Das “Manifest für Frieden” der Zeitschrift Emma hat kontroverse Diskussionen ausgelöst. Eigentlich ein gutes Zeichen, oder? Schließlich wird es im zunehmenden Maße wichtiger, dass es eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung über den Krieg gibt und dass die politische Vorstellungskraft nicht weiterhin auf Eskalationsszenarien reduziert bleibt, sondern schnellstmögliche Auswege denkbar werden lässt. Der Diskursanalytiker Jürgen Link, der zu den Unterzeichner*innen des Manifests gehört, sondiert die zentralen Einwände der Zweifler*innen und Gegner*innen und antwortet darauf.
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Meine Prämisse, weshalb ich das Emma-Manifest unterzeichnet habe, lautete: Wenn man die Lage wirklich für höchst gefährlich hält, kann es meines Erachtens nicht mehr um 100% Sauberkeit eines Textes gehen, sondern nur, ob der Text sich auf den nächsten dringendsten Schritt konzentriert, d.h. Verhandlungen über einen Waffenstillstand (nicht schon über einen Friedensvertrag), ob kein antagonistischer Fehler drin ist (also z.B. eine Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges) und ob es ein Massenereignis werden kann. Das kann es meines Erachtens.
Zwei erste Erfolge des Manifests waren: 500.000 Unterzeichnungen in der ersten Woche – ein klarer Bruch des üblichen Totschweigekartells einer solchen Initiative. Die breite mediale Diskussion versuchte erwartbarerweise, das Manifest zu diskreditieren und weitere Unterzeichner*innen politisch und moralisch einzuschüchtern. Auch das war aber positiv, weil es die (sämtlich schwachen) Gegenargumente ausformulierte. Ich habe versucht, sie zu strukturieren und zu beantworten, um weitere Unterzeichnungen zu erleichtern.
Einwand 1: Russland als Angreifer ist für alle Kriegsschäden und Verluste an Menschen und Infrastruktur der Ukraine allein verantwortlich. Der Krieg der Ukraine ist ein gerechter Verteidigungskrieg und damit in allen Aspekten legitim. Wer außer dieser Feststellung andere Aspekte des Krieges diskutiert, stellt sich auf die Seite des Angreifers und erweist sich als „Putins Sister und Buddy“ (Der Standard).
Antwort: Tatsächlich ist der Krieg auf Seite der Ukraine hybrid. Er war zunächst (bis Ramstein, April 2022) ein hauptsächlich gerechter Verteidigungskrieg, der von einer beeindruckenden und erfolgreichen Volksresistenz der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstützt wurde. Damit wurde der Angriff auf Kiew abgewehrt. Seit Ramstein und seit dem dort durchgesetzten erweiterten Kriegsziel (keine Verhandlungen vor Vertreibung der russischen Armee aus der gesamten Ukraine einschließlich der Krim, entscheidender militärischer Sieg über Russland) handelt es sich um einen hybriden Krieg. D.h. die legitime Verteidigung und Volksresistenz geht weiter, wird aber mehr und mehr untergeordnet unter die Ramstein-Strategie der USA und der NATO. Diese Strategie bestimmt die Waffen und führt selbst die Logistik des Krieges entscheidend mit durch. Die gelieferten Waffen sind tauglich zur Gegeneskalation („schwere Waffen“). Seitdem stellt sich durchaus die Frage, welchem geostrategischen Subjekt die entsetzlichen Verluste der Ukraine letztlich zugute kommen.
Einwand 2: Die „Eskalationsphobie“ (Master Mind der Bundesregierung Joachim Krause in der FAZ: 7.2.2023) dient Putin. Die ukrainisch-westliche „Gegeneskalation“ (Krause ebd.) ist notwendig, um das Kriegsziel der Vertreibung Russlands aus der Ukraine zu erreichen. Die Drohung Russlands mit nuklearer Eskalation ist „Bluff“. Der Sieg über Russland ohne nukleare Eskalation ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erreichen, wenn nicht über einen Waffenstillstand und Verhandlungen geredet wird. Solches Reden stärkt lediglich Putin.
Antwort: Das ist evidentermaßen absurd. Wenn Putin = Hitler, dann wird er vor einer entscheidenden Niederlage eskalieren bis in den ABC-Bereich. Wenn er das sicher nicht tun wird, ist er nicht = Hitler und es kann mit ihm über Waffenstillstand verhandelt werden. Man kann aber keineswegs sicher sein – ein Restrisiko von mindestens 10% bleibt bestehen – würde ein AKW mit einem solchen Restrisiko genehmigt? Aber ein möglicher Atomkrieg schon?
Einwand 3: Es ist unmoralisch, Waffenstillstandsverhandlungen zu unterstützen, weil man mit einem brutalen Verbrecher wie Putin nicht verhandeln kann. Er begeht täglich neue brutale Verbrechen.
Antwort: Also ist das rascheste Mittel, ihn an weiteren täglichen Verbrechen zu hindern, ein Waffenstillstand.
Einwand 4: Russland entscheidend zu schlagen, impliziert einen längeren Krieg mit Gegeneskalation. Das ist unvermeidlich. Deshalb muss die ukrainisch-westliche Seite unter allen Umständen durchhalten. Reden über Waffenstillstandsverhandlungen schwächt die Moral des Durchhaltens und fördert unmoralische „Kriegsmüdigkeit“.
Antwort: Tatsächlich ist die pure Länge des Krieges aus mehreren Gründen ein entscheidendes Argument, das nicht von der Tatsache des Angriffskriegs weggewischt werden kann. Das tägliche Massaker an der Jugend und Zivilgesellschaft der Ukraine kann und muss durch einen baldigen Waffenstillstand gestoppt werden. Dazu kommt das tägliche Massaker an der Umwelt, was Wolfgang Ischinger, als er noch nicht Robustbellizist war, auf die zutreffende Formel gebracht hat: „Ein großer Krieg, und die gesamten Klimaziele, die wir haben, können Sie alle einstampfen“ (WAZ 3.12.2019). Der große Krieg ist jetzt da: dass er von Putin angefangen wurde, ändert nichts daran, dass er da ist und schnellstmöglich beendet werden muss.
Einwand 5: Zwischen dem Putin-Regime und der Bevölkerung Russlands zu differenzieren, ist sowohl ein Irrtum als auch für die notwendige Durchhaltemoral der ukrainisch-westlichen Seite sehr schädlich.
Antwort: Dabei stützt man sich auf offizielle Umfragen in Russland, deren Glaubwürdigkeit doch der These überwältigender Manipulationsmacht Putins widerspricht. Tatsächlich ist eine starke Desertionsbewegung mehrerer Millionen aus Russland (sowie auch eine – natürlich unterdrückte – Resistenz im Lande) ein Faktum. Die Motivation der russischen Soldaten ist offenbar eher schlecht. Mit der Lieferung ausgerechnet deutscher Panzer an die Ukraine bekommt Putin eine Steilvorlage, um falsche Analogien zum „Großen Vaterländischen Krieg“ herzustellen. – Aber auch in der Ukraine gibt es (verbotene) Kriegsdienstverweigerung und Desertion. Teile der Zivilgesellschaft beider Seiten lehnen also offenbar einen langdauernden Krieg ab und könnten sich in der Forderung nach Waffenstillstandsverhandlungen begegnen. Die entschiedensten Gegner*innen solcher Tendenzen in der Ukraine sind Ultranationalist*innen, deren Anhang weit über das Asowregiment hinausgeht und deren Einfluss sich in der radikalen Entrussifizierungskampagne zeigt: Millionen russische Bücher werden z.B. aus den Bibliotheken entfernt, Judenmörderideologen wie Bandera und Melnyk [Führer der OUN-M und Master Mind der SS-Division Galizien] werden als Helden des aktuellen Krieges verehrt usw. Auch das ist ein hybrider Faktor des Krieges auf der ukrainischen Seite, den einfach wegzuwischen in seltsamem Widerspruch zum Grundsatz in Deutschland steht, allen Anfängen des Antisemitismus zu wehren. Die unbequeme Frage ist, ob Selenskyj nicht mehr und mehr von den Ultranationalist*innen abhängig wird und unter ihre Kontrolle gerät.
Einwand 6: Es gibt AfD-Leute wie Chrupalla, die das Manifest unterschrieben haben. Es droht also eine „Querfront“ mit Rechten.
Antwort: Soll man, wenn es AfD-Leute gibt, die der Gleichung 2 x 2 = 4 zustimmen, sich lieber für 5 entscheiden? In jeder Situation einer tiefgreifenden Krise der bisherigen Normalität („Zeitenwende“), beispielsweise angesichts eines Eskalationskriegs, dem immer intern die Gefahr eines mehr oder weniger antidemokratischen und autoritären Notstandregimes entspricht, ändert sich sozusagen der ‚Aggregatzustand‘ der Gesellschaft und es entstehen Massenbewegungen für und gegen Krieg bzw. Notstandsregime. In einem solchen ‚heißen gesellschaftlichen Aggregatzustand‘ kommt es zu individuellen ‚Umpolungen‘, die gestern noch unmöglich erschienen. Dafür gibt es in der Geschichte des Antifaschismus der 1930er Jahre viele Beispiele. Natürlich gilt es, ein ‚Kapern‘ einer solchen Antikriegsbewegung durch etwa die AfD als Organisation zu verhindern. Das haben die Organisator*innen des Emma-Manifests durch die Auswahl der Erstunterzeichner*innen vorbildlich gelöst. Wie in der Antwort zu Einwand 5 dargelegt, würden latente Antisemit*innen, die das Manifest unterzeichnen, damit sogar implizit Antisemitismus bekämpfen. Das Entscheidende ist, dass es eine Massenbewegung werden kann: Wenn das gelingt, werden einzelne ‚Rechte‘ in die richtige Richtung ‚mitgerissen‘.
Einwand 7: Putin will ja gar nicht über einen Waffenstillstand verhandeln.
Antwort: Gerade dann soll man ihm solche Verhandlungen anbieten, um ihn unter Druck zu setzen (und zu entlarven, falls er tatsächlich bei seiner Weigerung bleiben sollte: was den Widerstand in Russland verstärken würde).
Die Prämisse, dass gegenwärtig nicht verhandelt werde, ist schon mal falsch. Die Verhandlung besteht zum Beispiel darin, welche Waffensysteme und Munitionstypen der Ukraine vorenthalten werden. Die Verhandlungen bestehen darin, dass die russischen Streitkräfte bei Kherson abziehen konnten, dass Getreideexporte möglich sind, die Verhandlung besteht in der Verabschiedung neuer Sanktionen, Umfang und Zeitpunkt, und in der Taktung von Waffenlieferungen usw.
Zum Beispiel, wenn Russland forziert von Schiffen mit Marschflugkörpern Ziele in der Ukraine angreift, könnte die Ukraine mit den richtigen Munitionstypen Teile der Schwarzmeerflotte versenken. Die Versenkung der Moskva war in dieser Hinsicht ein Signal. Dem Westen wäre es ein leichtes entsprechende Waffensysteme zur Verfügung zu stellen, er macht es nicht.
Nach einem Jahr Krieg ist eine *Gesamteroberung der Ukraine* für Russland vollkommen illusorisch. Die konventionelle Streitmacht Russland ist dezimiert (https://www.oryxspioenkop.com/2022/02/attack-on-europe-documenting-equipment.html). Bei den aktuellen Verlusten von Equipment ist es nur eine Frage der Zeit, wann Russland Zugeständnisse machen muss und weiter Fähigkeiten zur Offensive verliert, und eine weitere Fortsetzung wird auch die Sicherheit der territorialen Integrität Russlands gefährden. Wir sehen bereits, dass Russland T-54 Panzer in den Konflikt einbringt. Am Anfang des Konfliktes ging man davon aus, dass ganz Russland nur ca. 3500 einsatzfähige Panzer hat, nach Offenen Quellen und westlichen Geheimdienstinformationen hat Russland mindestens 50% seiner Panzer verloren. Noch prekärer ist der Verlust von speziellen kritischen Waffensystemen, Luftabwehr, Brückenbaugerät etc. und damit verbundenen Fähigkeiten.
Gegenwärtig ist die Ukraine gut genug militärisch unterstützt um gegenzuhalten, mehr Fähigkeiten erhält sie nicht, vor allem im Bereich der Artillerie mittlerer Reichweite. Man hat gesehen, welche Wirkungen das Himars-System entfaltet, aber auch hier war die Unterstützung wohldosiert. Und dann gibt es noch Joker: Die USA haben einen schier unerschöpflichen Vorrat von Abrams Panzersystemen, die derzeit nicht eingebracht werden, weil sie urangehärteten Stahl verwenden. Hier sehen wir aktuell die Testballons der Briten.
Die Behauptung, dass einzelne Rechte in die richtige Richtung ‚mitgerissen‘ werden durch eine Friedensinitiative, ist ein Spiel mit dem Feuer. Und was soll denn die richtige Richtung sein?
@Andre: Seit wann sind denn Verhandlungen über Waffensysteme etc mit Waffenstillstandsverhandlungen gleichzusetzen? Ersteres betrifft die Einrichtung im Kriegszustand, letzteres betrifft den Ausstieg aus dem Kriegszustand.
Hier noch mal der Link:
https://www.oryxspioenkop.com/2022/02/attack-on-europe-documenting-equipment.html
Die Vehandlung besteht im Zurückhalten von Munitionstypen, die eine verheerende Wirkung auf rückwärtige Waffensysteme der Angreifer entfalten würden, also vor allem Raketen mit größerer Reichweite. Es wird aktuell nur eine Balance hergestellt, um auf weitere Angriffe dissusiv zu wirken und den Vormarsch asuzubremsen. Ferner sind größere Mengen Kampfpanzer verfügbar.
Waffenstillstand wird dann angeboten, wenn offensive Ziele nicht mehr erreichbar sind oder erreichte Positionen ernsthaft gefährdet sind.