Internet entdecken: Wie hat die Dreifachkatastrophe die digitale Gesellschaft in Japan verändert?

Japan gilt als High-Tech-Land. Nirgends auf der Welt ist die Dichte der Mobilfunknetze größer, nirgends ist das Internet soweit verbreitet. Und doch: Erst nach 3/11, der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011, entdeckten dort die Menschen Smartphones und im Zuge dessen die wahre Kraft des Internet. WAS BLEIBT von diesem Einschnitt? Der in Tokio lebende Webdesigner und Sachbuch-Autor Yasuhisa Hasegawa antwortet auf diese Frage.

In Japan hatten die Menschen über lange Zeit eine seltsame Beziehung zum Internet. Obwohl das Internet so lange wie in jedem anderen Land genutzt wird, wurden dessen Möglichkeiten bisher nicht voll ausgeschöpft. Traditionelle Medien wie das Fernsehen oder die Zeitungen zum Beispiel, haben das Internet nur sehr behäbig angenommen und dann auch nur auf sehr konservative Art und Weise verwendet.

Japan ist das einzige hoch entwickelte Land, in dem Regierungsbeamte und Wahlkampfkandidaten während der Wahl das Internet nicht benutzen dürfen. Das Internet ist immer präsent. Aber es ist als ein Medium zweiter Klasse angesehen worden. Die Dreifachkatastrophe vom 11. März diesen Jahres hat neue Perspektiven auf das Internet eröffnet. Die Menschen lernen das Netz und seine Möglichkeiten jetzt besser kennen. Diese Entwicklung ist vor allem im Zusammenhang mit mobilen Applikationen sichtbar.

Von Feature Phones zu Smartphones

In Japan dominierten die so genannten Feature Phones über ein Jahrzehnt lang den Markt. Anders als Smartphones etwa, sind Feature Phones speziell auf die Bedürfnisse der KonsumentInnen in Japan zugeschnitten: elementar wichtige Anwendungen wie ein elektronisches Portemonnaie oder TV waren auf Smartphones nicht vorhanden.

Obwohl Feature Phones – wie der Name bereits suggeriert – viele großartige Features haben, sind sie in ihrer Internetdarstellung mehr als unzureichend. Internet auf Feature Phones ist ähnlich wie bei WAP: Ausdrucks- und Interaktionsmöglichkeiten sind sehr eingeschränkt. Die meisten Handys haben zwar Browser vorinstalliert, sind aber extrem langsam.

Obwohl ihre Web-Eigenschaften, darunter auch „Social Media“-Applikationen, unzureichend waren, haben Feature Phones den Mobil-Markt in Japan dominiert. In diesem Jahr hat nun ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Endlich konnten sich Smartphones durchsetzen. Telefone wie Apples iPhone, Googles Android oder Sony Ericssons Xperia waren zwar auch schon vorher verbreitet. Aber 2011 ist das Jahr, in dem auch weniger technikbegeisterte Menschen massenweise beginnen Smartphones zu benutzen.

Während der Dreifachkatastrophe ist ein Großteil des Telefonnetzes zusammengebrochen: wir konnten nicht telefonieren und Kurznachrichten wurden nicht beantwortet. Gerettet haben uns das Internet und soziale Netzwerke. Auch wenn die Stimmen geliebter Menschen nicht hörbar waren, konnte zumindest ihr Standort mit Hilfe von verschiedenen Netzdiensten ermittelt werden. Da Smartphones für die Internetnutzung viel geeigneter sind als Feature Phones, wurden sie zum ständigen Begleiter der Massen, die auf diese Weise immer auf dem neuesten Stand sein konnten.

Gestern Empfänger, heute Sender?

In dieser harten Zeit erkannten die Menschen die Möglichkeiten des Internet. Soziale Medien haben während des Erdbebens gezeigt, was das Internet in kritischen Momenten zu bieten hat. Traditionelle Medien sind oft nur eindimensional und haben eine eingeengte Sichtweise. Aber mit dem Internet haben sich, wie beispielsweise jishin higashi nihon zeigt, verschiedene Blickwinkel eröffnet. Zudem konnten die Menschen die neue Vielfalt an Informationen miteinander teilen.

Einige BürgerInnen haben Rohdaten über Strahlung aufgearbeitet und es in einem user-freundlichen Format veröffentlicht. Ein Beispiel dafür ist das Projekt Hakatte Geiger. Andere haben Artikel und Analysen aus dem Ausland übersetzt und sie über Soziale Medien verbreitet. Entwickler und Designer der Initiative Hack4Japan haben wiederum Werkzeuge miteinander geteilt und Applikationen entwickelt.

Für die Menschen in Japan wurde das Internet zum zentralen Medium. Deutlich wurde im Zuge dessen: Es ist nicht nur dazu da, Informationen zu bekommen. Die wahre Kraft des Internet liegt im aktiven Part. Jeder von uns kann die eigene Meinung veröffentlichen und diese mit anderen Menschen teilen. In Japan ist das nicht selbstverständlich. Die Menschen hier sind im Vergleich zu Menschen aus anderen Industrienationen eher passiv. Sie sind sehr gut in der Verarbeitung von Informationen, aber nicht gut darin, ihre eigene Stimme zu erheben.

Natürlich sind einige Menschen sehr aktiv und nutzen Soziale Medien schon jetzt mit all ihren Möglichkeiten. Historisch gesehen folgt die Mehrheit der Menschen jedoch lieber. Das gilt auch für die Werkzeuge des Internet: viele lieben es Informationen zu teilen, aber die Zahl der Personen, die ihre eigene Meinung veröffentlichen, ist immer noch sehr klein. Das Internet ist eine großartige Möglichkeit, aktiv zu werden, aber dieses Element ist momentan nicht sehr ausgeprägt in der Kultur Japans.

Ich glaube, nach der Dreifachkatastrophe sind mehr Menschen aktiv geworden. Die Krise treibt sie an, aktiv zu sein. Besser als jemals zuvor können sie ihr Schicksal jetzt selbst in die Hand nehmen. Smartphones und Soziale Medien erweisen sich dabei als äußerst nützliche Werkzeuge. Ich glaube, dass die Menschen es schaffen, den mentalen Wandel und die technologische Entwicklung in eine gesamtgesellschaftliche Transformation umzumünzen.

Anm.d.Red.: Weitere Beiträge über die Folgen der Dreifachkatastrophe finden sich in unserem Japan-Dossier. Das Foto oben ist ein Screenshot von Hakatte Geiger. Das Foto unten stammt von Noritoshi Hirakawa und erschien erstmals im Rahmen des Foto-Essays Reise ins Herz der Finsternis.

5 Kommentare zu “Internet entdecken: Wie hat die Dreifachkatastrophe die digitale Gesellschaft in Japan verändert?

  1. Die Situation, die hier beschrieben wird, dürfte in anderen Teilen der Erde nicht gänzlich anders sein. Das lässt sich auch daran ablesen, dass man heutzutage immer wieder daran erinnern muss, dass das Internet ein “Mitmach-Medium” ist. Um ein Beispiel zu geben:

    Die Pioniere, die vor 20 Jahren die Entwicklung des Internets vorantrieben, rufen im Sammelband “Wem gehört das Internet?” dazu auf, die partizipativen Möglichkeiten des Internet umzusetzen.

    Das Buch kann als PDF kostenfrei heruntergeladen werden:

    http://www.journalistenakademie.de/szkaf/dwl/wem_gehoert_das_internet.pdf

  2. dass in Japan die PolitikerInnen während des Wahlkampfs nicht das Internet für PR etc. benutzen, finde ich total unglaublich! das wäre in den USA sicherlich unvorstellbar.

  3. kennt ihr schon “Kita Kore”:

    http://www.kita-colle.com

    Ein Webzine schreibt darüber:

    A new web service has sprung up in Japan that describes itself not as a search engine but a “recommend engine”. A new Japanese startup, Media Jump, is behind the service that was launched last week called “Kita Kore” meaning “just what I wanted” in Japanese slang. The site can be described as a social media events hub that recommends different events to registered members based on preferences. What is interesting is that the more users use the site the more it learns about them and the better the recommendations can be.
    http://www.japantrends.com/social-events-site-learns-from-its-users/

  4. Petra Kolonko, aus Tokio, konstatiert für die NZZ:

    Der Druck der öffentlichen Meinung führt zu einer neuen Einschätzung der Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima. Fünf Monate nach der Atomkatastrophe von Fukushima scheint sich die japanische Regierung der Schwere der Folgen zu stellen. Der Wandel ist vor allem das Resultat des Drucks der öffentlichen Meinung. Sie drängt die Politiker, aktiv zu werden.

    http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/japans_regierung_ist_in_der_wirklichkeit_angekommen_1.11863735.html

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