“Now that the audience is assembled” ist das zweite Buch des Musikers und Komponisten David Grubbs. Es ist “ein Experiment im Musikschreiben” – die Beschreibung eines fiktiven Konzerts improvisierter Musik in Form eines langen Prosagedichts. In diesem Interview diskutiert Grubbs, wie sein poetisches Experiment dazu anregt, darüber nachzudenken, wie Menschen sich heute versammeln und warum ein Konzert-“Publikum” manchmal von einer Demo-Menge kaum zu unterscheiden ist.
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Dein poetischer Text ist ein hochpolitischer Text. Die politische Dimension wird bereits durch den Titel “Now that the audience is assembled” signalisiert, der auch der erste Satz Deines Prosagedichts ist. Der Titel beschwört ein Publikum herauf, das mehr als nur ein Publikum ist; es ist eine sehnsüchtige Menge, die Teil von etwas Größerem werden soll – eine menschliche/nicht menschliche Ansammlung von Klang. Was ist es, das dich an diesem Moment der assembly so fasziniert?
David Grubbs: Ich freue mich, dass Du den Titel sowohl mit dem Potenzial der sich versammelnden Menge als auch mit der Tatsache in Verbindung bringst, dass der Satz als erste Zeile des Textes erscheint. Es spielt mit der Konvention, die erste Zeile eines Gedichts zu verwenden, um einen Titel für das zu geben, was sonst ohne Titel bleiben würde. Für mich hat der Titel die Qualität des Zufalls, also ein Objet trouvé zu sein und zu suggerieren, dass sich der Text einem Titel widersetzt, oder dass der vorliegende vorläufig ist – und gleichzeitig die Bedeutung des Publikums für die Performance selbst zu unterstreichen. Damit meine ich nicht nur die Bedeutung des Publikums im Sinne seiner Wirkung auf den Performer, sondern auch die Freude des Zuschauers, ein Publikum wirklich anzusehen und zu hören.
Ich erinnere mich an einen atemberaubenden, scheinbar spontanen Moment kurz vor einem von Throbbing Gristles Abschlusskonzerten in Brooklyn vor ein paar Jahren. Die Gruppe hatte die Bühne betreten, und die Saalbeleuchtung war gerade ausgeschaltet worden, als Genesis Breyer P-Orridge das Mikrofon nahm und etwas in der Art sagte: “Mach die Lichter wieder an – wir wollen euch sehen!” Die Lichter blieben während der gesamten Dauer des Konzertes an. Es war eine einfache Entscheidung, die einen entscheidenden Einfluss auf mein Konzerterlebnis hatte, da ich einen Großteil meiner Zeit damit verbrachte, das Publikum zu beobachten – und es war eine erstaunliche Versammlung von Leuten, die die verschiedenen Generationen und Subkulturen repräsentierten – und das Spektakel selbst wurde dahingehend verändert, dass sein Umfang erweitert, dezentriert und es unmöglich wurde, alles auf einen Blick zu erfassen.
Was beim Lesen Deines Gedichtes in den Sinn kommt, ist ein Widerhall der Ereignisse der späten 1960er Jahre (im Kontext von Performancekunst und Musik im Allgemeinen) und der Ereignisse Anfang der 2010er Jahre. Können wir die politischen Momente und Fäden der späten 1960er Jahre und die künstlerischen Aspekte der assemblies in den frühen 2010er Jahren zusammendenken? Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Du in Deinem Buch “Records Ruin the Landscape” die späten 1960er Jahre studiert hast und dass du auch in New York lebst und arbeitest und somit die Occupy Wall Street Bewegung miterlebt hast. Wie hängt beides zusammen?
Als ich mit dem Schreiben von “Records Ruin the Landscape” fertig war, wusste ich, dass ich über die Erfahrung der Dauer in einem einzigen Konzert schreiben und mich von einem Projekt zurückziehen wollte, das die vergleichende Untersuchung von Hörkulturen vorgeschlagen hatte, die durch fünf Jahrzehnte getrennt waren. Am Ende meiner Recherche für “Records Ruin the Landscape” schienen die 1960er Jahre weiter entfernt als je zuvor zu sein – OK, die Recherche erfolgte über mehrere Jahre – aber ich meine auch kulturell und politisch entfernt. Ich überprüfe immer noch die Gründe, warum viel experimentelle Musik und Aufführungen der 1960er Jahre in den 1990er Jahren eine Rückkehr oder eine Wiederbelebung erlebten und auch heute noch erleben – soeben habe ich meinen Kalender überflogen, um zu sehen, wann ich die Judson Dance Theater Retrospektive im MoMA besuchen könnte (ein Avantgarde-Künstler*innen-Kollektiv aus den 1960er Jahren, die Red.).
Heute scheint es auch einen großen Unterschied zwischen jenem Publikum zu geben, das sich ein Konzert experimenteller Musik anschaut und jenen Menschen, die sich zu einer politischen Demonstration zusammenfinden. Mein Buch konzentriert sich auf die Etikette und die kulturellen Sitten des Publikumsverhaltens sowie auf vertraute und unvorhersehbare Unterbrechungen. So sehr politische Demonstrationen oft einen vertrauten Bogen haben, ähnliche Gesänge enthalten und so weiter – so spüre ich immer noch die Möglichkeit unerwarteter Aktionen, viel mehr als bei einem Konzert. Mein Fokus liegt darauf, wie unterschiedlich die beiden Erfahrungen wahrscheinlich sein werden.
Das Buch wird durch Kunstwerke von John Sparagana ergänzt, einem Künstler, der mit der visuellen Dokumentation von Menschenmassen in so unterschiedlichen Kontexten wie Rockkonzerten und Aufständen arbeitet, darunter jüngst auf dem Tahrir-Platz in Kairo.
Ich bat John, in Betracht zu ziehen ein ganz bestimmtes Werk zu erstellen. Es sollte auf einem Zeitungsfoto eines riots basieren – ein relativ kleines Ereignis bei einem Rockkonzert in Louisville, Kentucky. Zum einen trat ich an ihn heran, weil ich seine großformatigen Collagearbeiten bewundere. Oft basieren sie auf Zeitungsbildern von Menschenmassen und Demonstrationen (die Tahrir Square-Serie ist wirklich außergewöhnlich). Zum anderen wollte ich mit meinem Buch signalisieren, dass es Szenen des „Fehlverhaltens“ auf Seiten des Publikums enthält. In dem Gedicht werden leider keine Stühle geworfen. Das Buch war fast fertig, als ich John fragte, ob er darauf Lust hätte. Ich bin froh, dass er die Serie fortgesetzt hat und dass er immer noch neue Werke produziert, die auf diesem einen Bild basieren.
Wenn man Sparaganas Arbeit mit Menschenmassen bei Rockkonzerten betrachtet, muss man an einen Aufstand denken. Dennoch wird der Aufstand oft als ein Fall von “zivilen Unruhen” angesehen, die mit sozialen Kämpfen zusammenhängen, nicht aber mit Unterhaltung oder Kunst. Diese Zeichen des Aufstands finden sich als Gesten bei Punk-Konzerten wieder, doch es kann auch zum Ausbruch von sozialen Unruhen in diesem Zusammenhang kommen. Sparaganas Umgang mit visuellen Dokumenten bringt diese scheinbar ungleichen Aspekte in Dialog miteinander und erlaubt es, dem Betrachter und der Betrachterin, sie in Verbindung mit einer horizontalen Ebene zu sehen – ohne eine einfache Hierarchie in Bezug auf die politische und performative Spannung solcher Handlungen.
Ein Ergebnis von Johns Collage-Technik ist, dass ein Betrachter oder eine Betrachterin wahrscheinlich viel näher an das Bild herangeführt wird und seine Details eingehender untersuchen wird. In jeder seiner Collagen befinden sich Dutzende oder Hunderte von Bezugsrahmen. Bei dem Cover von “Now that the audience is assembled” sind es vor allem zwei Gesichter – das der Hauptfigur, die einen Stuhl schleudert, und das eines Mannes ohne Hemd, der ihm hinterherläuft –, die durch Johns Technik isoliert und damit optisch besonders hervorgehoben werden. Diese Technik ließ mich die Bilder anders betrachten, indem sie meinen Fokus auf so kleine Details lenkten. Gleichzeitig drängen mich seine Collagen auch weg. Wenn ich sie in einem Ausstellungsraum anschaue, lassen sie mich zurücktreten, bis das zerschnittene und gemischte Bild in seiner Gesamtheit wieder in den Fokus rückt – obwohl es ja eigentlich nicht mehr ein Bild aus einer Zeitung ist.
Was in “Now that the audience is assembled” passiert, zeichnet sich durch eine bestimmte Zeitqualität aus. Der gegenwärtige Moment, das Jetzt, scheint ewig zu dauern. Aber nicht die Schizophrenie einer endlosen Gegenwart, sondern die intensive Dauer des Jetzt – wir erfahren Zeit auf der Mikroebene – erlebt der Leser/die Leserin wie auch die Figuren Ihres Gedichtes. So kann die Wahrnehmung auf überraschende Weise mobilisiert werden. Das erinnert mich an die “Zeitbilder” in Filmen oder auch an die “Kino für Ohren”- Ansätze in der Musik und eben auch an deine Arbeit mit Gastr del Sol. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, Dein Gedicht als “Soundtrack” (alle Texte klingen ja doch!) der verborgenen Verbindungen zwischen den späten 1960ern und den frühen 2010ern Jahren zu lesen – und auch, was es bedeutet, die Dauer der Zeit in dem Moment zu erleben, in dem sich eine Versammlung in eine Besetzung eines Konzertsaals oder einer Plaza verwandelt. Macht eine solche Lektüre für dich Sinn?
Ja, auf jeden Fall. Ich denke, was das Gedicht im Allgemeinen mit dem teilt, was Jim O’Rourke und ich in Gastr del Sol getan haben, ist eine Verzerrung der Zeiterfahrung; bei Gastr del Sol könnte dies mit einem extrem kurzen Lied geschehen. Ich denke zum Beispiel an den Track “Eight Corners”, dort gibt es nur sehr wenige Wiederholungen, doch es folgt eine Coda von fast zehn Minuten, die in keinem Verhältnis zu dem steht, was ihr vorausging. Diese Songminiatur erfordert eine bestimmte Art von momenthafter Konzentration, diese Art der Konzentration kann ebenso gut geeignet sein für eine vektorlose, allgegenwärtige Art von Instrumentalmusik.
In diesem Zusammenhang scheinen die 1960er Jahre mir kulturell und aus der Sicht der gegenwärtigen politischen Krise besonders weit entfernt zu sein. Diese Krise, die im Guten wie im Schlechten alle Ressourcen unserer Aufmerksamkeit erfordert. Ein Momentum der Gegenwart, das gewisse Ähnlichkeiten mit den 1960ern Jahren aufzeigt, ist die Tatsache, dass das „weiße Amerika“ langsam erkennt, dass es die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung als selbstverständlich ansah und sich von Obamas Wahlerfolg eine Kehrtwende versprach, dass all das wenig zu bedeuten hat, wenn man sich die aktuelle Regierung und die Politik der Republikaner anschaut.
Und was ist mit dem Unterschied oder vielleicht auch einer Verbindung zwischen diesem “Erkennen” und dem „year of dreaming dangerously”, wie Slavoj Žižek den politischen Moment der Occupy-Bewegung Anfang der 2010er nannte?
Was die Bedeutung von Occupy betrifft, so glaube ich, dass wir weiter entfernt davon sind als früher, wirklich zu wissen, was die nachhaltigen Ergebnisse sein werden. Momentan sind so viele Dinge in den USA in Bewegung. Sie sind nicht nur in Bewegung, sie sind Gefahr. Man weiß zum Beispiel nicht, ob Trumps ungeheuerliche Korruption das Ende seines Regimes bedeuten wird, oder ob die Tatsache, dass sie ignoriert wird – so wie Anschuldigungen sexueller Gewalt gegen Trump von Evangelikalen weitgehend verleugnet werden – nicht dazu führen wird, weitere demokratische Normen zu zerstören und Trump somit zu stärken. Es bleibt offen, was von Occupy wirklich nachhallen wird. Ich denke, dass aktuelle politische Bewegungen wie Black Lives Matter und #MeToo auf sehr drängende Fragen reagieren und in der Lage sind, eine enorme Anzahl von Menschen zu mobilisieren.
Anm. d. Red.: Die Interviewfragen stellte die Redaktion der Berliner Gazette. Die etwas umfangreichere, englische Version des Interviews ist hier erschienen. Das Buch “Now that the audience is assembled” ist bei Duke University Press herausgekommen. Das Foto oben zeigt das Werk „Untitled”, 2017 von John Sparagana.