Seit der Dreifachkatastrophe von März 2011 ist Japan paralysiert. Der Global Leader von einst ringt um ein neues Selbstverständnis. Nun liegt ein unabhängiger Bericht über die Rolle von Technologie und Informationströmen während des Ereignisses vor – erstellt durch die internationale NGO Internews Europe. Krisenkartograph und Berliner Gazette-Autor Patrick Meier kommentiert kritisch.
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Nach einem Desaster führen fehlende Informationen dazu, dass die Menschen noch gestresster und verunsicherter werden. Der Bericht Connecting the Last Mile zeigt, dass die alten Medien in Katastrophenfällen am hilfreichsten sind. Kommunales Radio, lokale Zeitungen und handgeschriebene Newsletter sowie Mundpropaganda spielten eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von lebenswichtigen Informationen für die Gemeinschaften.
Prädigitale Medien
Nach dem Desaster stieg das allgemeine Vertrauen in die Medien und sozialen Medien, aber das größte Vertrauen wurde dem Radio entgegengebracht. Es wurde von Betroffenen durchgängig als die nützlichste und persönlichste Informationsquelle direkt nach dem Desaster bis zum Ende der ersten Woche beschrieben. Außerdem war es nach den Geschehnissen oft die angemessenste Art der Information, da es keine Konfrontation mit traumatischen Bildern gab.
Aber auch Zeitungen gehörten zu den Lebensadern, z.B. in Ishinomaki, 90 km vom Epizentrum des Erdbebens entfernt. Da die lokale Radiostation wegen Problemen mit der Energieversorgung zeitweise außer Betrieb war, war die einzige Informationsquelle das handgeschriebene lokale Nachrichtenblatt “Hibi Shimbun“.
Diese einfache und günstige Initiative der Gemeinschaft brachte essentielle Informationen an die Menschen vor Ort. Auch an anderen Orten, wo die Menschen in Evakuierungszentren und temporären Unterkünften lebten, waren Zeitungen ein kostengünstiger und effektiver Weg, Information weiter zu tragen. Die Initiativen wurden von vielen Freiwilligen unterstützt, die oft selbst zu den Opfern der Katastrophe gehörten.
Plattformen eilen zur Hilfe
Audio-visuelle Plattformen wie YouTube und Ustream wurden nicht nur von etablierten Organisationen und Sendern genutzt, sondern auch von Überlebenden der betroffenen Gebiete, die dort ihre Erfahrungen teilten. Ustream ermöglichte sogar „Social Streaming“, Live-Chats, in die sich Nutzer mit ihren Userkonten von Twitter, Facebook und Instant Messenger-Diensten einloggen können.
Auch andere soziale Medien spielten eine wichtige Rolle: Netzwerke wie Twitter, Mixi und Facebook lieferten eine Möglichkeit für Überlebende, ihre Freunde und Familie zu lokalisieren und andere wissen zu lassen, dass sie überlebt hatten.
Japan ist der weltweit drittgrößter Nutzer von Twitter, der Dienst ist dort mit etwa 35 Millionen Nutzern das beliebteste soziale Netzwerk. Das zeigt auch das Nutzerverhalten nach der Katastrophe: Die Zahl der durchschnittlichen Tweets pro Minute stieg von 3.000 vor dem Erdbeben auf 11.000 pro Minute nach dem Erdbeben, es wurden vor allem die Hash Tags #anpi (um jemanden zu finden) und #hinan (für Informationen zu Evakuierungszentren) sowie #jishin (für Informationen zum Erdbeben) genutzt.
Die japanische Regierung erstellte innerhalb von drei Tagen nach dem Erdbeben ihren ersten katastrophenbezogenen Twitter-Account. Die japanische Seite Mixi wurde als das am häufigsten verwendete soziale Medium in der betroffenen Region Tohoku zitiert. Ein Fakt, der nicht unterschätzt werden darf.
In Gegenden mit eingeschränkter Netzwerkverbindung konnten Mixi-Nutzer durch einen Blick auf die Profilseite einfach herausfinden, wann ein befreundeter User das letzte Mal online war und erfahren, ob sich derjenige in Sicherheit befand. Mixi veröffentliche am 16. März 2011 zusätzlich eine Applikation, mit der Nutzer die Login-Historie ihrer Freunde einsehen konnten.
Facebook testete im Februar 2012 sein Desaster-Forum, das nur in Katastrophensituationen aktiviert wird. Darin können User sich selbst und Freunde nach einer Katastrophe als „unversehrt“ markieren. Das globale Netzwerk von Twitter ermöglichte auch Such- und Rettungsmissionen nach Überlebenden, die nach dem Tsunami Hilfe benötigten.
Die unvollkommene Technik
Problematisch an den Hilfsanfragen in Form von Tweets und Facebook-Nachrichten war, dass diese laut NGOs und dem Joint Research Center (JRC) selten relevant waren, weil sie entweder Retweets oder bereits veraltet waren.
Das JRC musste auch erfahren, wie infektiös sich Fehlinformationen ausbreiten: Es gab das Gerücht, die Organisation würde von Geldspenden eine Bearbeitungsgebühr abziehen. Dieses Gerücht entstand online und verbreitete sich rasend schnell in den sozialen Netzwerken. Das JRC reagierte darauf mit einer nationalen Werbekampagne, um klarzustellen, dass 100% der Spenden an die betroffene Bevölkerung weitergegeben werden.
Trotz dieser negativen Aspekte von sozialen Medien überwiegen die Vorteile. Soziale Medien sind aus unserer Zeit nicht mehr wegzudenken und sie zu ignorieren und nicht zu nutzen ist einfach keine Option. Aber selbst in Japan, einem Vorläufer in Fragen der Technologie, sind noch nicht alle wichtigen Informationskanäle verknüpft.
Durch die andauernden Probleme im Atomkraftwerk Fukushima und das Ausmaß der Zerstörung, gab es das Problem der „falschen Verbindung“: die Massenmedien berichteten primär über die nukleare Krise und gaben nicht die Informationen weiter, die die Menschen in den Evakuierungszentren am meisten benötigten.
Mit dem Handy Krisenkarten lesen
Aber es gibt auch positive Beispiele: Das meteorologische Institut Japans nutzte ein Kurznachrichtensystem, um regionenspezifisch Erdbebenwarnungen an Handynutzer zu verschicken. Das System benötigt keine Telefonnummern, sodass die Privatsphäre geschützt bleibt und das Risiko von gefälschten Warnungen minimiert ist. Auch Smartphone-Apps wie „Yurekuru Call“ versendeten Erdbebenwarnungen sowie Details zur vermutlichen Stärke und Beginn abhängig vom ausgewählten Ort.
Safecast, ein Projekt von Freiwilligen, die Messung zur Strahlung sammelten und teilten, wurde innerhalb von einer Woche nach dem Desaster ins Leben gerufen und machte über 3,5 Millionen Geigermessungen bis Dezember 2012. Die Werte wurden von dutzenden und hunderten Individuen der jeweiligen Gebiete gestreamt.
Die großen Mobiltelefonanbieter in Japan entwickelten Notfall-Nachrichten-Dienste, bekannt als „Desaster-Foren“, wo Nutzer für Freunde und Verwandte Nachrichten hinterlassen konnten.
Es gab ein textbasiertes Forum, wo eine Nachricht auf der Webseite des Providers erstellt werden oder automatisch an registrierte Email-Adressen weitergeleitet werden konnte. Es existierte ein Forum für Tonaufnahmen, die wie eine Mailboxnachricht an einen Empfänger gemailt werden konnten.
Die verschiedenen Desaster-Foren wurden 14 Millionen Mal nach dem Erdbeben genutzt und haben entscheidend zur Reduzierung der Netzwerküberlastung beigetragen.
Ein Beispiel für fehlende Verknüpfungen war außerdem, dass den Hilfskräften nicht bekannt war, dass wertvolle Informationsquellen durch die wichtige, aber freiwillige Arbeit der technischen und Krisenkarten-Communities vorhanden waren.
Die OpenStreet Map-Community hat eine Karte für über 500.000 Straßen in den vom Desaster betroffenen Gebieten erstellt, während Freiwillige der Sinsai-Krisenkarte über drei Monate lang 12.000 Tweets verifizierten und kategorisierten.
Diese Plattformen hatten das Potential die Informationslücken, die die Reaktionen und Bergungsarbeiten behinderten, zu füllen. Es ist leider nicht klar, zu welchem Anteil diese Plattformen von den professionellen Helfern genutzt wurden.
Bezüglich der Sinsai-Krisenkarte gab es im Report ein paar Lücken, die mein Kollege Jeffrey Reynolds kommentiert (er war maßgeblich an den Anstrengungen für eine digitale Hilfeleistung an der Fletcher School in Boston beteiligt): An der Fletcher School begann die Arbeit an der Krisenkarte bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben, zusammen mit Studenten von Tufts, Harvard, MIT und der Universität Boston. Es wurden die ersten Feeds von der SAVE JAPAN!-Webseite genommen und auf die existierende OpenStreetMap (OSM) für Japan gelegt.
Auch solche kleinen Anstrengungen aus großer Entfernung können Momentum generieren – besonders dann, wenn die Infrastruktur im betroffenen Gebiet beeinträchtigt ist. Freiwillige aus Boston, die inzwischen wieder in Japan waren, berichteten, dass mindestens drei Menschen durch die Krisenkarte gerettet wurden. Auch wenn ihre Existenz vielen Erdbebenopfern nicht bekannt war, nutzte die Botschaft in Tokyo die Karte, um ihre Bürger in der Tohuku-Region zu identifizieren.
Die meisten Views auf Sinsai.info kamen aber aus der betroffenen Stadt Sendai, wo die Internetverfügbarkeit höher ist als in den umliegenden ländlichen Gebieten. Im Gegensatz dazu kannte keiner der Überlebenden, die vor Ort in Miyagi und Iwate interviewt wurden, Sinsai.
Lernprozesse für die Zukunft
Durch die Ausweitung der Krisenkarten-Plattformen wie Waze werden Opfer zukünftiger Notfälle vermutlich schneller soziale Medien nutzen als das in Japan 2011 der Fall war. Es wäre deshalb auch ratsam für die Krisenkartographie mit Twitter und anderen Informationsdiensten daran zu arbeiten, Algorithmen zu entwickeln, die falsche und doppelte Informationen minimieren.
Soziale Medien und insbesondere die Krisenkartographie haben die Rolle der Katastrophenopfer revolutioniert – von reinen Konsumenten von Dienstleistungen sind sie zum Konsumenten und Anbieter von Informationen geworden.
Information und Kommunikation sind auch eine Art der Hilfsleistung – leider werden sie historisch gesehen auf dem humanitären Sektor nicht als solche angesehen. Menschen in Situation von digitaler Abgeschnittenheit mit Informationen zu versorgen, kann ihnen helfen, in Krisenzeiten zu überleben und hilft den Gemeinden, nach Ende der direkten Gefahr mit dem Wiederaufbau zu beginnen.
Schnelle und korrekte Informationen für die betroffenen Menschen sowie effektive Kommunikation zwischen der lokalen Bevölkerung und denen, die Hilfe leisten, kann auch die humanitären Reaktionen auf Katastrophen verbessern.
Die Nutzung von lokalen Medien, wie einem lokalen Radio oder Printmedien ist eine Möglichkeit dies zu erreichen und dieser Ansatz sollte von den humanitären Organisationen verfolgt werden.
Auch weil die Technologie immer günstiger wird und bald ein nur 50 Dollar teures Smartphone auf den Markt kommen wird, muss sich die humanitäre Gemeinschaft auf eine Transformation des Informationsflusses in Katastrophengebieten einstellen.
Die klare Aussage des Berichts ist: Je mehr Kommunikationskanäle während einer Katastrophe zur Verfügung stehen, desto besser. In Notzeiten ist es einfach nicht möglich sich nur auf eine, oder auch drei oder vier verschiedene Kommunikationsmittel zu verlassen. Sowohl die alten Medien wie Radio und Zeitung als auch die neuen Medien mit den sozialen Netzwerken haben gezeigt, dass sie in Krisenzeiten alle gleich bedeutend und wichtig sind.
Anm.d.Red.: Mehr zum Thema finden sie in unserem Dossier Fukushima. Die Fotos im Text stammen von Lars Niki alias infrastructuredept, sie stehen unter einer Creative Commons Lizenz.
Ein Kommentar zu “Technologie und Krise: “Kleine Anstrengungen können Großes bewirken.””