Neuwahlen in Griechenland: Wie können Medien ihre Berichterstattung fairer gestalten? Zehn Thesen

In Griechenland gibt es vorgezogene Neuwahlen. Erstmals kann eine linksradikale Partei an die Macht kommen. Ein Szenario, das die aktuelle Ordnung in Europa erschüttert – in den Medien entsprechend gespiegelt. Der Gesellschaftstheoretiker Jürgen Link artikuliert seine Forderung nach fairer Berichterstattung über demokratische Entscheidungen in Griechenland in zehn Thesen.

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1. Zurecht sagt Syriza: Das Europäische Haus kann nicht als Privateigentum der ‚Märkte‘ und ihrer Kernmächte (vor allem Deutschlands) betrachtet werden. In ihm wohnen Länder wie Griechenland nicht bloß auf Widerruf zur Miete, um bei Mietrückstand von der Polizei auf die Straße gesetzt werden zu können. Das Europäische Haus wird Kondominium sein oder gar nicht.

2. Kaum ist in Griechenland nach der Verfassung eine allgemeine freie, gleiche und geheime Wahl angekündigt, heult der Mainstream der deutschen mediopolitischen Klasse (von ehrenhaften Ausnahmen abgesehen) wie eine einzige Boje so auf, als ob dort eine Diktatur errichtet werden sollte.

Wie in einem unter Sprachregelung stehenden Land hagelt es monoton und täglich, es drohe der (demokratische!) Wahlsieg einer „europafeindlichen“, „europakritischen“, „populistischen“, „reformfeindlichen“, „linksradikalen“, „wirtschaftsfeindlichen“ usw. Partei, die ‚das griechische Volk um die Früchte seiner schweren Opfer bringen‘, die ‚internationalen Geldgeber vor den Kopf stoßen‘ und ‚Europa zurück in die Krise stürzen‘ wolle.

Griechische steuerbetrügerische Oligarchen

3. Dieses Delirium von Sprachregelung und Einäugigkeit droht das Verhältnis zwischen unseren Völkern zu vergiften. Es ist einäugig, so zu tun, als ob die griechische Misere 100 Prozent ‚hausgemacht‘ wäre und als ob „unsere Märkte“, allen voran die großen westlichen Banken, daran keinen Anteil gehabt hätten – als ob ‚sie uns anstecken‘ wollten – und als ob „unsere Märkte“ und „unsere“ Brüningpolitik nicht ganz Südeuropa mit ihrer großen Krise, die eben keinesfalls überwunden ist, angesteckt hätten. Die Krise ist unsere gemeinsame Krise.

4. Aber gibt es denn etwa keine hausgemachten griechischen Krisenverstärker? Doch, es gibt sie durchaus, nur ist es nicht das ganze Volk gleichermaßen, es sind die griechischen steuerbetrügerischen Oligarchen, die aber wie die russischen und ukrainischen gern gesehene Partner unserer „Märkte“ waren und sind, und die (neben unseren eigenen Banken) vor allem von ‚unseren Rettungsgeldern‘ profitiert haben. Und die von Siemens, Rheinmetall usw. im großen Stil bestochen werden konnten.

Und ausgerechnet jetzt, wo erstmals die Chance besteht, dass es diesen griechischen Oligarchen endlich an den Kragen gehen kann, toben „unsere Märkte“ durch ihre Medien nicht etwa gegen die angeblich „proeuropäischen“ politischen Vertreter dieser Oligarchen, sondern gegen genau die Politiker, die ihnen an den Kragen gehen wollen. Dabei geht die wesentliche Information völlig unter: Syriza ist antioligarchisch, und seine Gegner von der bisherigen Regierung sind prooligarchisch. Mit dem weltbekannten griechischen Mythos gesagt: Unsere Medien toben in ihrer Mehrheit nicht gegen den Augias und seinen bis nach Deutschland stinkenden Stall, sondern gegen den Herakles, der ihn ausmisten will.

Agorakratie oder Demokratie?

5. Sage uns also, mediopolitische Klasse: Wie hältst du es eigentlich mit der Demokratie? Du warst gegen diese Wahlen, weil sie „die Märkte“ stören würden. Einer der typischen Prooligarchen, der Chef der sozialdemokratischen PaSoK Venizelos, brachte seine Demokratieauffassung anlässlich einer (nur für sehr kurze Zeit) erfolgreich platzierten Anleihe unübertrefflich naiv auf den Begriff, indem er triumphal verkündete: „Die Märkte haben Griechenland gewählt!“ Also die Wähler dieser Art Demokratie sind die „Märkte“: Es muss also Agorakratie (Herrschaft der Märkte) heißen, nicht Demokratie.

6. Die menschlichen Wählerinnen und Wähler dagegen wurden durch 4 Jahre aus Berlin und Brüssel diktierte Brüningpolitik regelrecht verelendet. Deutsche Kinder lernen in der Schule, dass Hitler 1933 an die Macht kam, weil das deutsche Volk durch die Brüningpolitik verelendet war: 6 Millionen Arbeitslose, vor allem Jugendliche, gelten bis heute als katastrophale Schwelle. In Griechenland ist diese Schwelle heute längst (prozentual) überschritten.

Hinzu kommt eine Zerschlagung der Massenkaufkraft durch Senkung der noch existierenden Löhne, Steuererhöhungen und Kürzung der sozialen Netze teilweise bis auf Null (bei Medikamenten). Schon Émile Durkheim hielt eine kurzfristig über den langjährigen Durchschnitt steigende Suizidrate für das sicherste Symptom einer schwer kranken Gesellschaft. Das Griechenland des EU-Spardiktats ist ein solcher Fall.

7. Brüssel und Berlin (und als ihre Sprachrohre die meisten Medien) erklären diese nicht zu leugnende Katastrophe als vorübergehend, als kurzfristig notwendige Schocktherapie, um das Land wieder „wettbewerbsfähig“ und wieder „normal“ zu machen. Das ist die eigentliche Irreführung: Wenn es wieder „Wachstum“ gibt, dann ausgehend von einem abgrundtiefen „Boden“ – und nur noch für ein oberes Drittel, während die zwei unteren Drittel dauerhaft mit einer „neuen Normalität“ vorlieb nehmen sollen, die man in Griechenland selbst als „Drittweltisierung“ bezeichnet. Anders gesagt: Griechenlands „neue Normalität“ nach Brüssels und Berlins Wünschen ist die einer niedrigen, heruntergestuften Normalitätsklasse ohne wesentliche Teile unserer deutschen sozialen Netze – und das auf Dauer.

Für eine europäische Normalität

8. Gegen diese Herabstufung auf Dauer lehnt sich die Mehrheit der Griechinnen und Griechen auf. Als Instrument dieser Auflehnung betrachten nicht wenige Syriza. Um nichts anderes geht es bei der einäugigen Polemik gegen Syriza: Syriza will sich für eine europäische, nicht drittweltige Normalität einsetzen. Die wesentliche Forderung dabei ist die nach einem großen Schuldenerlass. Nur ein solcher großer Schuldenerlass kann dem Land Möglichkeiten von Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückgeben – während Zinsen und Tilgungen des riesigen Staatsschuldenbergs in alle Ewigkeit den größten Teil der Steuereinnahmen auffressen werden.

Nur ein solcher Schuldenerlass bedeutet endlich eine Rettung der kleinen Leute statt nur der Banken und Oligarchen. Schuldenerlass plus Haftbarmachung der Oligarchie und der Banken – das sind die beiden Hauptpfeiler für jede Verbesserung der Lage in Griechenland. Diese beiden Forderungen unterstützen wir auch von Deutschland aus. Diese beiden Forderungen objektiv, fair und nicht einäugig zu erklären, halten wir für die Pflicht demokratischer Medien und demokratischer Politik. Über diese Forderungen muss die EU ggf. ohne ultimative Vorbedingungen auf Regierungsebene verhandeln, nicht durch eine demokratisch illegitime Technokratie wie die „Troika“.

9. Deutschland und Griechenland sind historisch auf besondere Weise verbunden. Nicht bloß weil die gesamte klassische deutsche Literatur, Kunst und Philosophie auf altgriechischem Erbe beruht. Gerade auch Neugriechenland hat deutsche „Philhellenen“ seit Hölderlin und dem Schubertdichter Wilhelm Müller (dem „Griechen-Müller“) bis heute inspiriert. Griechische Einwanderer seit den 1950er Jahren bis zur neuen Welle aufgrund der Krise haben den deutschen Wohlstand mitgeschaffen.

Syriza: Proeuropäisch?

Auch ein großer Teil der begeisterten deutschen Griechenlandtouristen kann als Philhellenen gelten. Uns kann es nicht egal sein, wenn die „proeuropäischen“ (in Wahrheit prooligarchischen und bankenfrommen) Kräfte unter dem Diktat aus Brüssel und Berlin die Strände privatisieren und in all-incluse-Meilen verwandeln sowie ganze Inseln verscherbeln, um kurzfristig „Schulden abzubauen“, die langfristig umso mehr steigen. Syriza will diesem Wahnsinn ein Ende machen und erweist sich allein dadurch als wahrhaft proeuropäisch.

Auch können gerade wir deutschen Philhellenen niemals vergessen, was deutsche Besatzungstruppen diesem Volk angetan haben (ohne dass bis heute auch nur die Zwangsanleihe zurückgezahlt wurde). Unsere führenden Politiker und Medienmacher haben es vielleicht vergessen, wir nicht: Der fürchterlich opferreiche Kampf des griechischen Widerstands gegen die Nazibesatzung hat einen absolut substantiellen Beitrag zur Befreiung Europas, und also auch Deutschlands, von Hitler und seinem Dritten Reich geleistet.

10. Deutschlands Kriegsschulden wurden im Londoner Schuldenabkommen von 1953 zum großen Teil erlassen. Die internationale Anerkennung des 2+4-Abkommens statt eines eigentlich vorgesehenen Friedensvertrags hat Deutschland nicht bloß ein zweites Versailles, sondern überhaupt angemessene Entschädigungszahlungen für die Zerstörung des Kontinents erspart. Ein großer Schuldenerlass für Griechenland ist dagegen – um es in der Sprache der „Märkte“ zu sagen – „peanuts“.

Anm.d.Red.: Jürgen Links Appell für eine faire Berichterstattung über demokratische Entscheidungen in Griechenland schließen sich folgende Personen als ErstunterzeichnerInnen an. Wer den Appell auch unterzeichnen möchte, kann sich hier eintragen. Das Foto oben stammt von Nikos Koutoulas und steht unter einer Creative Commons Lizenz (cc by 2.0).

7 Kommentare zu “Neuwahlen in Griechenland: Wie können Medien ihre Berichterstattung fairer gestalten? Zehn Thesen

  1. Prof. Link,

    Enjoyed reading your appeal re media coverage of the situation in Greece.

    It is very interesting to see that the appeal is objectively tackling the Greek reality while at the same time introducing issues that are not “politically correct” in Germany.

    The economic crisis in Greece is not only economic. One can see the crisis in ethical values, way of living, relationships between people.

    It feels like an experiment to test the reaction of people while being under constant media (political, etc) “terrorist attack” when changing the status of their economic state and how to handle it. If it can work in Greece, it might as well work everywhere.

    Media in Germany are trying to “cut-off” the German feeling of support towards Greeks. At the same time, the Greek media (most of them almost bankrupt) are following set propagandas with various targets so as to keep their status at all costs. But the main message is: “do what you are told and we can be intergrated in the EU”.

    To an extreme view one can support the idea that Goebbels vision of Europe (one common currency, one common culture, etc all regulated by one central authority) is now intergrated, while the ideals that the EU came into life are not followed any more. The markets dictate what they want.

    Siemens:
    A century of scandals was an interesting article that I had come across some time ago. Specifically, the article described the scandals the company was involved only in Greece. The one scandal I remember (from the article) took place in 1955 and it regarded OTE (the company that was purchased by Deutsche Telecom from the Greek public).

    For the standing situation of politicians (and the fact that the same people are in charge of the political situation in Greece for the last decades), the example of Merten case can be brought:
    1958-60 were the years of the Max Merten case (an ex Nazi officer that was in charge of Thessaloniki Jewish extermination was -in the late 50’s- a high ranking executive in the Bohn Ministry of Justice and decided to have his vacations in Thessaloniki / many say that it was because of the burried treasures left by the occupation forces), whereby the media covered the case and nothing actually happened. The interesting twist of the story is that when Merten left Greece he named specific politicians as his assistants.
    When one looks at the names of politicians active in that period, he/she will be astonished, for example: Messers: Karamanlis (the elder, uncle of the latest Karamanlis Prime Minister), Mitsotakis (the elder), Papandreou (the father of Andreas Papandreou, grandfather of George Papandreou)

    Democracy and referendum:
    One can see the results of constant propaganda from the following example: The Greek prime minister (Papandreou) was taken off office, because he dared to propose a referendum in Greece, re the economic crisis! (Not even the anarchists or the left wing parties supported the idea)

    Freedom is something that is constantly manipulated from media, schools, universities, the state, police, etc. The market is the one regulating what is the truth and what is not, how should one react and how not to.

    One of the issues in Greece is that Greeks feel their state (government, public authorities, etc) is their enemy that is just trying to support itself on the back of the private sector (and this you can realise by the fact that seldom few public employees have lost their position or their salaries, when one compares it to what the private sector has beared).

    Although I have a feeling of helplessness towards what actions one can take in order to change the above (either through the media or other), I will support this appeal and will send it to some of my friends here in Greece, because I believe it can make some difference.

    Kind regards,

    Irida

  2. “Lügenpresse” entstammt – wie sich unschwer diskursanalytisch zeigen lässt – dem Vokabular der Rechten (früher hieß so was “Vaterlandsverrat”), das würde ich einem versierten Diskurstheoretiker wie Jürgen Link nun wirklich nicht vorwerfen lassen wollen. Im bezug auf die Griechenland-Berichterstattung kann man durchaus von “Kampagnenjournalismus” und “Meinungsmache” sprechen – wie das z.B. die nachdenk-Seiten recht eindrücklich (mit vielen Belegen) getan haben: http://www.nachdenkseiten.de/?p=24445

  3. “Vaterlandsverrat” wäre Jürgen Link schon vorzuwerfen, bzw. das ist ja gerade das, was seinen Beitrag so wichtig macht: in bester Tradition kritischen Denkens denunziert er das Land, aus dem er stammt, weil es das Gebot der Stunde ist. Wir erfahren hierzulande viel zu wenig, wie sehr Deutschland als Verursacher und Hauptprofiteur dieser Krise international angesehen wird, in dieser Beziehung läuft die Zusammenarbeit zwischen Kanzleramt und den “Mainstreammedien” wie geschmiert.

  4. Der Vorwurf, den ich nicht gelten lassen wollte, bezog sich auf “Lügenpresse” – also Links Appell zu vergleichen mit der paranoiden Pegida-Rhetorik oder der Mahnwache/Wahnmache-AktivistInnen, für die ausgerechnet Putins Propaganda-Sender “Russia Today” die einzige glaubwürdige Quelle der Berichterstattung zu sein scheint (sehr schöner Beitrag aus der heute show, wie sie einen ihrer Leute als fake Russen zu einer Pegida-Demo schicken). “Mediopolitische Klasse” ist eine gelungene Formulierung, die auf die wechselseitige Verflechtung hinweist – z.B. Steffen Seibert, der vom Gesicht der heute sendung zum Regierungssprecher aufgestiegen ist.

  5. “ie menschlichen Wählerinnen und Wähler dagegen wurden durch 4 Jahre aus Berlin und Brüssel diktierte Brüningpolitik regelrecht verelendet. Deutsche Kinder lernen in der Schule, dass Hitler 1933 an die Macht kam, weil das deutsche Volk durch die Brüningpolitik verelendet war”

    Operation Vollmeise. Es ist genau das, was als struktureller Antisemitismus schon immer in der Linken verbreitet war: Der Gläubiger ist schuld, zuvorderst der Gläubiger, der einspringt. Und um das ganze noch absurder zu machen, ist der Gläubiger schuld, weil er sein Risiko zu begrenzen sucht, wenn er einem Lande leiht, das die Kapitalmärkte bereits auf Junk gesetzt haben und dem die Märkte nur zu Todeszinsen leihen. Er ist schuld, weil er nicht noch viel mehr leiht, obwohl man seine Vereinbarungen enttäuscht, womit der Empfänger eine fremdfinanzierte Wachstumspolitik machen könne.

    Am nächsten Tag ist er dann wieder schuld, weil er überhaupt leiht, weil er eigene Schäfchen ins Trockene bringen muss, und in einem hold up gefangen. Der Gläubiger ist immer der Böse. Auf der anderen Seite stehen brave Demokraten.

    “Der fürchterlich opferreiche Kampf des griechischen Widerstands gegen die Nazibesatzung hat einen absolut substantiellen Beitrag zur Befreiung Europas, und also auch Deutschlands, von Hitler und seinem Dritten Reich geleistet.”

    Weniger bekannt ist, dass die griechische Besatzung von Griechen durchgeführt wurde, und gleich im Anschluss an den 2. Weltkrieg der griechische Bürgerkrieg sich fortsetzte. Man mag sich historisch erinnern, dass die Eroberung Griechenlands nur eine Intervention des 3. Reiches auf Seiten Italiens war, das mit seinem Krieg gegen das Land nicht voran kam.

    “Deutschlands Kriegsschulden wurden im Londoner Schuldenabkommen von 1953 zum großen Teil erlassen.”

    Deutschland meint das Großdeutsche Reich, dessen Nachfolgerstaaten wenigstens Deutschland und Österreich sind, ansonsten aber nicht mehr völkerrechtliches subjekt ist. Kriegschulden sind im Gegensatz zu Staatsschulden rein virtuell. Sie entstehen dadurch, dass einem besiegten Staat finanzielle Auflagen gemacht werden, die er vertraglich akzeptieren muss.

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