Ausbreitung der Kontaktzone: Lockdown, Lockerungen und die Suche nach dem ‘New Normal’

Drei Monate COVID-19-Pandemie haben so einige gesellschaftliche Narrative durcheinandergebracht, zugespitzt oder zur Disposition gestellt. Dies zeichnet der Schriftsteller und Berliner Gazette-Autor Lars Popp im vierten und vorerst letzten Teil seiner “Chronik der Coronatage” nach. Was wird bleiben von der Krisen-Erzählung: Nur die Rückkehr ins Weiter-So unter dem Mantel des “New Normal” – oder auch der Mut, neue Wege zu gehen?

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Kontaktarbeit: Freitag, 01.05.2020

Corona und wir – die Beziehung tritt in die Phase, wo Zauber und Glanz der ersten wild-aufregenden Tage mit der neuen Liebe zunehmender Ernüchterung und Gewöhnung, Alltag eben weicht. Irgendwie war‘s, als hätten wir katastrophengeil das Ganze auch ein bisschen begrüßt, um uns selbst wieder zu spüren, ohne schlechtes Gewissen ausbrechen zu können aus den Strukturen, wieder hinein ins riskante Abenteuer Leben. Luxusproblem.

Die permanenten Ungewissheiten, Unwägbarkeiten aber zermürben. Unplanbarkeit sind wir nicht mehr gewohnt. Dabei war dies einmal die durchschnittliche Erfahrung früherer Generationen. Die haben wir uns mit unseren Gadgets abtrainiert. Umso ironischer, dass es nun vor allem diverses Apps gegen Corona richten sollen. Der Technikglaube sucht noch immer seinen Nietzsche.

Statt jetzt mal wirklich etwas Luft aus dem Ballon zu lassen, ständig noch weiter hineinpusten. Immer irgendwas produzieren besprechen texten informieren streamen, wie zum Beweis, dass man immer noch da ist, vorkommt, wichtig ist, weiter macht. Wieder mit sich selber allein sein zu können, sich selber aushalten, Stille und Stillstand genießen, Phantasien nachhängen, Gedanken schweifen lassen, gefährliche Ideen ausbrüten – das könnte man jetzt wieder lernen. Stattdessen kommt man entweder vor lauter ToDo‘s schlicht nicht dazu. Oder man meint, sich das bisschen Auszeit gerade jetzt am allerwenigsten erlauben zu können. Also noch mehr hamsterradeln und sich überproduzieren.

Das Virus arbeitet ohne Pause weiter – in uns.

CORONAPO: Montag, 11.05.2020

Ich hatte das ja schon für den ersten Mai befürchtet, nun ist es letzten Samstag passiert. Ausgerechnet am “Tag der Befreiung”, ausgerechnet nach den doch überraschend weitgehenden Lockerungsmaßnahmen, die Mitte der Woche beschlossen worden waren, bildet sich nun in mehren Städten eine Art Querfront gegen die merkelsche “Corona-Diktatur”.

Befeuert wird, was Medien bereits als “Bewegung” schon wieder teilweise unnötig größerstilisieren, nicht nur von den üblichen Populismen und regelmäßig wiederkehrenden Borispalmerismen der letzten Wochen, sondern auch von hysterisierten Agamben-Leser*innen, die sich da noch einmal als Widerstandskämpfer*innen in Szene setzen: Was für ein Theater!

Es ist eine merkwürdige Moral, die ein “Recht auf Infektion” einfordert, als wäre das dasselbe, wie Alkohol oder Rauchen oder 200 km/h auf der Autobahn. Ja, wir pflegen einerseits einen zunehmenden Gesundheitsfetisch, und ja, wir nehmen zugleich 3000 Verkehrstote im Jahr ohne Schulterzucken hin. Wir regulieren den Drogenkonsum, lassen zugleich aber die großen Feinstaubproduzenten gewähren. Und der vernetzte Kühlschrank, der registriert, dass ich mich allzu ungesund ernähre und dies postwendend meiner Krankenkasse meldet, woraufhin diese wegen meiner unsozial riskanten Lebensweise die Beiträge erhöht, ist leider auch kein total unrealistisches Zukunftsszenario. Es ist eine Bigotterie.

Die potentiellen Corona-Toten gegen die potentiellen Wirtschaftstoten aufwiegen zu wollen, ist indes auch keine der Sache angemessene Grundrechenart. Wenn diese Krise eines eindrücklich wieder lehrt, dann, dass es für so was keine einfachen Antworten gibt. Nur die dilemmatische Wahl zwischen Pest oder Corona. Gerade Theaterleute sollten das eigentlich wissen, es steht in ihren griechischen Klassikern.

Was sind das für Querfront-Linke, die das Soziale plötzlich ihrem persönlichen Liberalismus zu opfern bereit sind? Mit einer ähnlichen Idee von Freiheit versucht ja auch ein rechtskonservativer Teil der Amerikaner*innen ihr “Recht auf Selbstverteidigung” zu legitimieren. Mit den bekannten Folgen. Freiheit ist aber immer auch die Freiheit der trotzdem nicht kollateral sterben wollenden anderen.

Nicht falsch verstehen, eine APO 2.0 wird dringend gebraucht. Das teils wenig transparente, irritierend einmütige, immer mit einer gewissen Verspätung erst sich erklärende Handeln der Entscheidungsträger*innen in den ersten Corona-Tagen; die Auflösungen von Demonstrationen, auch wenn sie sich um Abstandsregeln bemühten …

Dass aber letzten Samstag u.a. ausgerechnet der thüringische Eintagsministerpräsident Kemmerich mitmarschierte und dann wieder so tat, als hätte er sich nur verlaufen …

Den Anteil, den die Spanische Grippe an den Wahlerfolgen der Nazis gehabt haben könnte, hat übrigens ein Ökonom der Federal Reserve Bank of New York jüngst untersucht. Auch hier ist die Antwort nicht eindeutig. Aber die Frage schon bedenkenswert.

Vor allem aber sollte eine APO 2.0 sich gegen die konkreten “Verschwörungen” richten: Gegen die Lobby-Privilegien für den Fußball, obwohl sich doch überraschenderweise eine Mehrheit gegen die Wiederaufnahme von Bundesliga-Geisterspielen ausgesprochen hat. Gegen die Versuche der Autoindustrie, sich ihr Weiter-so erneut alimentieren zu lassen. Gegen Konzerne wie Adidas und Co, die trotz hoher Gewinnmargen bereits zwei Wochen nach Beginn der Krise Mieten aussetzen wollten. Und vor allem natürlich für eine postwachstumsökonomische Klimapolitik.

Noch wollen die Mitläufer*innen von “Widerstand 2020” nur provozieren, ihr Empör-Ego pflegen, ihren Frust in Lust verwandeln. Was aber, wenn eine jetzt wieder steigende Reproduktionsrate Rücknahmen der Lockerungen erfordert und den zunehmenden Quartantänekoller-Dachschaden in reellen Sachschaden, danach Gewalt gegen Menschen verwandelt? Dann hätten sich diesmal unverhofft auch Leute jenseits der AfD mitschuldig gemacht.

Sich nähernde Einschläge: Donnerstag, 14.05.2020

Die Hilferufe aus Moria, der Schande Europas, verhallen nach wie vor unbeantwortet.

Episoden der VIRUS WARS: Mittwoch, 10.06.2020

Wovon wäre noch alles zu erzählen? Von der historischen Merkel-Macron-Allianz zum Wiederaufbau Europas, für den D plötzlich einen Teil seiner Austeritätspolitik aufgab? Von all den weiteren Riesenpaketen, die die GroKo zur Konjunkturbelebung geschnürt hat?

Erst einmal scheint die erste Staffel der Chronik der Coronatage in etwa ihr Finale gefunden zu haben.

Was für eine Story war dies nun bislang? Weird Fiction? Katastrophenfilm? Whodunit-Krimi? Politthriller? Die Genres purzeln munter durcheinander. Immerhin gab es eine lehrbuchmäßig steigende und fallende Handlung: Während aber zunächst alles danach aussah, als würden wir unaufhaltsam auf eine Riesen-Tragödie (wie es zumindest der Volksmund so nennt) zumarschieren, hat das Superheldentrio Ziviler Gehorsam, Super-Gesundheitssystem und Globalisierungsgewinner uns doch noch einmal – hier! – den Arsch gerettet.

Dass die Welt zumindest zu Beginn der Pandemie sich im Pathos einer gemeinsamen großen Erzählung wieder-vereint wähnte, sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Corona-Story eine komplett andere ist, wenn sie aus der Sicht marginalisierter Länder oder Milieus erzählt wird. Nicht nur im Westen nichts Neues also, sondern weitestgehend das hinlänglich Bekannte, nur unter nochmals verschärften Bedingungen? Blickt man derzeit auf die Black-Lives-Matter-Proteste, kann man das so auch wieder nicht sagen. Der oft beschworene Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg und seinem Nachhall aber verbietet sich.

(Lesenswert übrigens, was Der Freitag kürzlich unter dem Titel Die Corona-Chroniken schrieb: “Narrative sind konservativ und selten originell.”)

So oder so: Corona hat viele Erzähler*innen. Und, wie wir erneut lernen mussten, eine Menge davon sind zudem im positiven (die Wissenschaft) wie negativen Sinne (die Verschwörungstheoretiker*innen, Populist*innen und Desinformationsstrateg*innen) unzuverlässig. Während also eine Fraktion schon Vorkehrungen für Corona 2: Revenge of the Virus trifft (Wiederkehr als Farce, natürlich), sieht eine andere bereits das Happy End einer romantischen Komödie gekommen.

Doch hat hierbei auch der Held/die Heldin pflichtgemäß sich verändert? Offenbar schwindet (vergleichbar mit dem Verlauf der Flüchtlingskrise) mit der Rückkehr des Alltags auch die vielbeschworene Corona-Solidarität: Eine repräsentative Umfrage der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ergab, dass “viele vor allem den Corona-Maßnahmen zustimmen, die ihnen selbst nicht schaden.”

Das verheißt erst mal im Hinblick auf eine andere, komplexere Erzählung unserer Zeit, die Klimakrise und deren möglichen Ausgang, nichts Gutes.

Aber reicht dies schon, meine tagebucheingangs gestellte Frage zu entscheiden, ob in den Corona-Tagen das Ego-Tier oder das Sozio-Tier Mensch Oberhand gewinnen wird? Nein: Es zeigt vor allem erneut die fortgeschrittene ökonomische Spaltung auf. Auch Einschränkungen und Rücksichtnahmen muss man sich erst mal leisten können.

Und es offenbart die Verschärfung einer Situation, die Ernst Bloch einmal die “Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen” genannt hat: Während die einen schon wieder Geschäfte machen, harren die anderen noch in der Quarantäne der Abgehängten aus. Während Finnland das Experiment Grundeinkommen zu Lösung dieser Spaltung vorerst wieder aufgegeben hat, hat Spanien zumindest ein Grundeinkommen für die Ärmsten eingeführt. So wirkt das Virus für die einen als Brandbeschleuniger und Spalter, für andere als eine Art Gleichmacher, nicht bloß im Tode. Irre Geschichte, hybrid wie das Virus selbst.

Eine Frage, die ich mir in letzter Zeit immer wieder gestellt habe: Gilt das Evolutions-Prinzip der natürlichen Selektion eigentlich auch für Gesellschaftsformen? Sind/wurden wir Zeugen eines Bifurkations-Moments, einer Gabelung der Geschichte in den nächsthöheren Komplexitätszustand? Oder ist das wieder bloß Wunschdenken?

Wir schreiben und lesen uns … irgendwie, irgendwo, irgendwann.

Anm. d. Red.: Die Fotos stammen von Mario Sixtus und stehen unter einer CC-Lizenz (CC BY 4.0).

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