Die kolonial-kapitalistische Globalisierung hat die Erde nach und nach in einen Planeten der Städte verwandelt: Im Jahr 1950 lebte weniger als ein Drittel der stetig wachsenden Weltbevölkerung in Städten, 2007 war es erstmals in der Geschichte mehr als die Hälfte. Bis 2050 werden es nach UN-Berechnungen zwei Drittel sein. Angesichts dieser Entwicklung ist es nicht verwunderlich, dass auf einem derart urbanisierten Planeten globale Krisen wie der Klimakollaps vor allem von Großstädten verursacht werden, genauer gesagt von urbanen Metabolismen: sozioökonomische Prozesse, insbesondere wachstums- und profitorientierte Produktion und Konsumtion, die Ressourcen und Energie verbrauchen, einen ständigen Nachschub an Materialien, Gütern und Arbeitskräften erfordern, Abfall und Umweltverschmutzung produzieren und vieles mehr. Mit anderen Worten: Der ökologische Fußabdruck der Städte destabilisiert den Planeten, denn als „Wachstumsmotoren“ sind Städte zu Motoren eines ökologisch-ökonomischen Teufelskreises geworden. Ökonomische und ökologische Krisen sind hier zunehmend auf verheerende Weise miteinander verwoben und verstärken sich gegenseitig. Die markantesten Resultate: Pandemien, Biodiversitätsverlust, Abwassernotfälle, Ressourcenkriege und die schleichende Gewalt der Klimakatastrophe. Die zunehmende Instabilität des Planeten zeigt, dass Städte besonders anfällig für die Folgen der Krisen sind, die sie selbst verursachen: die verwüsteten Ökosysteme rebellieren gegen ihre Zurichtung, sie spielen den Stress, dem sie ausgesetzt sind, zurück (Oxana Timofeeva, 2022); den Rückkopplungen des von ihnen erzeugten Stresses ausgesetzt, brechen Städte als Infrastrukturen des Kapitals und des Lebens zunehmend zusammen. Wie können wir also die Doppelrolle der Städte als Treiber und „Opfer“ des ökologisch-ökonomischen Teufelskreises politisieren?
Der ökologisch-ökonomische Teufelskreis befeuert sowohl ökologischen Kollaps als auch ökonomische Gewalt (Austerität, Verschuldung, etc.) – beides auf globaler Ebene, mit ungleich verteilten lokalen und regionalen Folgen. Dieses apokalyptische Szenario ruft nicht nur emanzipatorische Bewegungen auf den Plan, die mit gemeinschaftlichen Überlebensstrategien auf Notsituationen reagieren. Es wird auch von Panikmacher*innen vereinnahmt, die soziale Polarisierung, Entsolidarisierung und rechte Mobilisierung schüren und die Rekalibrierung kapitalistischer Kriegsführung und die Durchsetzung eines grünen Kapitalismus als alternativlose „Lösungen“ erscheinen lassen. Diese autoritären und kapitalkonformen Krisenstrategien verschärfen bereits bestehende Schieflagen, die in Großstädten besonders stark ausgeprägt sind – etwa soziale Ungleichheit und ökologische Ungerechtigkeit. Städte als Infrastrukturen des Kapitals und des Lebens zu politisieren sollte daher nicht zuletzt bedeuten, sie als antagonistische Räume zu begreifen, die Konflikte zwischen kapitalistischen Akteur*innen und denjenigen, die sich der kapitalistischen Zerstörung widersetzen oder sie überleben wollen, hervorbringen. Auf der Grundlage dieses Verständnisses untersucht die „Kin City“-Textserie sozio-ökologische Perspektiven auf Gleichheit und Gerechtigkeit sowie neue Möglichkeiten und Vorstellungen für grenzübergreifende (etwa: transnationale und post-identitäre) Allianzen zwischen den Enteigneten und Ausgebeuteten innerhalb der Metabolismen von Städten.
Der Fokus auf die existenziellen Kämpfe in den Städten zielt darauf ab, Erkenntnisse über die regionalen und globalen Zusammenhänge urbaner Stoffwechsel zu gewinnen: Wenn urbane Metabolismen soziale, ökologische, ökonomische und räumliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten innerhalb von Städten hervorbringen und gleichzeitig Kämpfe dagegen hervorrufen, besteht unsere Herausforderung darin, zu untersuchen, wie diese Probleme und Konflikte in den Verflechtungen von Städten mit der Welt reproduziert werden. Auf die emanzipatorische Ausrichtung dieses Ansatzes verweist der Begriff „kin“ im Projekttitel „Kin City“. Er bedeutet wörtlich Verwandtschaft und bezieht sich hier auf die Verbindungen und Beziehungen, die unsere Welt zusammenhalten (Deborah Bird Rose, 2011) und die potentiell verwobene Formen sozialer, räumlicher und ökologischer Gerechtigkeit ermöglichen.
Call for Papers
Die Textreihe im Rahmen des Projekts „Kin City“ – übrigens ein Jubiläumsprojekt anlässlich des 25-jährigen Bestehens der BG und eine Fortsetzung von „Allied Grounds“ (2023) – soll zukunftsweisenden Erzählungen Gehör verschaffen, die in ihrer Vielstimmigkeit die Trennungen überwinden, auf denen die kolonial-kapitalistische Globalisierung gedeiht, und unser Verständnis für Ko-Existenz, Interdependenz und Mutualität erweitern. Die BG richtet ihren Call for Papers an Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Kulturschaffende, die sich, in Theorie oder Praxis, an emanzipatorischen Kämpfen beteiligen, und versucht, Verbindungen zwischen ihnen herzustellen, indem urbane und ökologische Themen in einem erweiterten internationalistischen Rahmen miteinander verwoben werden, wobei Klassen-, dekoloniale und Migrationsfragen berücksichtigt werden. Das „Kin City“-Projekt wird sich auf die folgenden fünf Themenfelder konzentrieren und die BG ruf zu Einreichungen auf, die sich auf mindestens einen dieser Bereiche beziehen:
1. Privatisierung vs. Commoning von urbanen Lebensgrundlagen (von Wohnraum bis Wasser): Warum ist die Rückeroberung der Infrastruktur des Lebens vom Kapital im Zuge der Klimakrise noch dringlicher geworden?
2. Umwelt- und Klima(un-)gerechtigkeit in Städten: Was bedeutet es, gegen urbanen Umweltrassismus zu kämpfen?
3. Umweltschutz der Arbeiter*innenklasse in der Stadt als Fabrik aktualisieren: Was sind die Herausforderungen von multisektoralen Arbeitskämpfen in der „grünen“ Transition von Städten?
4. Was bedeutet es, urbane Metabolismen zu dekolonisieren? Städte als Zentren der („grünen“) Ressourcen- und Energiekolonialität
5. Flucht aus der oder in die Großstadt? Klimakrise als Ursache bzw. Verstärker von Vertreibung und Flucht und die Rolle von Städten in diesem Kontext
Texte im Umfang von 1.500 Wörtern bzw. 10.000 Zeichen werden in der BG unter einer Creative Commons Lizenz auf Englisch und Deutsch das ganze Jahr über veröffentlicht. Sie können in einer der beiden Sprachen bis zum 1.7.2024 oder 15.11.2024 unter info(at)berlinergazette(dot)de eingereicht werden. Abgabetermine können auch individuell vereinbart werden.
In einem einleitenden Essay skizzieren die Redakteur*innen und Organisator*innen Magdalena Taube und Krystian Woznicki die verschiedenen Anliegen des Projekts und zeigen auf, wie die BG beabsichtigt, diese zusammenzudenken. Der Essay ist als Open Access-Publikation hier verfügbar.