Haus der Halluzinationen: Das Jahr, in dem der Netscape-Browser durch die Decke ging

Frühstück im Schweizer Hotel Paramontana. Ein alternder Romancier versucht sich mit einem jungen Programmierer zu unterhalten. Es ist Winter 1996, das Jahr, in dem der Netscape-Browser durch die Decke ging. So manche Frontlinie gab es schon damals: z.B. zwischen Hoffen auf eine zweite Aufklärung und der Angst vor dem Aufdecken der letzten Geheimnisse. Ein Auszug aus Lars Popps Roman „Haus der Halluzinationen“.

*

› Mercator gleichwohl ist der, über den ich schreibe, schaufelt der Alte das Ei nuschelnd in sich hinein: › Das ist der, dem wir den Atlas verdanken. Seine Europakarte von 1554 war die erste, die diesen Namen wirklich verdiente – eine Meisterleistung! Seine Beschreibung des Himmels aber kam nie über das Anfangsstadium hinaus, das Weltkartenwerk blieb unvollständig.
› Warum?
› Weil, mein Junge, lacht er ein wenig herablassend, › Wissenschaft zu seiner Zeit in der Hauptsache Messung der Abstände der Erde und des Himmels bedeutete, zwischen die der Mensch mit seiner Geschichte, Spiritualität und Moral eingespannt war; die Königsdisziplin sogar in der Historie oder Philosophie Kartografie hieß. Jede Kartierung der Welt aber führt in ein endloses Datenerheben: Der Universalgelehrte Mercator hatte sich selbst dazu verdammt, die Fertigstellung seiner umfassenden Beschreibung der Welt in Erwartung neuer Erkenntnisse und Methoden immer weiter hinauszuschieben.
› Sie meinen, hätte er ein Datenverarbeitungsprogramm gehabt –
› Wäre er trotzdem gescheitert, tupft er sich die Mundwinkel mit der Serviette. › Darauf will ich ja gerade hinaus: Um dem Phantom nachjagen zu können, werden immer noch bessere Techniken der Verfolgung erfunden. Und dennoch wird es stets unerreichbar bleiben. Denn jeder Schritt vorwärts erzeugt einen neuen Blick auf die tatsächliche Strecke. So war es Folge von Mercators Arbeit, dass ausgerechnet er, der noch alles zusammenführen zu können glaubte, was es von der Welt zu wissen gab, zugleich das Ende der Universalgelehrtenschaft mit eingeleitet hat.
Er fuchtelt bedenklich mit seiner leeren Gabel vor dir in der Luft:
› Will sagen, sein Immer-weiter-Differenzieren hat die Wissenschaft in die heutige Fachidiotie getrieben. Und nun aber die wirkliche Pointe: Die alte Manie für kolossale Tabellen, Modellstrukturen und Zahlenreihen hatte gerade in ihrem Scheitern eine jener letztgültigen Wahrheiten berührt, nach der sie die ganze Zeit suchte: dass die Beschreibung der Welt grausam unabschließbar ist.
› Noch än Schluckch Kchaffee?, platzt die Hobbitfrau, eine silberne Kanne in der Hand, dazwischen.
› Äh, Märssi nein. Du?
› Nein.
› Guet, zieht sie schulterzuckend weiter.
› Erst der Computer, fährst du=Jean-Pascal ungeduldig fort, › jetzt das Internet: Was hältst du von der neuen Turinggalaxis? Ein weiterer Streich, den uns die Aufklärung zu spielen versucht, die uns auch so unfreiwillig poetische Maschinchen wie die Voltasäule, den Heronsball – die erste Dampfmaschine! –, das ganze Kunstgezeugs gezaubert hat?
› Stop. Um das zu klären: Das Internet ist Chaos, Anarchie, purer Trieb. Das ist ja das Geile. Weil, das gehört eigentlich niemandem und folgt nur den spontanen Launen seiner Benutzer. Und das macht gerade ’ner Menge von euch Alten ’ne höllische Angst.
Darauf ist nicht leicht zu reagieren: Was dich=Jean-Pascal betreffe, sagst du dem Jungen, möge er bitte differenzieren. Ansonsten gibst du ihm recht: Als mit dem Buchdruck irgendwann auch die Romane aufgekommen seien, habe man geglaubt, speziell Frauen müssten von dieser Moral untergrabenden, Schlaffheit erzeugenden Ablenkungsmaschine ferngehalten werden. Heute seien sie die Letzten, die noch lesen. Die Kinematographie wiederum habe ein kollektives Unwohlsein darüber ausgelöst, dass die Sinne allzu heftig geschockt und alle Zuschauer zu Epileptikern degenerieren würden. Heute könnten es der Schnitte und Effekte nicht genug sein. Diese angesichts neuer Technologien hysterischen Erstreaktionen, erläuterst du, folgten dem immer gleichen Muster hilfloser und doch harmloser Remythisierungsversuche. Wirklich gefährlich seien die idealisierten Zukunftsversprechen, die am Anfang eines jeden Medienumbruchs – allein die Tendenziösität dieses Worts! – zwangsläufig mit aufträten: die neuen Möglichkeitsräume, die man auf Gedeih und Verderb zu erobern trachte. Genau das aber sei die Verbindung zum Scheitern Mercators.
› Kapiert, kannst du=Maik dich nicht mehr länger zurückhalten, › Aber dennoch werden die, die an den Schaltstellen sitzen, immer versuchen, einen technischen Vorsprung vor dem einfachen Volk zu haben. Das wahre Problem ist die Frage, welchen Gebrauch man von den neuen Geräten macht. Ist meine Meinung.
› Informationen wollen frei sein?
› Du bist, was du teilst. Also solltest du den Informationen helfen, ihren Willen, sich zu vermehren, verstreuen, ver –
› Was wir alle wollen –
› Wie bitte?
› Nichts. Was wolltest du sagen?
› Nichts, winkst du=Maik ab.
Und lieferst doch nach. Das sei nämlich das Problem: dass Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklafften. Bereits die Behauptung, das Internet sei das erste wirklich freie Medium und werde für die Verbreitung der Demokratie über die ganze Welt sorgen – sorry, davon könntest du im Moment echt nicht viel sehen. Erstens sei es nicht vollständig öffentlich: Das Militär und die Regierungen, die es erfunden hätten, besetzten nach wie vor seine wichtigsten Knoten. Zweitens sei es keineswegs grenzenlos: Firewalls und Datenprotokolle bestimmten seine Schranken. Und drittens: Nein, es sei nicht vollständig selbstreguliert und ohne Zentren – ohne den Haupthaken der root domain, an der all die Adresskürzel dotcom dotde usw. hingen, liefe sowieso nichts. Soweit das Auge reiche: Lenkung, Schranken, Zensur. Sowie zu wenig öffentliche Daten auf der einen, kaum Verständnis für Datenschutz auf der anderen Seite. Da möge Potential schlummern, keine Frage. Aber das müsse man erst freikämpfen gegen die da oben.
› Wird wirklich Zeit für eine große Unabhängigkeitserklärung von uns Netizens, sage ich. Die lassen wir beim nächsten Weltwirtschaftsforum in Davos verlesen. Den ersten Absatz haben wir in den Foren bereits ausdiskutiert. Wollen Sie ihn hören?
› Schieß los.
› »Regierungen der industriellen Welt«, zitiert der Junge auswendig, › »Ihr müden motherfucker und cocksucker, wir kommen aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft fordern wir Euch auf, Ihr pussys mit den ausgeleierten tits einer vergangenen Zeit: piss off, leave us kids alone! Ihr seid hier nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr null power.«
Eine kleine Pause tritt ein, dann du=Jean-Pascal:
› Das hat Rhythmus und Klang, auf jeden Fall. Aber eventuell könnte man das Ganze noch ein wenig –

Anm.d.Red.: Dieser Beitrag lag einer Lesung zu Grunde, die im Rahmen der internationalen Konferenz Einbruch der Dunkelheit von Schauspieler Axel Wandtke dargeboten wurde. In diesem Kontext sind weitere Beiträge in der Berliner Gazette erschienen, darunter Essays der Referenten Mercedes Bunz, Matthew Wolf-Meyer, Christoph Kappes und Alexander Karschnia sowie ein Einleitungstext des Konferenzkurators Krystian Woznicki. Die Konferenz “Einbruch der Dunkelheit. Theorie und Praxis der Selbstermächtigung in Zeiten digitaler Kontrolle” war eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Das Foto oben stammt von Jens Luedicke und steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

4 Kommentare zu “Haus der Halluzinationen: Das Jahr, in dem der Netscape-Browser durch die Decke ging

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.