Städte funktionieren als kapitalistische Wachstumsmotoren nicht zuletzt aufgrund ihrer vielfältigen, oft unsichtbar gemachten Verbindungen zum Umland und zu anderen Regionen der Welt, die gnadenlos ausgebeutet werden, sowohl in puncto Ressourcen als auch Arbeit. Die Überwindung der ökologisch-ökonomischen Krisensituation des Planeten bedeutet nicht zuletzt, alles von diesem Außerhalb der Stadt, also exzentrisch, zu denken, wie Friederike Habermann in ihrem Beitrag zur „Kin City“-Reihe argumentiert.
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Lange Jahre lebte ich in einem Brandenburger Wald. Das ist so unstädtisch, wie es nur geht. Doch hinter meinem Namen in Tagungsprogrammen las ich in der Regel: Berlin. Offiziell gehörte meine Wohnstätte zu einem Dorf mit 1500 Einwohnenden. Jetzt lebe ich tatsächlich in einem Dorf mit 1500 Einwohnenden, doch offiziell in einer Stadt. Das Zauberwort dafür heißt Eingemeindung. Anfangs schrieb ich hinter die Postleitzahl noch den Dorfnamen, doch nachdem Arbeitsverträge deswegen zurückkamen, gab ich auf. Und so gucke ich in meiner Stadt, die aus 49 Siedlungen besteht, aus meinem Fenster mit Blick auf bewaldete Berge und frage mich erstens, ob ich damit zur statistischen Verstädterung beitrage, und zweitens, warum ich aus dieser Position heraus einen Artikel für die „Kin City“-Reihe schreibe – und ob ich damit nicht zum Problem beitrage.
Städte seien Wachstumsmotoren, lese ich im Call for Papers. Klar – doch gehen Industriegebiete nicht zunehmend aufs Land? Dabei gibt es hier jetzt schon oft weniger Artenvielfalt als in der Stadt in Folge von Monokultur und Pestizideinsatz in der Landwirtschaft. Und ist der individuelle Ressourcenverbrauch auf dem Land durch die schlechtere Anbindung an den Öffentlichen Nahverkehr sowie dem leichter zu bezahlenden Wohnraum nicht sogar größer pro Person? Nicht, dass ich stolz darauf wäre. Städte seien besonders anfällig für Krisen, lese ich ebenfalls. Und was ist mit Dürre und/oder Überschwemmungen auf dem Land? Dem Waldsterben? Überalterung und damit einhergehend Einsamkeit stellt allein in meiner Straße ein vielfaches Problem dar.
„Reclaim the village?“
Nochmal konkreter: Ist es nicht höchste Zeit, das Gefühl des Abgehängtseins in Dörfern mit sterbender Infrastruktur (‚wachse oder weiche‘ gilt für Bäckereien wie Bauernhöfe) ins Zentrum politischer Aktivität zu rücken? Rechte hegemoniale Verhältnisse finden sich ja nicht zufällig vor allem auf dem Land. Sind wir als emanzipatorische Kräfte nicht in Gefahr, dies zu verstärken, wenn wir ebenfalls – mal wieder – auf die Stadt fokussieren? Warum fordern wir nicht „reclaim the village“?
Ähnlich wie den Fokus auf die Stadt empfinde ich den Vorschlag, die „Stadt als Fabrik“ zu verstehen. Wie Magdalena Taube und Krystian Woznicki in ihrem einleitenden Essay zeigen, läuft dieser Fokus Gefahr, den kapitalistischen Blick auf bezahlte Arbeit und bezahlte Ressourcen zu reproduzieren – während ganz viele Tätigkeiten und ganz viel Mitwelt nicht bezahlt werden und damit in Statistiken oft unsichtbar bleiben. Sicher, dies wird mit diesem Vergleich im Call problematisiert. Doch lösen wir das Problem, indem wir auch aus kritischer Perspektive wieder nur auf das Zentrum schauen?
Land speist Stadt
Anna Saave schrieb in der BG-Textreihe „Allied Grounds“ über die Tradition des radikalen materialistischen Ökofeminismus und die Erkenntnis, dass Lösungsansätze, so gut gemeint sie auch sein mögen, zu kurz greifen, wenn sie auf Lohnarbeit und marktbasierte Versorgung fokussieren – kurz: auf den Bereich der offiziellen, der bewerteten Ökonomie. Es war Maria Mies, die ursprünglich 1979 für einen Vortrag ein Eisberg-Modell entwarf, welches „das Ganze der Ökonomie“ verbildlicht. Der obere, sichtbare Teil dieses Eisbergs stellt dar, was gemeinhin als Wirtschaft gilt: der monetäre Bereich, das heißt alles, was über Preise abgewickelt wird. Dazu gehören auch Löhne. Hierfür analysierte bekanntlich Karl Marx, wie von Arbeiter(inne)n Mehrwert abgeschöpft wird, da ihre sich in den Löhnen widerspiegelnden Reproduktionskosten niedriger liegen als das, was sie den Produkten an Wert hinzufügen. Dies nennt er Ausbeutung.
Der Teil unter der Wasseroberfläche symbolisiert, was externalisiert und dennoch wesentlich für den kapitalistischen Produktionsprozess ist: die sogenannten „Ökosystemdienstleistungen“ sowie un- oder unterbezahlte Tätigkeiten, sei es die Reproduktion im Haushalt oder Subsistenztätigkeiten (letztere nicht nur, aber überwiegend im Globalen Süden). Sowohl im Teil über dem Wasser als auch im unteren wird gewirtschaftet. Doch im „Unterwasserbereich,“ wie Anna Saave es nennt, im Sinne von Bedürfnisbefriedigung als der eigentlichen Produktion, nämlich die Produktion des Lebens. Im oberen Bereich werden Güter als Waren inwertgesetzt, zum Zwecke der Profitmaximierung. Gespeist wird dies aus dem Unterwasserbereich.
Die grundlegende Analyse dahinter ist wesentlich älter. Rosa Luxemburg zeigte 1913 in „Akkumulation des Kapitals,“ dass es im Kapitalismus immer einen Nachschub an Rohstoffen, Arbeitskräften sowie Absatzmärkten von außen gab und auch notwendig braucht (entsprechend kritisiert sie Marx‘ mathematische Gleichungen von c+v+m als rein innerkapitalistische Formeln, die dies unsichtbar machen). Der Nachschub kam damals wie heute aus den (immer noch großenteils weiblich konnotierten) Sorgetätigkeiten, sowie damals aus den Kolonien, heute aus unbezahlten oder unterbezahlten Ressourcen aus dem Globalen Süden.
Dazu führen nicht nur postkoloniale Machtstrukturen, sondern alleine schon der Marktmechanismus. Darüber schrieb bereits Adam Smith 1776: Im städtischen Handwerk konnten mit demselben Arbeitseinsatz deutlich wertvollere Güter hergestellt werden als in der bäuerlichen Wirtschaft, so entstehen unterschiedliche Produktivitätsraten. Beim direkten Austausch ihrer Waren befand sich die Stadt somit zunehmend im Vorteil, so Smith: „So konnte eine Stadt zu großem Reichtum und Glanz gelangen, während nicht nur das umliegende Land, sondern auch alle anderen, mit denen sie Handel trieb, in Armut und Elend lebten.“
Überwindung der Hyperseparation
Heute gilt dasselbe beim Handel zwischen den Industriegütern und den klassischen Produkten des Südens (Rohstoffe, Lebensmittel, Tourismus) sowie ganz ähnlich zwischen dem produktiven und dem reproduktiven Bereich. Noch gravierender als Mechanismus des unsichtbaren Abzugs von Energie im weitesten Sinne aus dem Unterwasserbereich ist aber wohl der strukturelle Zwang auf Unternehmen, so un- oder unterbezahlt wie möglich Natur und Tätigkeiten (und damit Leben/szeit, wie Andrea Vetter in ihrem BG-Beitrag zu „After Extractivism“ aufzeigt) zu vernutzen, um billiger sein zu können als die Konkurrenz. Wer hier „schläft“, wird aus dem Markt geschlagen.
Doch klar: Diese Marktmechanismen sind von bewussten und unbewussten postkolonialen und patriarchalen Politiken in der Praxis kaum zu trennen. Die heutige multiple Krise wird sich nicht aufheben lassen ohne die Überwindung der den Eisberg aufteilenden, in einer Formulierung von Val Plumwood, „hyperseparation,“ also der alles durchziehenden Einteilung der Welt in ein „kingdom of ends und ein kingdom of means.“
Jason W. Moore fasst den Aspekt der hyperseparation als Abspaltung einer Natur von der Gesellschaft: „Natur“ ist dabei alles, was definiert wird als Ressource, als der „Gesellschaft“ zur Vernutzung zur Verfügung stehend. Diese „cartesianische Binarität“ stellt er ins Zentrum seiner Analyse des Kapitalozäns – seinem Begriff, den er dem Anthropozän als treffender entgegenstellt. Diese Binarität werde geschaffen aus der Dialektik der Wertbildung als abstrakter gesellschaftlicher Arbeit und abstrakter gesellschaftlicher Natur. Gemeinsam mit Raj Patel wird dieser Zusammenhang in der Mehrzahl mit „frontiers“, also Grenzen, gefasst: „Grenzen sind Grenzen, weil sie Begegnungszonen zwischen dem Kapital und allen Formen der Natur – einschließlich des Menschen – sind. Es geht also immer darum, die Kosten des Wirtschaftens zu senken. Der Kapitalismus hat nicht nur Grenzen, er existiert nur durch Grenzen.“
Nicht zufällig stand im 16. Jahrhundert im europäischen Diskurs die Frage im Raum, ob Indigene Menschen seien, und im 17. Jahrhundert, ob Frauen Menschen seien. Rassistische, sexistische und andere Identitätskategorien entstanden in diesem Rahmen der Abspaltung einer „Natur“ von der „Gesellschaft“. Und diesen Rahmen reproduzieren wir tagtäglich. Wobei Emanzipationsbestrebungen nur zu oft darin münden, in den oberen Teil des Eisberg-Modells wechseln zu dürfen.
Make kin beyond!
Was also geschieht, wenn wir nicht auf die Stadt und nicht auf die Fabrik fokussieren, sondern auf das Außerhalb? Die Dokumentation „Berlin Utopiekadaver“ (2024) zeigt, wie der Investitionsdruck Mieten und Repression steigen lässt, und Freiräume in der Stadt immer schwerer zu halten sind. In den Worten porträtierter Aktivistis sind dies Orte, die Selbstvertrauen geben und die Lust zu diskutieren wachsen lassen; die den Weltschmerz auffangen, wenn Jugendliche merken „fuck, die Welt, wie sie gerade besteht, da drin möchte ich eigentlich nicht drin aufwachsen, sondern ich möchte eigentlich Dinge verändern.“ Die zeigen, dass ein anderes Leben möglich ist. Außerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik. Wo es darum geht, „dass man viel mehr füreinander da ist und viel mehr gemeinschaftlich entscheidet: Wie wollen wir zusammen leben?“ Am Schluss singt der Musiker (und in einer meiner kurzen echten Berliner Episoden einer meiner 23 Mitbewohnis) Yok: „Wir hatten unsere Zeit – die ist jetzt vorbei. Jetzt kommt eine andere Zeit. Jetzt kommt eine neue Zeit. Jetzt kommt unsere Zeit! Und die wird gut!“
Neu ist, dass immer mehr – gerade junge – Menschen den vergleichsweise erschwinglichen Raum auf dem Land nutzen. Nicht wie früher als geschlossene Kommunen, sondern vernetzt als verschiedene Projekte, die durchaus unterschiedliche politische Kulturen haben können, in einem Dorf. Und 5 km, 10 km, 20 km entfernt sind die nächsten in anderem Dorf. So entsteht regional und letztlich überregional ein solidarisches Netz. „Tauschlogikfrei“ ist als Ausdruck dabei öfter zu finden. Gemeint ist Bedürfnisorientierung und das peer-to-peer Beitragen aus innerer Motivation. Mit anderen Worten: Commoning.
Die Marktlogik abzubauen und durch (tauschlogikfreie) demokratische Strukturen zu ersetzen, wodurch sich bereits Commons aufbauen, darin sieht das Netzwerk Oekonomischer Wandel – Network Economic Transformation (NOW NET) die Wege hin zu einem guten Leben für alle. Nicht nur innerhalb von Bewegungsprojekten, sondern als Halbinseln anderer Selbstverständlichkeiten mit Wirkung ins Umland. Und auf jeder anderen Handlungsebene auch.
Denn es geht um das ganz Große. Darum, dem Wachstumszwang des Marktes zu entkommen sowie der Gefahr eines neuen Faschismus. Und um das ganz Kleine. Denn eine Aufhebung der hyperseparation zwischen „Natur“ und „Gesellschaft“ bedeutet auch eine Aufhebung der Trennung in verwertbare und überflüssige Anteile in uns selbst. Und damit eine ganz andere Lebens- und Wirtschaftsweise. Eine Präzisierung von Donna Haraways Aufruf „make kin“ wäre: Make kin beyond! Nein, nicht „to the beyond“, da dies ein Zentrum beließe. Genau dies aber gilt es zu überwinden.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel ist ein Beitrag zur “Kin City”-Serie der Berliner Gazette. Mehr Informationen: https://berlinergazette.de/de/kin-city-urbane-oekologien-und-internationalismus-call-for-papers/