Dekolonisierung des (filmischen) Sehens: Zwischen Archiv- und Erinnerungsarbeit

Seit des vollumfänglichen Einmarschs Russlands in die Ukraine ist im Westen allenthalben von einer “Zeitenwende” die Rede. Doch was darunter zu verstehen ist und wie man sich diesem Begriff ideologiekritisch nähern kann, ist umstritten. Nicht zuletzt weil er mit der zur Floskel verkommenen Forderung “Nie wieder” verbunden wird und im Zuge dessen ein neuer Historier*innenstreit entbrannt ist. Kann eine breit angelegte und zugleich tief greifende Dekolonisierung des filmischen Sehens den Nebel des Krieges lichten?, fragt die Slawistin Elisabeth Bauer im zweiten Teil ihres Beitrags über das Kino aus der Ukraine und Georgien.

*

Das Filmfestival goEast – die 23. Ausgabe fand Ende April in Wiesbaden statt – hat 2023 bereits im zweiten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine russische, staatlich finanzierte Filmproduktionen aus dem Programm genommen – zugunsten einer Hervorhebung peripherer mittel- und osteuropäischer und indigener (russischer, zentralasiatischer) Filmkulturen. Ausgangspunkt bleibt dabei immer Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Es ist keine neue, aber gewichtige Beobachtung, auf die Kulturhistorikerin Oksana Sarkisova (CEU) während des Festivals auf dem Panel “Modalities of the real: non-fiction cinema in transformation” aufmerksam macht: Die filmische bzw. kartographische Illusion indexikalischer Repräsentation wird von der (meist kollektiven) Gemachtheit des Filmbildes herausgefordert. So muss auch die Gemachtheit von (Doku- oder Nachrichten-) Bildern hinterfragt werden.

“Holiday” (2018)

Ein Ausschnitt des in Mykolajiw gedrehten Films “Holiday” (Zhanna Maksymenko-Dovhych, 2018), im Rahmen des Symposiums gescreent, zeigt, wie komplex dokumentierte Realitäten in hochaufgeladenen politischen oder historischen Kontexten ausfallen können: Am alljährlich am 9. Mai begangenen Feiertag Den’ Pobedy wetteifern Sowjet- mit Nationalsymboliken und es ist in jenem performativen, mythenumrankten Chaos schwer bis unmöglich Wahrheiten oder (historische) Hintergründe zu erkennen. Die mehrdimensionale, technizistische Perspektive des Films kann beizeiten komplexe Zustände und opake Symboliken entwirren, selbst wenn es nur durch ein schlichtes Offenlegen von parallellaufenden, sich widersprechenden oder einander auflösenden Narrativen oder Symbolen geschieht.

Neue (Film-)Sprache: Dekolonisierung auf Ukrainisch

“Die Ukraine als wichtigen Akteur in den historischen Prozessen des 20. Jahrhunderts weiterhin zu ignorieren und die vom Westen übernommenen sowjetischen Kolonialkonstrukte beizubehalten, hindert uns daran, ein objektives Bild der Vergangenheit und der Zukunft zu entwickeln”, schreibt Ivan Kozlenko im Journal Krytyka (“Ukraine as an Active Subject: In Search of a New Language”) – und macht damit deutlich, was Dekolonisierung aus ukrainischer Perspektive bedeutet.

“Egal, welche historische Form es angenommen hat – Zarismus, “proletarischer” Staat oder putinischer Autoritarismus: Russland war immer ein Scheinimperium, das sich als funktionaler moderner Staat ausgab”, führt er fort. Während die westlichen Imperien sich in Staaten gewandelt hätten, habe Russland “nie eine tiefgreifende Transformation durchlaufen, es war und blieb immer ein ressourcenbasiertes, technologisch archaisches Usurpationsimperium.”

Während sich die Ukraine mit Russlands Großangriff endgültig emanzipiert habe, werde die Dekolonisierung der Ukraine aktuell paradoxerweise mit kolonialem Vokabular vollzogen, meint Kozlenko, der auf dem Festivalsymposium auf gleich zwei Ukraine-Panels als Experte vertreten ist. Nach dem Krieg müsse es eine neue Sprache geben, ohne mechanische Selbstnegierung der sowjetischen Vergangenheit, schreibt der Filmwissenschaftler und langjähriger Leiter des Nationalen Filmarchivs Dowschenko Centr (Kyjiw), der aktuell zur Dekolonisierung des Kinos in der Ukraine am Amherst College (USA) forscht.

“Ein neues Vokabular zu erfinden, kann nicht alles sein, aber wir müssen es hinterfragen, genauso wie unsere Geldquellen und kulturelle Veranstaltungen”, sagt Daria Badior, Publizistin, Filmkritikerin und Co-Initiatorin der Kyiv Critics’ Week. “Führen wir nicht die koloniale Rhetorik fort, wenn wir uns dem alten, imperialen Vokabular bedienen? Was meinen wir mit Wörtern wie ‘Okkupation’, ‘Soft Power’, ‘Dissident’ oder ‘Kultur’?” Die russische Macht sei nicht soft und auch Kultur könne toxisch sein. Die neue – dekolonialisierte – Sprache müsse von ihrem imperialen Ballast befreit werden.

Dekolonisierung als Archivarbeit

Nicht zuletzt gilt es vergessene, übersehene oder gewaltsam entwendete Filme aus dem Archiv zu holen. Im Falle postsowjetischer Staaten, sind die über Jahrzehnte der sowjetischen Zensur anheim gefallenen Filme paradoxerweise nur noch im Moskauer Archiv der ehemaligen Zensurbehörde vorhanden. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die verschlossenen Archive – zumindest sinnbildlich – wieder geöffnet. Ein lange verbotenes und dann übersehenes ukrainisches Meisterwerk ist der Film “Conscience / Bewusstsein” von Valentyn Denysenko, der, wie andere zensierte Werke, aus Russland zurückgekauft werden musste.

1968 im Dowschenko Studio produziert, verschwand der Film nach Fertigstellung “in den Regalen” und wurde erst in den Neunzigern veröffentlicht. “Im Gegensatz zu verbotenen ukrainischen Filmen, wie beispielsweise den Filmen von Kira Muratova, die in den späten 1980er Jahren weltweite Anerkennung fanden, wurde dieser Film im Westen kaum beachtet. Erst nach seiner Restaurierung im Jahr 2013 gelang es uns, ihn im Rahmen internationaler Filmfestivals und retrospektiver Programme zu zeigen”, erzählt Filmtheoretiker Kozlenko, der im Murnau-Filmtheater in die Entstehungsgeschichte des wiederentdeckten Films einführt. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht zu untersuchen, wie die ukrainische Filmgeschichte gemacht und geschrieben wurde – wie sie rekonstruiert und dekolonisiert werden kann.

“Conscience” (1968)

Denysenko, der lange Zeit einer der “pro-ukrainischen” Filmemacher*innen gewesen sei und meist Ukrainisch als Filmsprache verwendete, wurde zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt; danach passte er sich der politischen Linie der KP an, bediente sich ideologisch- propagandistischer Methoden. Der 1968 gedrehte Schwarz-Weiß-Film, den er mit einer Gruppe talentierter Studierender drehte, fiel aus dem Rahmen: Der Film, der das Landleben in Zeiten der NS-Okkupation thematisiert, bewegt sich jenseits binärer Schuldzuweisungen und zeigt, “(d)ass Widerstand weniger mit Ideologie zu tun hat, als mit Gewissen” (Barbara Wurm). Er sei wohl verboten worden, weil er “zu ukrainisch” gewesen sei, mutmaßt Kozlenko.

Denysenko ließ Krzysztof Pendereckis avantgardistische Musik einspielen und mit seiner experimentellen Bildästhetik gehört “Conscience / Bewusstsein” zur Schule des poetischen Kinos der 1960er, obwohl er längst nicht alle spezifischen Eigenschaften jenes filmkulturellen Phänomens in der Ukraine erfüllte. Kozlenko: “Das ukrainische poetische Kino kombiniert zwei Hauptelemente: traditionelle ukrainische Imagination und einen revolutionären, modernistischen Schnitt.”

Dekolonisierung mit der Kamera: “Symptome einer fortschreitenden Auflösung”

Realität bedeutet dieser Tage auch, dass Festival-Plätze leer bleiben, weil einigen männlichen Filmschaffenden in der Ukraine keine Ausreiseerlaubnis erteilt wurde. Filmemacher Oleksiy Radynski erscheint als Videoprojektion auf der Bildfläche – mit klaren Worten: “Endlich wird es schwer zu ignorieren, dass die Russische Föderation ein faschistisches Imperium ist, das auf multiplem Genozid basiert.”

Die Invasion bezeichnet Radynski als “Symptom einer fortschreitenden Auflösung” des sowjetisch-russischen Imperiums – als Versuch, den historisch unausweichlichen Zusammenbruch aufzuhalten.

Solange festsitzende Mythen der “großen russischen Kultur” – parallel zu den Kampfhandlungen derselben – weiter in deutschen Theater- und Opernhäusern bedient werden, wenn sich selbsternannte Expert*innen auf den Meinungsseiten oder in Talkshows russischer Propaganda-Narrative bedienen und Desinformation im deutschen Mediendiskurs auf fruchtbaren Boden fällt, müssen (selbst-) kritische Fragen erlaubt sein – und Verantwortlichkeiten auch in hiesigen, auf überholten Annahmen beruhenden kulturpolitischen Strukturen gesucht werden.

“Dabei treten ungemütliche Fragen an die Oberfläche, die etwa den Apparat der westlichen Wissensproduktion betreffen”, so Radynski. “Viele Institutionen haben sich mitschuldig gemacht, indem sie die ‘großartige russische Kultur’ gefeiert haben.” Kino sieht er als Mittel, den Dekolonisierungsprozess voranzutreiben; zudem seien neue politische Gemeinschaften und Institutionen nötig, um den Bann der russländischen Hegemonie endgültig zu brechen.

Georgisch-Abchasischer Krieg: Bereit für die Erinnerungsarbeit

Ein Film, der mit seiner filmischen Revision eines frühen postsowjetischen Kriegskonflikts genau ins Zentrum des Festivalfokus’ trifft, feiert in Wiesbaden Weltpremiere: “Liza, Go On!” von der in Georgien geborenen Regisseurin Nana Janelidze erzählt die Geschichte einer Journalistin, die beginnt, das auch von ihr jahrelang einseitig betrachtete Opfer-Täter-Verhältnis im Kontext des Georgien-Achasien-Krieges zu hinterfragen – und sich auf eine metaphorische Reise der Wahrheitssuche und Versöhnung zu begeben.

Der Georgisch-Abchasische Krieg von 1992-93, der erste von Russland provozierte Krieg nach dem Zerfall der Sowjetunion, dauerte ein Jahr und vierzehn Tage. “Heute sind dreißig Prozent unseres Territoriums verloren, Abchasien besetzt”, sagt Janelidze vor dem Screening. Niemand habe Russlands Einflussnahme in Ossetien beachtet – auch nicht im Kaukasuskrieg 2008. “Deshalb befinden wir uns jetzt in dieser schrecklichen Situation.”

“Liza, Go On!” (2022)

“Alles begann mit dem Zerfall der Sowjetunion, aber damals verstanden wir das noch nicht. Die Russen vergifteten das Bewusstsein der Abchasier – sie sind für das Chaos verantwortlich”, sagt Janelidze. “Es ist Fakt, dass Russland sich gegen die ehemaligen Republiken wendet, sie zurückholen will.” Es gehe auch um das Recht auf eine eigene Geschichte und Erinnerung sowie das Recht, eine Heimat zu haben: ein Ort, an dem man sich Mensch fühlt.

Der Spielfilm begibt sich auf sensibles Terrain, da er Verbrechen beider Seiten beleuchtet und schreckliche Zeugenberichte dokumentiert. Die fiktionale Filmerzählung ist durchsetzt von Tagebuchaufzeichnungen georgischer wie abchasischer Kämpfer: Die beschriebenen Szenen im umkämpften Kriegsgebiet sind so grausam, dass die Filmemacherin sich entschied, sie animieren zu lassen – im Stile von naiv-fantastischen Kriegszeichnungen von Francisco de Goya oder den grotesk-monströsen Figuren von Pieter Brueghel.

Der Umgang des Films mit Kriegstraumata und von Propaganda vergifteten Sichtweisen verdeutlicht: Manchmal braucht es dreißig Jahre oder mehr, um sich selbst im Spiegel betrachten und Ereignisse überdenken zu können. “So, wie es verschiedene Erinnerungen gibt, gibt es verschiedene Schlussfolgerungen. Wir müssen anfangen, darüber zu sprechen, einen Dialog beginnen”, meint Javelidze. Dass die Menschen in Georgien und Abchasien dazu bereit sind, bezweifelt sie jedoch – und weiß noch nicht, wie der Film in ihrem Heimatland aufgenommen wird. Ein kleiner Teil der Gesellschaft sei bereit für die Erinnerungsarbeit, die junge Generation im besetzten Abchasien jedoch eingehüllt in den Dunst von Moskaus Propaganda.

“Ich weiß nicht mehr, was die Wahrheit in diesem Krieg ist.” Dieser Satz, den Lisa als junge Journalistin in Kriegszeiten sagt, lässt sich leicht auf die gegenwärtige Kriegsstrategie des Kremls, Desinformation, Unsicherheit und Chaos zu sähen, übertragen; gleichzeitig klingt heraus, dass auch die herrschende Klasse Georgiens nicht ohne patriotische Propaganda auskommt. In einer anderen Szene, in der Kämpfer*innen aus Abchasien ein Museumsarchiv niederbrennt, fragt sie: “Wie konnten sie unsere Geschichte verbrennen, die auch ihre ist?”

“Liza, höre auf in den Krieg zu ziehen”, ist die Stimme von Lizas Mutter zu vernehmen. Und auch dreißig Jahre später trifft die mittlerweile erfolgreiche Journalistin auf Gegenwind gegen ihre Aufarbeitungsbemühungen, wenn Freunde und Kriegsveteranen sagen, sie solle aufhören, Erinnerungen aus der Hölle zurückzuholen. “In Erinnerung an alle georgischen und abchasischen Kämpfer des Krieges von 1992-93” heißt es im Abspann.

Dekolonisierung in progress: “Verbreitet den Aktivismus!”

“Der Film wirft Licht auf einen Konflikt, der bis jetzt anhält – und zeigt, dass der russische Imperialismus eine wesentliche Kraft ist. Wer zweifelt das an – und wer steht hinter der Propaganda, die auch hierzulande um sich greift?”, fragt Symposiumskuratorin Barbara Wurm.

Fest steht: Erst eine breitflächig eingeleitete und gleichzeitig tiefenwirksame Dekolonisierung wird dem symbolhaften “Zeitenwende”-Begriff gerecht – und würde der zur Floskel verkommenen Forderung “Nie wieder” neue Bedeutung verleihen. “Wir performen bereits den epistemologischen Wandel: Verbreitet die Aktivismus!”

Wie Nancy Condee 2006 schreibt: “Der Zusammenbruch der Sowjetunion – intern imperialistisch, aber (in ihrer erklärten Feindseligkeit gegenüber dem Imperialismus der Ersten Welt) extern antiimperialistisch – löste einen Kernwiderspruch auf, ersetzte aber einen anderen: Russland, das sich allmählich von seiner postimperialen Müdigkeit erholt, bleibt dennoch (wenn auch in veränderter Form) ein Imperium. Macht diese Wiederholung, wie eine hartnäckige Gewohnheit, der man immer wieder abschwört, den Wandel zunichte?”

Während Russlands Imperium sich gegenwärtig einmal mehr aufzubäumen versucht, hat Condees herausfordernde Frage an Relevanz hinzugewonnen. Ob der Ausgang des aktuellen Krieges eine Antwort mit sich bringt, ist ungewiss. Doch davon wie sie ausfällt, hängt nicht weniger als das Schicksal von Millionen Ukrainer*innen, die Existenz der Ukraine sowie die Zukunft des westlichen Demokratiemodells, das sich auf Werte wie Freiheit, Humanismus oder Diversität beruft.

Anmerkung der Redaktion: Der erste Teil dieses Beitrags erschien vergangene Woche.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.