Dekolonisierung des (filmischen) Sehens: Wie Russlands Invasion der Ukraine im Kino reflektiert wird

Die spezifische Medialität des Krieges im 21. Jahrhundert drückt sich in der militärischen Aggression des Kremls gegen die Ukraine nicht zuletzt in kolonial-imperialen Sehgewohnheiten aus. Der koloniale Blick des Westens auf “den Osten” und der koloniale Blick Russlands auf die ehemaligen Sowjetrepubliken müssen gleichermaßen hinterfragt und dekonstruiert werden. Das Kino bietet dafür einen spannungsreichen Raum, wie die Slawistin Elisabeth Bauer in ihrem zweiteiligen Beitrag argumentiert. Die BG veröffentlicht heute den ersten Teil.

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Was bedeutet es, das Kino zu dekolonisieren? Auf der diesjährigen Ausgabe des Filmfestivals goEast im hessischen Wiesbaden – wo erst in den vergangenen Jahren wichtige neue Mahnmale an die Deportation hunderter Juden und Jüdinnen unter dem Leitgedanken “Nie wieder” eröffnet worden sind – wurde nicht nur gefragt, wie in Zeiten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine der Kino- und Kulturbetrieb mit überholten kolonialen Sichtweisen umzugehen und aufzuräumen hat.

Die Festivalwoche setzte sich außerdem zum Ziel, selbst schon den notwendigen Wandel zu performen: Die historische, mit dem “Zeitenwende”-Begriff überschriebene Zäsur wurde zum Anlass einer umfassenden (selbst-)kritischen Revision (post-) sowjetischer bzw. russländisch-imperialer (Film-)Perspektiven genommen – in Anlehnung an jene Diskurs-anregende Fragestellung, die von der Mitbegründerin der postkolonialen Theorie, Gayatri Chakravorty Spivak, oder der Slawistin Nancy Condee, diesjährige Teilnehmerin des goEast- Symposiums, in einem programmatischen Konferenztext bereits 2006 gestellt wurde: “Are We Postcolonial?” Dass die “Dekolonisierung der (post)sowjetischen Leinwand” – so der Titel des Symposiums – ein komplexer, weil vielschichtiger (Lern-)Prozess ist, der auf kultureller, ökonomischer wie politischer Ebene vollzogen und von “subalternen”, etwa ukrainischen Stimmen angeführt werden muss, wurde im Zuge der Festivalwoche deutlich.

"Atlantis" (2019)
“Atlantis” (2019)

Dekolonisierung – jenes Wort, das angesichts eines laufenden neoimperialistischen Angriffskrieges und einer damit herausgeforderten globalen Machtordnung an Tragweite gewinnt – erweckt zu Unrecht den Anschein, einen abstrakten Prozess zu beschreiben, der ausschließlich in hermeneutisch abgeschlossenen Institutionen theoretisiert, über den in Feuilletons philosophiert wird. Das Filmfestival goEast, das seit seiner Gründung 2001 für eine Sichtbarmachung blinder Flecken auf der mittel- und osteuropäischen kinematographischen Landkarte steht, entschied sich nach der vollumfassenden Invasion der Ukraine, die eigene Filmauswahl im Sinne des postkolonialen Diskurses (noch) stärker zu hinterfragen – sie von russisch-sowjetischer hegemonialer Dominanz zu befreien, sie zu dekolonisieren. Was bedeutete es konkret, das Kino – (Bewegt-)Bild, Sprache, Erinnerung – zu dekolonisieren, zu entmythologisieren? Dieser Text versucht Antworten auf diese Frage zu skizzieren.

Kulturelle Sichtbarmachung: “Can the Subaltern Speak?”

“Filme sind ein komplexes Medium für die Sichtbarmachung und Reflexion von Gewalt und Unterdrückung, von Kolonialisierung und Despotie”, schreibt die Kuratorin des parallel zum Filmprogramm stattfindenden Symposiums Barbara Wurm im goEast-Festivalkatalog. Das Kino Mittel- und Osteuropas bezeichnet die Filmwissenschaftlerin, Slawistin und neue Leiterin der Berlinale-Sektion Forum, als “Seismograph für die tektonischen Verschiebungen auf ideologischem Terrain”, die sich aktuell vor unser aller Augen abspielen.

“Dekolonisierung muss bei uns selbst anfangen”, lautet der Grundton jener Debatte auf dem Festivalsymposium, die eben nicht abstrakt geführt wird, sondern auf Augenhöhe mit den Besuchenden verläuft. Denn historisch waren es immer “die Mächtigen, die gesprochen haben oder über die gesprochen wurde.” (Mit diesen Worten wendendete sich Spivak 2005 auf der Konferenz “Are We Postcolonial? Post-Soviet Space” an US-amerikanische Slawistik-Dozierende.) Dieses Verhältnis, so der praktizierte Versuch, soll – zumindest in diesem geschützten, transnational gedachten Diskursraum – aufgehoben werden.

Es ist eine Revision in progress: Nicht nur die in Filmen widergespiegelten und modellierten Machtbeziehungen, Mythen und Geschichte(n) müssen überdacht werden, sondern genauso unser eigener Sprachgebrauch, gesellschaftlich übermittelte Sehgewohnheiten sowie strukturelle Produktionsbedingungen. Jenen vielschichtigen (Lern-) Prozess hat Medientheoretikerin und Filmemacherin Hito Steyerl als “kulturelle Sichtbarmachung” beschrieben – die jedoch Gefahr läuft, eine “Vielzahl konsumierbarer Differenzen” zu produzieren. Die Forderung nach Gleichheit verhalle im (westlichen) Kapitalismus zu einer “Hegemonie, die Diversität zur imperialen Machttechnik verfeinert hat”, schreibt Steyerl in ihrem Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe von Spivaks “Can the Subaltern Speak?” (2008). Es gilt, nicht jenem Reflex kultureller (Selbst-) Repräsentation zu verfallen – einem unbewussten oder “strategischen Essenzialismus” – und das “Für-sich-selbst-sprechen” der Subalternen nicht für sich zu beanspruchen.

Falsches Mapping: “Ukrainexploitation”

“Die Ukraine war nicht mapped – eine terra incognita“, sagt Ilia Gladshtein, Filmproduzent und Betreiber des Kyjiwer Programmkinos KINO42. Für seinen Kurzvortrag hat er – in Anlehnung an eine diskrete, aber folgenschwere semantische Ausbeutung der Ukraine – den Neologismus “Ukrainexploitation” eingeführt: Er spricht über die Gefahr stereotyper Lesarten und semantischer (Fremd-) Zuschreibungen, wie sie in vielen ausländischen Dokumentationen über die Ukraine wiedergegeben würden. Dabei werden auch ungenaue Ukrainebilder oder: Karten hervorgebracht.

“Diese Vorurteile über die Ukraine sind ein Problem: Es ist wichtig zu verstehen, was die Ukraine wirklich ist”, so Gladshtein. Ukrainer*innen sollten ihre eigene Ukrainekarte zeichnen dürfen: Es gibt eine eigene Dokumentationsfilmindustrie, die eigene Filme produzieren bzw. in Filmproduktionen über die Ukraine involviert werden kann. Der Filmexperte macht auf die strukturelle Exploitation der Ukraine als “unbekanntes Terrain” etwa im Produktionsprozess aufmerksam. Dokumentationen sollten nicht – wie in kolonialer Optik – zu oberflächlichen “Entdeckungsreisen” und Karten nicht zum machtumkämpften Markt-Gold verkommen. Schon zu lange sei dieser “semantische Krieg” des fremdbestimmten Ukraine-Mappings geführt worden.

Neben seiner realen, physischen Dimension, wird auch Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einem wesentlich Anteil auf Ebene der Zeichen und Symbole ausgetragen. “(W)enn die Simulatoren von heute versuchen, das Reale, das gesamte Reale, mit ihren Simulationsmodellen zur Deckung zu bringen, so handeln sie nicht weniger imperialistisch als die Kartographen von damals”, schrieb Jean Baudrillard in seiner “Agonie des Realen” (Merve/Berlin 1978) – und deutete damit auf eine Strategie, die sich in der Ära des Hyperrealen sowohl für kapitalistische Systeme, als auch für die putinistische hypokritische Logik der semantischen Mehrfachverkehrung als charakteristisch erweisen sollte.

Zeugenschaft: Licht in totaler Dunkelheit

“Geht es darum, etwas Tiefes über die Ukraine zu erzählen oder ist es nur Ausbeutung?”, fragt die Filmemacherin Alisa Kovalenko. In ihrem Featurefilm “We Will Not fade Away” (2023) hat Kovalenko zwei Jahre Jugendliche im Donbas begleitet – mit dem Ziel, mit Stereotypen über den Donbas aufzuräumen und “Licht in die totale Dunkelheit zu bringen”. Doch dann brach die Realität – gewaltsamer als vorstellbar – in die Filmgeschichte ein, der umfassende Krieg veränderte radikal die Perspektive(n). Kovalenko, 1987 im südukrainischen Saporischschja geboren, versuchte, ihre Protagonist*innen mitsamt ihrer Familien zu evakuieren – sie wollte wirklich handeln und in die Realität eingreifen. Zu zwei Jugendlichen brach der Kontakt ab: Sie blieben in der russischen Okkupation zurück.

"We Will Not Fade Away" (2023)
“We Will Not Fade Away” (2023)

“Wie hätte ich mich weiter hinter der Kamera verstecken können? Ich merkte, wie dieses emotionale Dilemma größer wurde.” Kovalenko entschied sich, der Freiwilligen-Einheit der Ukrainischen Armee beizutreten: Die Kamera nahm sie mit, um eine persönliche Erinnerung für ihren Sohn festzuhalten, falls sie getötet werden sollte, sagt sie bei einem Publikumsscreening im Caligari-Kino. Sie mache Filme, um Erinnerungen zu bewahren.

Nun fügt Kovalenko das Film- und Tonmaterial aus drei Monaten Fronterfahrung zu einem neuen Film über die Wirklichkeit des Krieges zusammen. Auch in dieser Arbeit möchte sie mit Klischees brechen, ein wahrheitsgetreues Bild des Krieges in ihrem Land zeigen: Das Leben an Linie Null bestehe zu einem Großteil aus vollkommen unheroischem Warten in Schützengräben. Für sie sei wichtig, an die existenziellen Gefühle in der Kampfzone zu erinnern. “Beim Filmemachen geht es nicht nur um Kunst – es ist auch Teil des Kampfes.”

Besonders unter den Vorzeichen der virtuellen Dimension des Russland-Ukraine-Krieges als “Social Media-” oder “TikTok-Krieg”, der live verfolgbar ist und in dem digitales Bildmaterial als existenzielles Mittel herhält, Kriegsverbrechen transmedial, multiperspektivisch und breitgesellschaftlich zu bezeugen, schreibt sich der ukrainische (Dokumentations-) Film ein in die Entwicklungsgeschichte der modernen Bildtechnik, für die die großen Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielten.

Im Fokus: Verschiedene Realitäten des Krieges

Die dekoloniale Optik fordert nicht nur, den (Kamera-) Blick auf nicht selten mehrfach verdunkelte Leerstellen in Sujets, in (Film-) Archiven oder in der eigenen Wahrnehmung zu richten, sondern kann auch bedeuten, sich der Kriegsgegenwart durch (nicht-) fiktionale Filmrealitäten anzunähern. Als Beispiel dafür, wie ein Filmbild von der Realität historisch überholt und an Gewaltausmaß übertroffen werden kann, steht der – ukrainische – Eröffnungsfilm: “Atlantis” von Valentyn Vassjanovych.

Ein düsterer, in der nahen Zukunft angelegter, postapokalyptischer “Sci-Fi”-Streifen aus dem Jahre 2019, ist “Atlantis” zu einem fiktionalen Filmdokument avanciert, das zeigt, dass der aktuelle Krieg bereits seit 2014 geführt wird. Er blickt in eine traumatisierte Ukraine im Jahre 2025, in der der Russland-Ukraine-Krieg eine weite vergiftete Kriegszone hinterlassen hat. Das pessimistische Bild einer posttraumatischen Gesellschaft, in der ehemalige Soldaten am kapitalistischen “Normalzustand” scheitern und Freiwillige mumifizierte Leichen von Zivilist*innen, ukrainischen und russischen Soldaten aus der verminten Erde ziehen, wirkt aus heutiger Perspektive einerseits auf makabere Art prophetisch, anderseits führt es die historische Dimension der totalen Invasion vor Augen: Vassjanovychs Vision wurde von dem katastrophalen Lauf der Gegenwartsgeschichte und Russlands genozidaler Kriegsführung übertroffen.

“Es ist wie Archäologie – als würdest du deine eigene Geschichte ausgraben”, sagt Katja, studierte Archäologin, jetzt Totengräberin, über die Arbeit ihrer Freiwilligenorganisation. “Jetzt kommen wir zurück, um jene zu holen, die zurückgeblieben sind; um uns zu verabschieden und ihre Geschichte für sie zu beenden.” Damit führt “Atlantis” einerseits die Bergungsprozesse von heute und morgen in deokkupierten Gebieten vor Augen und zeigt andererseits – auf materieller Ebene – was Dekolonisierung der (eigenen) Geschichte tragischerweise physio(log)isch bedeuten kann.

Anmerkung der Redaktion: Der zweite Teil dieses Beitrags ist hier verfügbar.

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