Nachruf auf René Pollesch: Eine Art „gleichschwebender Aufmerksamkeit“

René Pollesch by Colnate Group, 2024 (cc by nc)
René Pollesch by Colnate Group, 2024 (cc by nc)

Lesen, schreiben, gemeinsam denken – diese Kulturtechniken waren für den Autor, Dramatiker und Theaterregisseur René Pollesch so grundlegend wie er sie durch seine Praxis von Grund auf immer wieder neu erfand. Der Theatermacher und BG-Autor Alexander Karschnia versucht die Flüchtigkeit einer künstlerischen Singularität zu greifen. Ein Nachruf.

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Am Morgen des ersten Tages nach der Nachricht von René Polleschs Tod fiel mir das von Walter Benjamin geprägte Bild des „geheimen Heliotropismus“ ein: Irgendwo geht eine Sonne auf und alle Pflanzen richten sich danach aus. Diese „Sonne“ ist die Idee von Glück, jener „public happiness“, von der Hannah Arendt im Zusammenhang mit der Amerikanischen Revolution spricht. Mir schien, als käme das diffuse Glücksgefühl, das die Menschen im Saal nach einer Pollesch-Premiere teilen, verdammt nah ran an diese Vorstellung von „öffentlichem Glück“, die der alteuropäischen Tradition sonst so fremd geblieben ist. Und genau das schmerzt am meisten, die Erkenntnis, dass es dieses Theater nie wieder geben wird, das Glück, sich diese Pollesch-Sätze um die Ohren ballern zu lassen, dieser Sound, dieser Beat – was war das?

Was Polleschs Theater zu so einem solchen Glückserlebnis gemacht hat, war die Tatsache, dass in seinen Stücken auf der Bühne tatsächlich gemeinsam gedacht wurde. Als Regisseur war Pollesch vor allem ein sehr guter Zuhörer: Eine Art „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ – manchmal schien er fast zu schlafen, aber kaum hatte sich ein falscher Ton eingeschlichen, fuhr er hoch: „Das hast Du nicht gedacht!“

„Wir produzieren keine Nachdenklichkeit“

Tatsächlich konnte jede:r Pollesch-Darsteller:in werden. Es galt nur den richtigen Ton zu treffen. 2002 konnte ich es am eigenen Leib erleben, als er mit Studierenden der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Frankfurter Goethe Uni das szenische Projekt „Stadt als Beute 2“ inszenierte. Kurz zuvor war er in Berlin Leiter des Praters geworden und hatte dort „Stadt als Beute“ gemacht. Den Titel hatte er von den Stadtsoziologen Klaus Ronneberger, Walther Jahn und Stephan Lanz geborgt, deren Buch viele von uns gelesen hatten. Es ging um die Privatisierung des öffentlichen Raumes und sogenannte Innenstadtaktionen, eine Form des Aktivismus, der in den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen hatte.

Pollesch ließ uns eigene Texte schreiben, die sich erstaunlicherweise plötzlich wie Pollesch-Texte anhörten. Aber nicht, weil er uns eine bestimmte Schreibweise beibrachte, sondern weil er mit uns eine bestimmte Art des Sprechens einübte, die er „Denken“ nannte. Konkret bedeutete dies, dass wir bereit sein mussten, die Links zwischen den Sätzen immer wieder neu zu entdecken. Der Trick bestand darin, dass es schnelle Anschlüsse gab, dass die Pausen gestrichen wurden: „wir produzieren keine Nachdenklichkeit“ hieß es immer.

Und doch klingt das noch viel zu autoritär. René war das Gegenteil eines autoritären Regisseurs: Niemals hat er irgendwelche Anregungen oder Einwände aus der Distanz gerufen, er ging immer nach vorne zur Bühne, um im ruhigen Ton fast sanft mit den Spieler:innen zu sprechen. So habe ich ihn später auch auf Proben mit seinem Team (Wuttke, Peschel, Beil) erlebt, als er „Und jetzt?“ probiert hat auf der Grundlage von dem Material zu Gerhard Winterlichs „Horizonte“, das er von meiner Gruppe andcompany&Co. zur Verfügung gestellt bekam. Wir hatten ihm erzählt, dass Benno Besson von dem Stück über Kybernetik und die Computerisierung der Industrie, das Winterlich mit dem Arbeitertheater Schwedt entwickelt hatte, so begeistert war, dass er Heiner Müller beauftragte, eine neue Textfassung für sein Ensemble zu schreiben.

1969 hat Besson damit seine erste Spielzeit an der Volksbühne eröffnet. Heiner Müller hat damals – wie zuvor mit BK Tragelehn bei „Die Umsiedlerin“ – an einer Stückentwicklung teilgenommen, das heißt Proben und Schreiben gingen Hand in Hand. Müller empfand es als sportliche Herausforderung, für Pollesch war das ein 40jähriger Arbeitsalltag. Das ging so weit, dass er nur schreiben konnte, wenn er wusste, für wen. In Polleschs „Diskurstheater“ findet der Dialog nicht auf der Bühne statt, sondern in der Probe zwischen Autor und Spieler:innen. Das Resultat ist ein „Polylog“, ein Wort, das er in Gießen gehört haben wird in den Seminaren von Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann. Julia Kristeva hat damit die „Revolution der poetischen Sprache“ beschrieben, bei der „Text“ zur „Praxis“ wird.

Entliterarisierung des Schreibens

Zu dieser „Praxis“ (eins seiner Lieblingswörter) gehörte es, dass permanent neue Texte produziert wurden. Wenn irgendetwas nicht stimmte, nahm er es auf seine Kappe und schrieb den Text um. Wenn Fabian Hinrichs in „Kill your Darlings!“ sagt, dass die besten Szenen dem Publikum gar nicht gezeigt würden, weil sie viel zu genial seien, war das nicht nur Polleschs Art, Brechts Lehrstück zu interpretieren, sondern es entsprach tatsächlich der Wirklichkeit: So manch ein grandioser Text wurde nie von einem Publikum gehört. Polleschs Produktionsprinzip war ein „Darling-Massaker“. Texte, die beim Lesen am Tisch brillant schienen, hat er gnadenlos geopfert, wenn sie auf der Bühne nicht sofort funktionierten. Pollesch wird wahrscheinlich als der Autor in die Theatergeschichte eingehen, dessen Schreiben sich am konsequentesten entliterarisiert hat.

Und das macht es so verdammt schwer, einen Nachruf auf ihn zu schreiben – „als sei das Leben selbst gestorben“ wie Elfriede Jelinek nach dem Tod von Christoph Schlingensief sagte. Das ging mir in den ersten Tagen nicht aus dem Kopf. Von Jacques Derrida gibt es diesen rätselhaften Satz: „Die Repräsentation ist der Tod.“ Als hätte René in all seinen Stücken gegen den Tod angeschrieben. Als hätte er immer wieder versucht, den Tod von der Bühne zu verbannen. Als ginge es um nichts anderes: Den Tod aufzuhalten durch Texte, die sich weigern, „Literatur“ zu werden.

Und jetzt?

Jetzt werden wir wieder alleine denken müssen. Und wenn wir hören, wie die Worte, die wir gerade denken, aus dem Mund unseres Gegenübers kommen, werden wir uns kurz an das Glück erinnern, Menschen auf einer Bühne zugesehen zu haben, die das tatsächlich zu beherrschen schienen: dieses Zusammen-Denken. Diese Praxis. Und wie glücklich das gemacht hat. Was war das?

Bevor es sentimental wird: Auf den Proben wurde immer viel gelacht. Unvergessen jene Probe, bei der Pollesch derart gelacht hat, dass wir ihn zum Arzt schicken mussten: Er hatte tatsächlich einen Lachkrampf! Noch lachend verließ er die Probe und rief uns zu: „Macht euch keine Sorgen, Leute!“ Das ist das Bild, das ich von ihm behalten möchte. Genauso werde ich mir in Zukunft Brechts Glücksgott vorstellen, diesen Gott der befreiten Produktivität. Geht es Dir gut? (Keine Antwort, lacht…)

2 Kommentare zu “Nachruf auf René Pollesch: Eine Art „gleichschwebender Aufmerksamkeit“

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