht die Frage, ob wir einen Dokumentar- oder Spielfilm sehen, zunächst einmal auf der “Vereinbarung”, der Ankündigung, z.B. des TV-Programmfensters, oder der Mediathek-Rubrik und weiter auf einer ganzen Reihe von erzählerischen Genre-Codes. Dabei existieren in beiden Filmformen (Dokumentar- und Spielfilm) so viele Überschneidungen in der Herstellung und Rezeption, dass die Antwort auf die Frage viel komplexer sein müsste, aber das übersehen wir zugunsten einer eineindeutigen Lesbarkeit des Produkts.

Wie bei einer Autofahrt auf der Basis einer digitalen Karte blenden wir die Tücken dieser virtuellen Vereinbarung zunächst aus – bis die erste Strasse auf der Karte fehlt, oder die Geschichte mit ihren Bildern offensichtliche Unwahrheiten erzählt. Dann beginnt ein äusserst interessanter Aushandlungsprozess, der in ein neues Verhältnis in der Kommunikation und vielleicht sogar in einer tieferen Weltsicht mündet.

Im Roman “Lukusch” dienen die Bilder als Beweise für Behauptungen im Text und als eigenständige Erzähleinheiten, die neue Themen und Gefühle einführen. Wie bereits in meiner Kunst und meinen Filmen sind darin immer wieder Schichten von Bedeutungen angelegt, die ich mit etwas Aufwand als Leser:In “ermitteln” kann. Wie in meinen malerischen Kollagen und Videos die für Ausstellungen entstehen, kann man die Bruchstellen und Manipulationen erkennen, aber die Konsistenz des Motivs ist gross genug um sich in die Welt “hineinfallen” zu lassen. Das erlaubt auch einen weitergehenden, humorvollen Blick auf die Geschichte und ihre Protagonist:Innen. Genauso wie zum Vertrauen in die fake-Konstruktion “meiner” Welt, lade ich so zur spielerischen Dekonstruktion derselben ein.

Simon Ritter scheint bei seiner Recherche die Welt im zunehmenden Maße gemäß den Gesetzen eines Computerprogramms zu entwerfen – gewissermaßen im Modus des Profilers: kongenial zu Lukusch, der, so darf man annehmen, die Welt als Schachspiel versteht. Doch die Welt erweist sich nicht als so berechenbar wie er es erwartet. Der Zufall, der Glitch, der unvorhergesehene Störfall spielt eine grosse Rolle – wie etwa ein Reaktorunfall, der in Deinem Roman die “Urszene” der Welt-/Existenzkrise darstellt. Nach Fukushima (2011) hieß es: obwohl ein Reaktorunfall statistisch gesehen nur einmal alle 500 Jahre passiert, war es damals für viele bereits, die schon Tschernobyl (1986) mitbekommen hatten, das zweite Mal in ihrem Leben. Welche Rolle spielt für Dich hier – in dieser spezifischen Engführung von Existential- und Kriminaldiskurs – die Auseinandersetzung mit Berechenbarkeit/Unberechenbarkeit, Wahrscheinlichkeit/Unwahrscheinlichkeit?

Das beschriebene Fukushima-Phänomen betrifft Drehbuchautor:Innen und Computerspielhersteller täglich beim “Worldbuilding” und in den Charakterzeichnungen. Ein Zufall ist vor allem dann spannend, wenn er auf eine Erwartung des Zuschauers trifft. Fukushima wurde um ein vielfaches Bedeutsamer, weil die Katastrophe auf die Erwartung der Welt nach Tschernobyl traf und die schlimmsten Befürchtungen erfüllte. Bei Zufällen in Erzählungen weht uns allzu oft der Wille der Erzähler:In an und wir wollen sagen: “naja, mit so einem einfachen Taschenspielertrick kann ich die Geschichte auch am Laufen halten…” Oft wird diesem Problem so begegnet, dass eine allgemeine Stimmung der Schicksalhaftigkeit und Bedeutsamkeit erzeugt wird, die jeden Zufall als Fatum und von höheren Mächten getragen erscheinen lässt – oder aber, und das ist der Königsweg – die Geschichte wird so erzählt, dass jedes Ereignis seine Notwendigkeit in dem höheren Sinn der Erzählung, also des Daseins der Figuren und ihrer Welt erhält. Somit könnte jeder beliebige Zufall für die Geschichte sinnhaft und bedeutsam werden und der tatsächlich erzählte Zufall wird “realistisch”, weil er weder Fügung noch Schicksal, sondern ein wirklicher, schierer Zufall, aber dennoch im höheren Sinne erzählerisch sinnstiftend ist.

Ich glaube, wir gründen unser Urvertrauen in hohem Masse auf unsere Wirkmächtigkeit in dieser Welt. Wir vertrauen, dass bestimmte Ereignisse (Naturgesetze, Fortpflanzung, Wachstum etc.) mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten und halbwegs berechenbar sind. Gleichzeitig fühlen wir von Anfang an, dass das Prinzip Leben nur mit einem hohen Maß an Ungewissheit und Zufall vorstellbar ist. Und so “ermitteln” und handeln wir immer am Rand der Scheibe unserer eigenen Wahrnehmung entlang der Grenzen des Vorstellbaren mit der Hoffnung auf die Verlässlichkeit unserer Annahmen.

Anm.d.Red.: Die Fragen stellten Magdalena Taube und Krystian Woznicki.

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