Themen wie Armut, Ausbeutung und soziale Mobilität verband man bis vor kurzem nicht mit Filmen, die bei einer Oscar-Verleihung abräumen könnten. Das hat sich seit “Parasite” (2019) geändert. Doch ist hier tatsächlich eine Repolitisierung des Arthouse-Kinos zu beobachten, die gar ein destabilisierendes Potenzial entfalten könnte, oder ist der Kapitalismus schon längst dabei, die Wut der 99 Prozent als Schön-Schauriges HD-Produkt zu verkaufen? Der Filmwissenschaftler Tom Knoblauch ordnet ein.
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Kurz vor der Oscarverleihung 2020 erklärte Bong Joon Ho gegenüberVulture, dass diese Veranstaltung “ein wenig seltsam ist, aber keine große Sache… Die Oscars sind kein internationales Filmfestival. Sie sind sehr lokal”. Sein Film Parasite räumte alle wichtigen Preise des Abends ab – das erste Mal, dass ein nicht primär englischsprachiger Film dies geschafft hat. Deutet dies auf einen Wandel in der Art und Weise hin, in der Filme global konsumiert und in manchen Fällen auch gefeiert werden? Parasite ist eine düstere und unverblümte Kritik am Versagen des Neoliberalismus – eine Botschaft, die dem Film weltweite Anerkennung einbrachte, wie sie vorher noch keinem Film aus Südkorea zuteil geworden war.
Das Publikum, so scheint es, ist bereit für die hässlichen Wahrheiten, wie sie früher nur im Arthouse zu finden waren und die nun langsam ihren Weg zu den Oscars einschlagen. Der Film hat den Hunger nach jener Kunst gezeigt, die neoliberale Strukturen abstraft, Kunst, die einst radikal und unkommerziell erschien, doch immer mächtiger und selbst zu Mainstream wird. Somit wird die Frage aufgeworfen, ob Kino sinnvoll zum Widerstand gegen Neoliberalismus beitragen kann.
Die Fantasie der sozialen Mobilität
Die neoliberale Welt, in der Bong Joon Hos Familie, die Parks, lebt, ist geradezu dystopisch: Sie leben in einem Untergeschoss und haben keine legitimen Möglichkeiten, sich aus ihrer Armut zu befreien. Soziale Mobilität bleibt reine Fantasie. Stattdessen setzen sie ihre Fähigkeiten ein, um eine wohlhabende Familie auszutricksen, die jeden der Parks unter falschen Vorwänden und einer angenommenen Identität anstellt, um Arbeiten rund um das luxuriöse Haus zu verrichten. Weitere Enthüllungen führen dazu, dass die Beziehung zwischen den Parks und den Kims (und einer unerwarteten zusätzlichen Familieneinheit, die sich im Bunker der Kims versteckt hält) zu einem Klassenkampf und Blutvergießen führt.
Parasite endet mit der Wahnvorstellung seines Protagonisten, dass es trotz allem, was in den vorangegangenen zwei Stunden geschehen ist, noch Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg mit legitimen Mitteln gibt, während das Publikum sieht, wie sich der Kreislauf der Armut fortsetzt. Das erinnert an Lauren Berlants Rede vom grausamen Optimismus. Filme, die in der Oscar-Kategorie „Bester Film“ gewinnen, neigen dazu publikumsfreundlich zu sein. Doch Parasite bietet eine zynische Verurteilung von Machtstrukturen und den Wohlhabenden. Wie kam es dazu, dass dies in der heutigen globalen Kinolandschaft zu einer willkommenen Botschaft geworden ist?
In seinem Buch Art Cinema and Neoliberalism verfolgt Alex Lykidis die Entwicklung des Arthouse in der Nachkriegszeit als globales Gegenmittel zum klassischen Hollywood. Er untersucht die Art und Weise, wie Arthousefilme zum Verständnis der Krise des Neoliberalismus beitragen. Die Werkzeuge, die er dafür nutzt sind die der russischen Formalist*innen bzw. der Brecht’schen Verfremdung, um die Entwicklung weg von der apolitischen Zweideutigkeit als Grundlage des intellektuellen Filmemachens hin zu einer offeneren Anklage gegen jene Machtstrukturen zu diagnostizieren, die weltweit zunehmend das Vertrauen ihrer Subjekte verlieren.
Diese zeitgenössische Entwicklung des Arthousekinos birgt das Potenzial für einen kollektiven Vorstoß für eine bessere Welt, indem sie dem Publikum hilft, „über die selbstsüchtigen Verschleierungen der neoliberalen Ideologie hinwegzusehen“. Um seine Behauptungen zu untermauern, analysiert Lykidis Filme von Abderrahmane Sissako, Lucrecia Martel, Yorgos Lanthimos, Athina Rachel Tsangari, Laurent Cantet, Abdellatif Kechiche und Michael Haneke. Den historischen Rahmen für seine Analyse liefert die Autor*innenenbewegung, die die Krisen des Kapitalismus seit 1945 begleitet hat und die laut Lykidis zu einer Entpolitisierung des Kunstkinos geführt hat – und nun wieder politisiert wird.
Autor*innenfilmer und wütendes Publikum
Die Autor*innentheorie – die Vision des Filmemachers/der Filmemacherin als Autor*in -, die vom Kritiker und Filmemacher Francois Truffaut in seinem Essay “Eine gewisse Tendenz im französischen Film” von 1954 eingeführt wurde, plädierte für eine Neuerfindung des Kinos, die eine Ästhetik und eine Schule der Kritik hervorbrachte, in der Autor*innen und Zuschauer*innen stilistische und inhaltliche Entscheidungen oft „als autobiografischen Meta-Kommentar interpretierten, der den Stil eines Films mit der Persönlichkeit und den Sorgen seines Regisseurs verbindet“. Mit anderen Worten: Das substanzielle Kino ist nicht nur lokal, sondern auch persönlich. Aus dieser Perspektive sind die Ausdruckshandlungen hochgradig individualisiert und neigen eher zur Isolation der Erfahrung als zur kollektiven oder kommunikativen Ebene der Bewegung.
Natürlich ist Lykidis’ Kritik an den Grenzen des Individualismus der Autor*innenentheorie nicht neu. Pauline Kael, die kurz nach Truffaut schrieb, bezeichnete die Bewegung als „Anti-Kunst“ und kam zu dem Schluss, dass diejenigen, die diesen Ansatz vertreten, Dopester sind (heute würden wir vielleicht Nerds sagen). Für Kael und zeitgenössische Skeptiker*innen des Autor*innenenfilms wie Lykidis hat der Einfluss des Autor*innenenfilms auf die Arthouse-Ästhetik eine Welle des Solipsismus ausgelöst – also zu einer Entpolitisierung und Entmachtung geführt. Für Lykidis ist das einundzwanzigste Jahrhundert jedoch eine Zeit der Repolitisierung des intellektuellen Kinos, da die Macht des Autor*innenfilms im Arthouse an Einfluss verliert.
Warum also sollte Bong Joon Ho, der selbst oft als Autor bezeichnet wird, erwartet haben, dass seine Satire über den Klassenkampf in Südkorea Preise auf der ganzen Welt einheimst und schließlich in den Vereinigten Staaten triumphiert, die nur selten über ihre eigenen Grenzen hinausschauen? Nun, weil das Lokale global geworden ist – und weil das Publikum wütend ist. Es will, dass Korruption bestraft wird, während die Mächtigen des Spätkapitalismus neue Wege finden, außerhalb des Gesetzes zu existieren. Filme wie Parasite laden diese Idee ins Kino und in die Wohnzimmer ein, wie der Schlachtruf einer Aktivistin.
Verunsichernd, ungewohnt
Jedes Jahr werden weltweit Hunderte, wenn nicht Tausende von Filmen dieser Art gedreht, die die Chance haben, den großen Durchbruch zu schaffen, wie es bei Parasite der Fall war. Aber es sollte nicht übersehen werden, dass der Film, der diese Barrieren durchbrechen konnte, dies aufgrund dessen tat, was Lykidis als den bestrafenden erzählerischen Ansatz gegenüber der Weltordnung des neoliberalen Kapitalismus bezeichnen würde. Der Autor und das Konzept des Autor*innenfilms ist für seinen Erfolg irrelevant. Er erzählt die Geschichte der industrialisierten Welt – nicht die ihres Filmemachers – mit Hilfe einer einer Allegorie und dem, was Lykidis als die Zukunft des Arthouse bezeichnet, durch seine „Fähigkeit, vertraute Formen des Sehens zu erschüttern, indem kritische Botschaften in erkennbare Genres und populäre Formen eingebettet werden“.
Parasite wird in Art Cinema and Neoliberalism nur kurz erwähnt, aber seine fünf Kapitel erzählen die Geschichte des Kinos, das sich zu einer globalen Kultur entwickelt, in der die Macht und Reichweite des Films einen klaren Kontext als wieder auftauchende politische Filmsprache hat, die von Zuschauer*innen auf der ganzen Welt verstanden wird. Für Lydikis stellt die hier entstehende Tradition den Neoliberalismus vor Gericht.
David Harvey beschrieb in seiner Argumentation über das Ende der neoliberalen Ordnung den Zustand der Menschen im Spätkapitalismus als reine „Anhängsel des Marktes und der Kapitalakkumulation zu leben und nicht als ausdrucksstarke Wesen“, was eine Motivation für Veränderungen angeht, obwohl sich diese Art von Regimen „selten, wenn überhaupt, friedlich auflösen“. Filmemacher wie Bong Joon Ho und Jordan Peele nutzen das Medium Film, um die Bedingungen des instabilen Neoliberalismus darzustellen und die Ursprünge der Umbrüche zu erforschen (oder sogar zu inspirieren).
Bereit zur Rache
Diejenigen, die in den Untergrund gedrängt werden, sind nicht nur unzufrieden, sondern auch bereit zur Rache. Sowohl Parasite als auch Jordan Peele’s Us verwenden dies als wörtliche Handlung, wobei gescheiterte Revolutionen immer noch die Stabilität der bestehenden Ordnung bedrohen. Diese Filme gehen über das hinaus was Lykidis als die „strafende Phase“ des Arthouse bezeichnet. Der Neoliberalismus steht vor Gericht, und der Arthousefilm hat sich vom nabelschauenden Autor*innenkino zum Ankläger entwickelt – Film selbst wird zu einer Form der Popularisierung politischer Bewegungen der Destabilisierung und der Bestrafung jener Machtstrukturen, die „durch fiktives Wachstum, inkompetente Führung und Unempfindlichkeit gegenüber Kritik definiert sind“ und die Welt regieren.
Destabilisierung ist die Kraft der aufkommenden Arthouse-Tradition, die in Art Cinema and Neoliberalism beschrieben wird, weit entfernt von den solipsistischen Tendenzen der frühen Autor*innenfilme. Stattdessen ist es global, es bestraft und es ist Oscar-verdächtig. Bleibt abzuwarten, ob dies ein Zeichen für die wachsende Macht des radikalen Filmemachens ist oder ob die Machtstruktur einfach einen Weg gefunden hat, politische Wut als ein weiteres Produkt am Fließband der neoliberalen Märkte zu verpacken.