Die Verschiebungen der Machtverhältnisse, die die ‘Corona-Krise’ mit sich bringt, spürt jede/r direkt am eigenen Leib – sie äußern sich aber auch in der Kontamination der Sprache und Diskurse. Dieses Phänomen thematisiert der Schriftsteller und Berliner Gazette-Autor Lars Popp im dritten Teil seiner “Chronik der Coronatage”.
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Diskurse der Verordnung: Dienstag, 07.04.2020
Die letzten Nächte wildwirr geträumt. Generell träumen viele jetzt schlecht. Freunde und Verwandte bestätigen dies. Kollateralschaden des Lockdown. Auch die Kinder, so gefasst sie alles nehmen, suchen verstärkt Körperkontakt.
Die psychosomatische Fieberkurve steigt.
Erkennbar auch an den zunehmenden Diskussionen über das Ausschleichen aus den Maßnahmen, die Rückführung in die Normalität. Nur: in welche? Seuchen sind ja “historisch der Normalzustand”, so Karl-Heinz Leven vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg. Geschichtsvergessenheit war es also auch, wobei wir nun ertappt wurden.
#Flattenthecurve scheint zu funktionieren, aber weiter steigen werden die Zahlen ja dennoch. Dafür nehmen wir andere Langzeitfolgen in Kauf; die Verschärfung dessen, was schon da ist: soziale und ökonomische Ungleichheiten zwischen Leuten wie Ländern, persönliche wie weltwirtschaftliche Depressionen, Gewalteskalationen wie Im-Stich-Lassereien. Ich versuche, den Corona-Nachrichtenkonsum herunterzufahren, bin der täglichen Ungeduld, der Ansteckung vom Echtzeitvirus eigentlich müde, aber es will nicht ganz gelingen.
Da hat es etwas unfreiwillig Poetisches, dass in England 5G-Funkmasten in Brand gesetzt wurden, im Glauben, die Verbreitung des Virus werde von den Telemedien auf den neuen Funkwellen reitend beschleunigt.
Eine Zwangsstörung also, das scheint unser Krankheitsbild als Gesellschaft.
Medien müssen berichten, sonst delegitimieren sie sich; wir lesen, um weiter “auf dem Laufenden”, auf aktuellstem Stand der Ver-Ordnung zu sein, uns auch innerlich zu verorten. Und kreisen so stets um nur wenige Variationen desselben Wissensstands, während anderes weitgehend unerzählt bleibt – und in der Folge auch ungetan:
Bis heute wurde trotz Koalitionsbeschluss kein einziges Kind aus den griechischen Geflüchteten-Camps ausgeflogen.
Möglichst schnell wieder zurück auf Los bei uns hingegen der Wunsch: Österreich ist dazu gestern mit einem Mehrstufenplan vorgeprescht. Demnach befinden wir uns immer noch in der “Hammer”-Phase, bevor überhaupt so etwas wie ein “Tanz” beginnen kann.
Wie Gesellschaftskritik und Opposition leisten, wie zum Protest versammeln in einer Zeit, in der die Sprache wieder männlich-kraftvoll den Gehorsam einfordert, in der selbsternannte Blockwärter sich um den Titel pater patriae zu bewerben scheinen, in der Demonstrationen mit den aktuellen Infektionsschutzgesetzen im Rücken aufgelöst werden, obwohl die Demonstranten sich bemüht haben, den Mindestabstand einzuhalten und anstatt eines Massehaufens eine lose Menschenkette bildeten?
Wieder sind es vor allem Männer, die uns das Richtige und Notwendige erklären und sich als Macher inszenieren; der Arzt verordnet die Kur und schreibt das Rezept. Die Paternalisierung der Diskurse in der Krise spiegelt zwar den verständlichen Wunsch, alles möglichst schnell in den Griff zu bekommen und auf den Begriff zu bringen, beginnt aber selbst zunehmend übergriffig, wenn nicht längst schon dafür genutzt zu werden, von gefühlten Mehrheiten “angesagte” Aktionen wie “immunisierende” Grenzschließungen und von sicherheitsfanatischen Politikern herbeigewünschte Tools wie Bewegungs-Trackings durchzusetzen.
Was machbar ist, wird gemacht.
Gegen all dies braucht es die Kontinuität von Protest, eben besser noch: Neue Protestformen, soll Demokratie nicht Schaden nehmen. Impulse dazu könnten (und werden gewiss) aus den performing arts, der Kunst insgesamt kommen. Doch deren aktuelle ökonomische Misere scheint aktuell weniger systemrelevant: wenn das Hilfsprogramm von Bund und Ländern zwar beim Ersatz laufender Kosten, nicht aber bei ausfallenden Auftritten, Ausstellungen etc. einspringt, wovon diese Szene in erster Linie lebt.
Die Triage, jene gefürchtete Wahl, wen man bei überfüllten Krankenhausbetten dem Sterben überlassen soll und wen nicht, sie ist auf andere Weise, den Ereignissen stets nur hinterherrennend, anhand von Fokussierungen auf ökonomische Brennpunkte oder anderen verweigerter Hilfe bereits im Vollzug. Deutlich wird das aber erst werden, wenn verzögert die Pleitewelle einsetzt.
Vielsagend übrigens auch das Wort von den repatriation flights. Die Rückholaktionen im “Ausland” Gestrandeter gehen auf den EU Civil Protection Mechanism zurück – “European solidarity at its best” steht auf dessen Infoseite zu lesen. “Die größte Rückholaktion der deutschen Geschichte”, wirbt der Corona-Podcast der Bundesregierung. Über 160.000 Menschen wurden bisher zurückgeholt.
Und ich schreibe es hier nochmal:
Bis heute wurde trotz Koalitionsbeschluss kein einziges Kind aus den griechischen Geflüchteten-Camps ausgeflogen.
V wie Vau Weh: Donnerstag, 09.04.2020
“Spread”, verrät mir die Wikipedia, hat nicht nur eine virologische, sondern auch eine wirtschaftliche Bedeutung. Dort meint es die “Spanne, Spreizung oder Differenz zwischen zwei vergleichbaren ökonomischen Größen.” Gewinnspannen, Zinsniveauunterschiede, Kreditaufschläge, Renditedifferenzen. Spreads gibt es u.a. auch als Optionsstrategie im Termingeschäft: Hierbei wird auf sich V-förmig ändernde Kurse spekuliert. Man wettet gegen die Zeit entweder auf den Scheitelpunkt oder den Rückkehrpunkt in der V-Kurve. Wer den V-Verlauf korrekt vorhersagt, gewinnt.
Als Siegeszeichen wurde und wird das V wiederum von zwei Politikern besonders häufig benutzt. Vom Genosse-der-Bosse-Altkanzler-Schröder. Und Donald Trump.
Der hätte ja gerne jetzt, zu Ostern, sein Land wieder im Normalbetrieb gehabt; heute sagt er: “Eigentlich wäre es schön, das Land mit einem großen Knall wieder zu öffnen.” Den Kalauer, der einem dazu auf der Zunge liegt, niederzuschreiben, kann man sich sparen.
Stattdessen, was ich kürzlich hierzu hier in der Berliner Gazette las:
“Trump sagt es offen, alle anderen denken es geheim: Die Viruskurve hat die Aktienkurve und damit alle ökonomischen Kurven denormalisiert – der Krieg des Projekts der Moderne gegen den Virus wird gewonnen, wenn die Aktienkurve die Viruskurve schlägt. Alle Maßnahmen haben als erstes Ziel eine sogenannte V-Formation der Aktienkurve.”
Pessachbotschaft der Pandemie: Sonntag, 12.04.2020
Dass es ausgerechnet eine weltweite Seuche ist, die jetzt einen der größten feuchten Träume des globalisierten Kapitals kompromisslos auslebt: maximal freie Bewegung für Waren bei maximal unfreier Bewegung von Menschen. Wiederauferstehung von Gesellschaft aus der Virusstarre, die mehr als bloße Rückkehr zum status quo ante, wirklich ein Auszug aus dem aktuellen Ägypten wäre: zuvor ein paar Wochen lang den Traum auch des maximalen Gegenteils ausgelebt zu haben.
Vom Mit-Kindern-Sein: Mittwoch, 15.04.2020
Und was ist mit den Kleinen? Was jetzt an Home-Schooling, Home-Kita, Home-Office, Home-Urlaub neben Home-Homing alles übergangslos auf einer gemeinsamen Grundfläche gleichzeitig passiert, so notwendig es auch sein mag: Es geht zunehmend an die Substanz aller Beteiligten.
Insbesondere die Alleinerziehenden und Abgehängten, denen es sowohl an Zeit auch als Quadratmetern mangelt, sie dürfen gerade die Versäumnisse unserer Sozialpolitik ausbaden. Wo bleibt das Hilfspaket Heimbetreuung?
Und nochmal zu den unbegleiteten Geflüchteten-Kindern auf Lesbos: Ja, 50 ist keine Zahl.
Von Unkultur und Trotzkultur: Donnerstag, 16.04.2020
Die gestrigen Aussagen zu den ersten Corona-“Lockerungsübungen” belegen leider, auch Dank Leopoldina, dass auch die Sorgen und Nöte, damit zugleich auch die tröstenden, sinnstiftenden, verbindenden Funktionen der Kulturbranche aktuell komplett vom Radar der Relevanz verschwunden sind.
Leider macht das Virus nun auch ein Wort Heiner Müllers wahr, der dieses aber als Selbstkritik wie potentielle Streikform verstanden wissen wollte:
EINZIGE MÖGLICHKEIT HERAUSZUFINDEN WAS EINE ANTWORT SEIN KÖNNTE DARAUF ALLE THEATER SCHLIESSEN DANN WEISS MAN HINTERHER VIELLEICHT WARUM THEATER
Quelle hab ich gerade nicht mehr parat, reich ich nach, wenn ich sie wiederfinde. Jedenfalls: Ich bin auf die Auswertung der stillschweigenden Umfrage ab September gespannt.
Anhaltende Havarie eines Hafens: Dienstag, 21.04.2020
Konkrete Utopie: dass die Eröffnung des Flughafens BER am 31. Oktober jetzt als durchführbar behauptet wird; man nachgerade meint, von Corona nun sogar profitieren zu können: “Die Inbetriebnahme des BER war noch nie so sicher”. Ist das jetzt das Prinzip Hoffnung oder Die Macht des positiven Denkens? Oder absurdes Theater?
Virusworthülsen: Mittwoch, 22.04.2020
“The word ist now a Virus”, schrieb einst William S. Burroughs vor knapp 80 Jahren, in Quasi-Vorwegnahme des Internet-Mems.
“The flu virus may have once been a healthy lung cell. It is now a parasitic organism that invades and damages the central nervous system. Modern man has lost the option of silence. Try halting sub-vocal speech. Try to achieve even ten seconds of inner silence. You will encounter a resisting organism that forces you to talk. That organism is the word.” ― William S. Burroughs, The Ticket That Exploded
Und wirklich – Corona verwandelt uns alle, selbst die Kanzlerin, in sagenhafte Wortschmiedekünstler*innen:
Ansteckungsrisikoeinschätzung, Basisreproduktionszahl, Bezugsgrößenvergleich, Exitstrategieübereilung, Expertenmeinungswettstreit, Frauenhausüberfüllung, Hygienedemo, Intensivbettenkapazitätsrechnung, Lockdownlyrik, Lockerungsübungsüberbietung, Maskenpflicht, Öffnungsdiskussionsorgien, Onlinekonferenzprogramm, Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing, Quarantänekoller, Überwachungsplanspiel, Wuhan-Syndrom …
Anm.d.Red.: Die Karten im Text sind Elemente einer Info-Grafik, die die EU Kommission erstellt hat, um die Rückholaktionen von EU-Bürger*innen zu illustrieren. Die vollständige Info-Grafik und die dazugehörigen Erläuterungen finden sich hier. Lesen Sie mehr aus Lars Popps ‘Chronik der Coronatage’ auf complifiction.net.