Gott im Klassenzimmer? Warum in einer Demokratie traditioneller Religions- durch Ethikunterricht ersetzt werden sollte

Der Erzengel Gabriel, Detail des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald. Lizenz: Public Domain
Der Erzengel Gabriel, Detail des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald. Lizenz: Public Domain

Statt der negativen Schubladeneffekte des getrennten Religionsunterrichts sollte es endlich einen verpflichtenden Ethikunterricht geben. Denn Religion kann Ethik nicht ersetzen, argumentieren Niko Alm und Helmut Ortner.

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In Deutschland und Österreich herrscht Glaubensfreiheit. Ob Christ*in oder Muslim*in, Buddhist*in oder Jude oder Jüdin, Atheist*in oder Agnostiker*in – all das darf keine Rolle dabei spielen, ob eine Person als Bürger*in willkommen ist. Das Staatsbürger*in-Ideal sieht so aus: Wir sollten die abendländische Trennungsgeschichte von Republik und Religion akzeptieren, die Werte der Aufklärung respektieren und die Gesetze des liberalen, demokratischen Staates achten. Das reicht. Wer Beamter oder Beamtin, Staatsanwalt oder Staatsanwältin, Richter oder Richter*in werden möchte, schwört auf die Verfassung, nicht auf die Bibel oder den Koran.

Österreich und Deutschland sind Verfassungs- und keine Gottes-Staaten – und das, sagt der Rechtsphilosoph und Staatsrechtler Horst Dreier, sei die Voraussetzung für Religionsfreiheit. Alle Bürger*innen dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein. Freilich: Wenn Verfassungsrechtler*innen vom säkularen Staat sprechen, dann meinen sie keineswegs einen areligiösen, laizistischen Staat (wie etwa in Frankreich), sondern einen, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit garantiert und religiös-weltanschauliche Neutralität praktiziert. Entscheidend sind nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue.

Dass unsere heutige Demokratie auf einem Menschenbild gründet, das viel mit dem Christentum zu tun hat, will niemand infrage stellen. Aber die Geschichte zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht unbedingt Trägerinnen der Demokratie waren – und sind. Was heute Staat und Staatsbürger*innen ausmacht, ist gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden. Die Aushandlung der Regeln für das Zusammenleben haben die Gesellschaft und die politische Gewaltenteilung von der Kirche zurückerobert. Das wollen wir festhalten.

Vorbei sind die Zeiten, als die beiden großen christlichen Konfessionen über Jahrhunderte das gesellschaftliche und politische Leben beherrschten und Religion aufgrund der kulturellen Harmonie eine integrierende und stabilisierende Größe war, die nicht immer auf freiwillige Teilnahme ausgerichtet war. Die großen Konfessionen verlieren in den letzten Jahrzehnten stetig Mitglieder – und an Vertrauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch 90 Prozent der Menschen in Österreich und Deutschland katholisch oder evangelisch. Heute liegt der Anteil der christlichen Konfessionen in Österreich in Summe bei nicht viel mehr als der Hälfte der Bevölkerung, in Deutschland sind die beiden ehemaligen Volkskirchen bereits in der Minderheit.

Wir sind heute eine pluralistische, multi-ethnische, multi-(nicht)religiöse Gesellschaft. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen. Dennoch genießen die beiden großen christlichen Kirchen, der Islam, das Judentum, der Buddhismus und andere Religionsgesellschaften nach wie vor eine Vielzahl von Privilegien, die eklatant gegen das staatliche Neutralitätsgebot verstoßen. Die Trennung von Kirche und Staat findet nicht statt, und es muss die Frage erlaubt sein, ob die eingangs erwähnte Glaubensfreiheit wirklich herrscht, wenn sie für die einen erweitert und für die anderen eingeschränkt wird.

Weltanschaulich neutrale Verfassungen

Nein, es geht nicht um die „Austreibung Gottes“ aus der Welt. Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der der beiden großen christlichen Konfessionen – entscheidend eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsfelder. Und der Gottesbezug in der Präambel des deutschen Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Das Grundgesetz muss gottlos sein. Österreich ist zumindest in diesem Punkt seinem großen Nachbarn einen symbolischen Schritt voraus.

Wir sind nicht gegen Religionsausübung. Für uns ist Religion Privatsache. Uns geht es darum, einen konsequent weltanschaulich neutralen Staat einzufordern, so wie ihn die Verfassung sowohl in Österreich als auch in Deutschland vorsieht. Dies betrifft nicht nur die großen beiden Kirchen, sondern auch ein riesiges Geflecht an Religionsgemeinschaften, die ihnen nacheifern und ebenso staatliche Fördermittel, Steuergeschenke und eigene Gesetze anstreben. Die politischen Entscheidungsträger und Verantwortlichen wollen auch ihnen diese Sonderrechte gewähren, weil sie wissen: Die verfassungsrechtlichen und teils aberwitzigen Privilegien der Kirchen lassen sich nur noch gegen die Säkularisierung abschirmen, wenn anderen religiösen Gemeinschaften die gleichen Sonderrechte zugesprochen werden. Ein gegenseitiges Sich-die-Stange-Halten, das in den letzten Jahren schon für einige ungewöhnliche Allianzen gesorgt hat. Und schließlich: Dass die Kirchen in den Schulen auf Kosten der Steuerzahler*innen eigene Unterrichtsfächer bekommen, deren Lehrer*innen sie selbst ausbilden und deren Inhalte sie so gestalten dürfen, dass sie dem eigentlichen Auftrag von Bildung, nämlich Wissen statt Glauben zu vermitteln, widersprechen – auch darum geht es.

So wird es auf absehbare Zeit beim bekenntnisorientierten Religionsunterricht bleiben, ordentlich separiert nach Konfessionen, im Versuch, die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates durch die Gleichbehandlung von Religionen zu gewährleisten. Dass es auch nicht-religiöse Weltanschauungen gibt, wird geflissentlich übersehen.

Verpflichtender Religionsunterricht

Wie säkular soll, ja muss der Alltag in unseren Schulen sein? Religionsunterricht gibt es flächendeckend in staatlichen Schulen, zunehmend auch für muslimische Schüler*innen, unterrichtet von eigens dazu ausgebildeten islamischen Religionspädagog*innen. Während die Regelung in Deutschland länderspezifisch ausgestaltet ist, hat in Österreich jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft ein Recht auf die Durchführung eines verpflichtenden konfessionell gebundenen Religionsunterrichts. In den Kultusministerien sieht man darin ein zeitgemäßes Spiegelbild unserer multi-religiösen Gesellschaft. Der Psychologe Ahmad Mansour, Mitbegründer der „Initiative Säkularer Islam“, lehnt das ab. Er fordert: kein Religionsunterricht, sondern Religionskunde. Dort könnten Kinder und Jugendliche erfahren, was es mit den Religionen auf sich hat, woher sie kommen, wie sie entstanden sind, wie sie unsere Gesellschaft, unseren Alltag geprägt haben und noch immer prägen. Er plädiert stattdessen für einen nicht bekenntnisorientierten Unterricht für alle Konfessionen gemeinsam. Es würde Muslim*innen durchaus guttun, mehr über das Christentum und Judentum zu erfahren „und zwar nicht in den Hinterhofmoscheen, sondern in einer staatlichen Schule von einem Religionslehrer, der gut ausgebildet ist, der ein Demokrat ist, der Aufklärung verstanden hat“, so dessen Kritik.

Man möchte Herrn Mansour zustimmen – und rufen: Wie wäre es mit Islamkunde für Christ*innen, um eine Demokratie auf Augenhöhe zu ermöglichen, statt so zu tun, als sei das Christentum die Leitreligion „unserer“ Demokratie? Besser noch: Wie wäre es, vielleicht ganz auf Religionsunterricht an staatlichen Schulen zu verzichten? Stattdessen eine Einführung in den evolutionären Humanismus, Ethik, politische Bildung unterrichtet von Lehrerinnen und Lehrern, die sich der säkularen Aufklärung widmen? Und das alles nicht unter einem (virtuellen) Kruzifix an der Wand des Klassenzimmers. Religionskunde als Teil eines Schulfachs Ethik statt Religionsunterricht.

Der Staat will Religion kontrollieren

Der Gesetzgeber will den konfessionellen Religionsunterricht aber lieber kontrollieren und in der Schule belassen, damit er nicht in den vielzitierten Hinterhöfen stattfindet. Übersetzt bedeutet dieser Ansatz: Man weiß genau, dass der Religionsunterricht gefährlich sein kann. Im Zuge der Terroranschläge und Massaker durch die Hamas in Israel Anfang Oktober 2023 sorgte sich beispielsweise die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) um die „sensible und verantwortungsbewusste“ Behandlung der Ereignisse in den Schulen – wahrscheinlich nicht unbegründet. In der IGGÖ versucht die Republik Österreich mit dem Islamgesetz von 2015 die vielgestaltige Religion in eine monolithische Organisationsstruktur zu pressen, um sie über einen singulären Kontaktpunkt steuern zu können. Das kann naturgemäß nicht gelingen. Der islamische Religionsunterricht geht mit schlechtem Beispiel voran. Aber er unterscheidet sich in seiner prinzipiellen Problematik grundlegend nicht vom Unterricht der anderen Religionsgesellschaften.

Religiöse Erziehung – was es eigentlich ist – widerspricht dem humanistischen Bildungsideal, sie ist unwissenschaftlich und ein Einfallstor für religiöse und auch politische Propaganda. Aber abstellen will man sie nicht. Die Angst vor dem Instrument der nicht-angreifbaren Religionsfreiheit geht so weit, dass der Religionsunterricht weiter unter der Kuratel der Religionsgemeinschaften in der Schule belassen wird.

Der Schaden, den er dabei in Form religiöser Indoktrinierung anrichtet, ist ein Problem für sich. Noch gravierender ist seine soziale Wirkung in der Schulgemeinschaft. Kinder, die in Österreich und Deutschland erst mit 14 Jahren religionsmündig werden, werden nach dem Religionsbekenntnis ihrer Eltern gruppiert und lernen vom ersten Schuljahr an, dass es kein für alle gleichermaßen gültiges Wertefundament gibt, sondern sich ausschließende exklusive Wahrheiten und Regeln des Zusammenlebens.

Nach dem Philosophen und kulturkritischen Publizisten Michael Schmidt-Salomon entspricht dies „eher dem kollektivistischen Denken einer geschlossenen als dem individualistischen Denken einer offenen Gesellschaft. Aus einer freiheitlichen, individuumszentrierten Perspektive ist die konfessionelle Aufspaltung der Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Bekenntnisunterrichte nicht zu akzeptieren. Denn sie führt nicht bloß zu einer weltanschaulichen Perspektivverengung, sondern auch zu einer Festigung von Gruppenidentitäten, die das friedliche Zusammenleben der Menschen gefährden.“

Ethikunterricht integriert

Für die negativen Schubladisierungseffekte des trennenden Religionsunterrichts gibt es längst eine naheliegende und einfache Lösung: einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle Schüler*innen, in dem mit allen Kindern die gleichen Fragestellungen des Zusammenlebens erörtert werden, ohne religiös motivierte Vorgaben zu machen, wie sie leben sollen, was gut, böse, sündhaft, koscher oder haram ist, und ihnen zu vermitteln, dass Religionskulturen sich nicht nebeneinander wie in einem Setzkasten anordnen, sondern alle Individuen gemeinsam Gesellschaft ausmachen. Doch dieses Konzept eines verbindlichen Ethikunterrichts wird in Österreich schon lange Zeit blockiert. „Politisch verschleppt – pädagogisch überfällig!“, lautet der Untertitel des Buches „Der Ethikunterricht in Österreich“ von Anton Bucher. Der aus der Schweiz stammende Theologieprofessor und Erziehungswissenschaftler hatte den schon 1997 begonnenen und über zwanzig Jahre laufenden Schulversuch Ethikunterricht im Auftrag des Unterrichtsministeriums evaluiert und kam zu der klaren Empfehlung, den Ethikunterricht als Pflichtfach in den Regelunterricht aufzunehmen. Der politische Widerstand war enorm und von der katholischen Kirche in eine Richtung gesponnen: Wenn schon Ethikunterricht, dann nur als Ersatzfach für jene Schüler, die sich vom verpflichtenden katholischen Religionsunterricht abmelden, am besten für alle anderen auch gleich und überhaupt durchgeführt von Religionslehrern mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation. Und so wurde dieses Konzept auch in die Praxis umgesetzt. Der Ethikunterricht, der eigentlich verpflichtend besucht werden sollte, kann durch den Besuch eines konfessionellen Religionsunterrichts abgewählt werden. Aber Religion kann niemals ein Ersatz für Ethik sein.

Ob moslemische Gottes-Fanatiker*innen, christliche Fundamentalist*innen, ob Hardliner*innen des Vatikans oder alttestamentarische Rabbiner*innen – sie alle müssen zur Kenntnis nehmen: Wir leben in einem säkularen Verfassungsstaat, alle Bürger*innen dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber ist in einer modernen Grundrechtsdemokratie gottlos. Der Glaube kann Gläubige im Sinne des Wortes glückselig machen. Er kann für Menschen etwas Wunderbares sein: als Privatsache. Für unser Gemeinwesen aber gilt: Bürger*innen kommen vor den Gläubigen! Das gilt auch für das Klassenzimmer.

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