Das Performance-Kollektiv “geheimagentur” zog in diesem Sommer mit einem mobilen Nachbau des Checkpoint Charlie durch Nürnberg. Es gab sich als fiktive Organisation Unlimited Limited (UNLTD) aus und verteilte “Migralon forte”, welches eine zuverlässige Stärkung, Stabilisierung und Erweiterung der körpereigenen Grenzgängerkräfte versprach. Der Schriftsteller und Berliner Gazette-Autor Lars Popp hat die ereignisreichen Tage in einem Tagebuch festgehalten.
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An Tag 1 und 2 steht der Checkpoint auf der Verkehrsinsel am Hauptbahnhof. Schnell wird klar: Die Menschen hier suchen, wie wir, vor allem Orientierung. Besser noch: Ansprechpartner. Der Checkpoint als Info-Point. Der historische Hintergrund des »Checkpoint Charlie« scheint hier beinahe ausgeblendet zu sein. Und: Wir stehen eindeutig auf einer Zeitgrenze, denn die Passanten sind vor allem auf ihr Ziel und ihr Zeitfenster fixiert.
Integration ist Kopfsache
Endgültig angekommen fühlen wir uns erst an Tag 2, als wir den Checkpoint jeweils abends und in der Frühe quer durch die Stadt ziehen, um ihn in sein Nachtasyl im Rathaus zu bringen oder von dort zu holen. Wir kommen ins Gespräch. Hilfe beim Anschieben des Grenzhäuschens bekommen wir auch. Und erste Rückmeldung zur Einnahme von Migralon® forte: Eine Künstlerin berichtet, dass sie Migralon® forte nun einsetzt, um nächtelang Bilder malen zu können; eine Lehrerin, dass Migralon® forte sie neugieriger, interessierter und wacher gemacht habe.
Zudem habe es ihre Anfälligkeit für Verschwörungstheorien reduziert, spätestens, als die UNLTD-Grenzgänger es vor ihren Augen selbst einnahmen. Ein Mann aus Prag erzählt uns von der Kampagne “Integration ist Kopfsache”, die er mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ins Leben gerufen hat. Nach einem intensiven Gespräch stellt er uns sein gesamtes Fotomaterial zur Verfügung, das er für die Kampagne aufgenommen hat. »Integration ist Kopfsache«, dieser Satz prägt sich uns ein und wir stellen uns an Tag 3 mit unserem Checkpoint direkt vor die Lorenzkirche.
Der Tag bringt uns indes an eigene Grenzen, den wir stehen den ganzen Tag im Regen und die Temperatur ist im Keller. Mit wenigen Dosen Migralon® forte stehen bzw. sitzen wir den Tag durch. Ein junger Student bestätigt uns indirekt, dass die Ökonomie mittlerweile die ultimativ entgrenzte Letzttheorie für alles geworden ist und andere Weltzugänge, im Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingskrise nicht zuletzt auch ethische, komplett ausblendet. Seiner eigenen Generation stellt er in Fragen der politischen Haltung ein schlechtes Zeugnis aus.
Grenzerfahrungsgeschichten
Am folgenden Tag am Tugendbrunnen ist das Wetter besser und wir können wieder vor dem Checkpoint in Aktion gehen. Die Passanten lassen sich jedoch kaum von unserer quer über den Lorenzplatz gezogenen Kreidegrenze, ergänzt um die Frage »Heute schon Grenzgänger gewesen?«, beeindrucken. Schließlich bedeutet der Grenzverkehr hier in erster Linie: Konsumverkehr. Dafür bekommen wir viele Grenzerfahrungsgeschichten an der ehemals innerdeutschen Grenze zu hören, denn vor allem die zahlreichen Touristen springen hier auf uns an.
Es sind in erster Linie die Älteren, finanziell halbwegs Abgesicherten, denen sich noch die Kriegserfahrung ihrer Eltern bzw. die eigene Erfahrung der deutschen Teilung in die Biographie derart eingeschrieben hat, dass sie Mitgefühl mit denen haben, die nach Europa zu fliehen versuchen.
An Tag 5 wird eine Nebenwirkung von Migralon® forte bei einem Grenztest im öffentlichen Raum deutlich bestätigt: »Überreaktionen, spontane Schimpftiraden bis hin zu Schlägereien.« Ebendiese Abwehrreaktion geschieht, als zwei UNLTD-Grenzgänger am Hallplatz etwa zur Mittagszeit unter den Betreibern und Besuchern eines AfD-Infostands Migralon® forte verteilen.
Eine Schlägerei kann jedoch mit Hilfe der Polizei noch verhindert werden und bei allen Beteiligten bleibt lediglich eine schnell abklingende mündliche Verwarnung zurück. Die AfD indes verlässt anschließend, offenbar abgeschreckt von dieser Grenzerfahrung, den Platz und überlässt damit dem UNLTD-Checkpoint für den Rest des Tages das Feld.
Glücksäquator
Tag 7 beschert uns die meisten Gespräche. Wir stehen am Durchgang zum Karl-Bröger-Tunnel im Südstadtpark, machen hier auf den »Glücksäquator« aufmerksam, der Nürnberg in zwei Hälften teilt. Die aus statistischen Umfragen der Stadt abgeleitete Querschnittsbehauptung, südlich der Linie wäre man weniger glücklich als im Norden, wird vor Ort weitgehend nicht geteilt.
Mehrheitlich Anklang findet indes unser Vorschlag, Nordstädter, die mehr als 66.000 EUR Bruttojahreseinkommen verdienen (aber dieser monetären Grenze nimmt das Glücksempfinden nicht mehr mit weiterem Einkommenszuwachs zu), könnten doch ihren Mehrverdienst in den Süden investieren und somit den Glücksäquator nivellieren helfen. Das würde auch den zahlreichen Menschen helfen, die sich bei uns über die verheerende Wohnungsnot im Süden Luft verschaffen.
Allerdings können wir hier am Tunnel nur eine einzige Person aufgreifen, die diese monetäre Voraussetzung mitbringt. Laut Eigenaussage gibt sie aber »bereits viel ab«. In der Summe wird einmal mehr klar: Es fehlt an Orten der direkten, nicht durch Medien kanalisierten oder gelenkten Äußerung der Bürger, es fehlt an »Kümmerern«.
Mut tut gut
An Tag 9 platzieren wir uns inmitten des Hauptmarkts und ziehen später zu den Marktbuden vor der Lorenzkirche und rangieren uns zwischen zwei Falafelbuden. Unterwegs werden wir von einer Horde Kinder aufgegriffen, die sich auf spielerischem Lehrpfad befinden. Sie haben die Aufgabe, »Menschen mit Gefährt« zu finden, um sich dann mit ihnen ablichten zu lassen. Wir nutzen die Gelegenheit für eine Massenverteilung Migralon® forte, das von den Probanden ohne Zögern gleich mehrfach eingenommen wird.
Es ließen sich keine weiteren Nebenwirkungen erkennen außer für diese Zielgruppe typisches Suchtverhalten. Mit dem gemeinsamen Ruf »Mut tut gut« bringen die Kinder schließlich indirekt auch unser Anliegen auf den Punkt und wir nehmen uns die Aufforderung der Kinder selbst zu Herzen: Der Entgrenzung des Kapitals, der Waffen und Waren gilt es Einhalt zu gebieten, die Grenzen für Menschen hingegen zu öffnen. Das sprechen wir einem Team junger Journalisten, die für Beiträge zum Thema Menschenrechte nach Brüssel unterwegs sind, auf’s Band.
An Tag 10 besiedeln wir die Wöhrder Wiese. Wir erklären den Feiertag zum Arbeitstag und eröffnen unser Büro unter einem Baum. An diesem öffentlichen Ort der Erholung begegnen wir Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungsräumen. Unter unseren Gesprächspartnern sind: Ein ehemaliger Drogendealer, der 2 Jahre im Gefängnis gesessen hat und nun im freien Vollzug ist und Uhrmacher werden möchte. Ein Buchhändler und Autor, dessen Biographie den Titel »Wenn’s alle machen, mach ich es anders« trägt.
Ein 11-jähriger Waldorfschüler aus der Ukraine, der begeistert davon erzählt, wie harmonisch der Umgang zwischen den Kindern aus unterschiedlichsten Ländern an seiner Schule ist. Eine 21-jährige Spanierin, die sich aus sozialer Not für ein Studium in Deutschland entschieden hat. Eine Choreographin, die in ihrem Tanzunterricht Kinder aus verschiedenen Ländern zusammenbringt. Ein Obdachloser, der seit sechs Jahren unter der Brücke lebt und sich dort mit Möbeln häuslich eingerichtet hat.
Wir stellen fest: Menschen die das Leben bereits aus verschiedenen Perspektiven betrachtet haben, ob gezwungenermaßen oder freiwillig, fällt es leichter, das Leben anderer Menschen von innen heraus zu betrachten und die Grenzen im Kopf aufzulösen.
Die heikle Grenze zwischen Wert und Würde
Am 13. Tag postieren wir uns direkt vor der Agentur für Arbeit. Es dauert nicht lange, bis wir von Security und Pressesprecher abgecheckt werden. Eine kleine Migralon® forte-Spende sowie Aushändigung unserer Zeitung nimmt ihnen dann die Angst, wir könnten hier Agitation betreiben.
Interessantes Gespräch mit den Security-Leuten: Sie sind extra dafür angestellt, »Ausfälle« von Kunden entsprechend unter Kontrolle zu bringen, notfalls auch mit körperlichem Einsatz. Einer der beiden erzählt, das sei nötig »wegen der Flüchtlinge«. Auf Nachfrage bestätigt er aber, dass gerade die in Wahrheit die wenigsten Probleme machten. Dann ist die Raucherpause auch schon zu Ende.
Ansonsten wird das ein Tag ganz ohne Video- oder Tonaufzeichnungen. Zwar finden wir ein paar Gesprächsbereite, aber dokumentiert sehen möchte das hier eigentlich niemand. Die heikle Grenze zwischen Wert und Würde ist an diesem Ort ganz unmittelbar spürbar. Etwas weniger vorsichtig sind die Angestellten der Arbeitsagentur, von denen viele dann aber rasch abwinken: »Grenzerfahrungen mache ich hier täglich.« Öffentlich mitteilen aber möchte sie keiner.
Totale Sprachlosigkeit
Dann folgt mit den Tagen 15 und 16 eine intensive Zeit am Aufseßplatz. Gleich der erste davon konfrontiert uns mit den bisher dringlichsten und politisiertesten Gesprächen. Die vermeintliche Kofferbombe, die von Jugendlichen, vermeintlichen Islamisten in der Bäckerei platziert wurde und das Verhalten der Einsatzkräfte.
Die Angst vor Anschlägen, die kein Kinderspiel mehr sind; die Situation an und in der öffentlichen Toilette; die Konflikte der verschiedenen Migrantengruppen untereinander und mit den anderen »HartzIVlern«; der tägliche Kampf mit Sprache und kulturellem Hintergrund in der Ballettschule; aber auf der anderen Seite auch der Stolz auf das Miteinander, das Sich-Kennen, das Bunte: Der Aufseßplatz ist ein Brennpunkt an Grenzenergien.
Wie es der Zufall will, wird der erste Tag am Aufseßplatz auch zum bisher dichtesten Aktionstag und der Checkpoint zur Bühne. Ein Cellist lotet in ihm spontan die Hörschwelle aus; der Vortrag eines iranischen Gedichts beschallt den Platz; die Theatertruppe Forumtheater nutzt den Ort für eine öffentliche Probe und ein Action Painting zur Flüchtlingsthematik entsteht.
Beim Anblick desselben konfrontiert uns am Ende des Tages ein Syrer unter Tränen mit der grausamen Kriegsrealität in seinem Land. Er hat einen großen Teil seiner Familie verloren, zeigt uns frisch hereingekommene Bilder der zerbombten Häuser und Kriegsversehrten auf dem Handy, trauert vor allem um das Leid der Kinder, führt Anklage an den Westen, der sich, anders als in Afghanistan und Irak, nicht entsprechend einmische, das Grauen zu stoppen. Warum? Wir sind an dem Punkt angekommen, wo »über Grenzen sprechen« zuallererst totale Sprachlosigkeit bedeutet. Wir beschließen, unseren Aufenthalt um einen Tag zu verlängern.
Miteinander ins Gespräch kommen
Tag 25 wird der Tag, an dem wir Botschaften an die Welt senden. Denn heute befinden wir uns am Kornmarkt an der Straße der Menschenrechte. Wie an den meisten Orten in der Innenstadt wird hier allerdings nicht innegehalten, sondern passiert. Die öffentliche Anklage einer Syrierin vor allem im Namen der toten Kinder ihres Landes verhallt eher, als dass sie auf ein menschliches Echo trifft.
Als wir Passanten nach Statements zu den Menschenrechten bitten, gibt uns nur einer von ihnen die bittere Antwort: »Menschen machen Menschenrechte kaputt.« Wenigstens kommen wir mit zwei bis drei »Freigeistern« und einem Mitarbeiter des DGB nahebei ins Gespräch. Von ihm erfahren wir unter anderem Interessantes über die auch in Nürnberg zunehmend stärker werdende rechte Szene.
Folgerichtig für diesen Ort provozieren wir eine weitere Grenzüberschreitung: Ein Schauspieler-Kollege steigt dem Checkpoint aufs Dach und deklamiert über ein Mikrofon lautstark und in cool-aggressiver Pose die ersten Seiten aus dem Manifest Der kommende Aufstand des »Unsichtbaren Komitees«. Zwei Senioren-Pärchen applaudieren besonders heftig bei den Sätzen »Nicht die Wirtschaft ist in der Krise. Die Wirtschaft ist die Krise!«
Ausgerechnet ein Punk, der eine Straße weiter auf dem Boden gesessen hat, fühlt sich von der Ansprache gegen Abgrenzung angegriffen. Nicht wegen des Inhalts. Wer in Bundfaltenhose und Lackschuh dastehe, das Leben auf der Straße, Drogenabhängigkeit etc. nicht kenne, der dürfe solche Reden nicht schwingen! Er spuckt vor uns aus und setzt immer wieder neu mit seiner eloquent-aggressiven Wuttirade an. Das Angebot, seine Meinung doch selbst durchs Mikro zu schicken, empfindet er wohl zusätzlich als Hohn.
Wir lassen ihn ziehen, halb aus Furcht vor einer auch körperlichen Eskalation, halb mit dem Gefühl, dass wir mehr hätten tun können, um ihn vom Rand in die Mitte des Geschehens zu holen. Eine junge Frau fasst sich ein Herz und radelt dem Punk hinterher, findet ihn jedoch nicht mehr. So bleibt die Frage, ob ihm die Theatralität der Situation überhaupt bewusst war, offen. Was bleibt, ist die Erkenntnis: Auch wenn man sicher nicht alles erlebt haben muss, um Anklage halten zu dürfen – wir haben ein Repräsentationsproblem im Theater und in unserer Demokratie. Ein Gegenmittel: Miteinander ins Gespräch kommen.
Warten auf das nächste Gespräch
Tag 26 schließlich gerät zum passenden Ausklang unserer Tour: Am Integrationsfest auf dem Aufseßplatz geht Migralon® forte weg wie warme Semmeln. Die Aktivisten freuen sich über das etwas andere Mittel, für mehr Mut zum Miteinander zu sorgen. Und legen nahe, es sich selbst zuzuführen, wenn der tägliche Kampf etwas neuer Energie oder Humor bedarf.
Nach diesem Tag können wir auch behaupten: Das Medikament hat es in die Auslage von zwei Apotheken und auf die Schreibtische von drei Ärzten geschafft. Wir können nochmal viele neue Kontakte knüpfen, treffen einige nun schon »alte Bekannte« zum zweiten oder auch dritten Mal wieder und genießen das eine oder andere verbale Schulterklopfen quasi als unseren Applaus im Kleinen. Und führen sogar ein interessantes Gespräch mit jemandem, den wir eher auf der anderen Seite des politischen Spektrums vermutet hätten, einem Landsmannschaftler nämlich. Wir lernen, bei der Durchbrechung von Vorurteilen vor den eigenen nicht Halt zu machen, und gleichsam in der Begegnung mit einer eher schon linksradikalen Gruppe: Komplexitätsreduktion ist kein PEGIDA-Privileg.
Der Tag hat aber auch einen Misston, der nochmal die ganze Traurigkeit der aktuellen Situation aufzeigt: Wir erhalten nachdrückliche Bestätigung, dass mindestens eine Person, die wir vor zwei Jahren hier kennengelernt und ins Herz geschlossen hatten, als wir im ehemaligen Kaufhof die Agentur für Zeitverschwendung durchführten, sich in der Zwischenzeit aktiv rechtsradikalisiert hat. Als unsere persönliche Auseinandersetzung in dem Satz gipfelt: »Diese Flüchtlinge sind keine Menschen«, wird auch für uns die hohe Hürde spürbar, durch das Sprechen über Grenzen die Verhärtungen etwas aufzuweichen. Dann eben beim nächsten Gespräch.
Anm. d. Red.: Die Fortsetzung des Projekts folgt ab dem 12.09. in München.
Ein Kommentar zu “An der Grenze: Begegnungen mit Geflüchteten, Punks und Pegida-Anhängern in Nürnberg”