Politik des Just-in-Time: Wie in der ‘Corona-Krise’ unsichtbar gemachte Arbeit sichtbarer wird

In der ‘Corona-Krise’ wird die unsichtbar gemachte Arbeit von Leuten, die die Grundversorgung sicherstellen, wieder sichtbarer. Bietet dies eine unverhoffte Chance für Arbeitskämpfe? Die Stadtforscherin Katja Schwaller geht dieser Frage nach und nimmt dabei vor allem jene gesellschaftlichen Bereiche ins Blickfeld, die durch Big Tech-Unternehmen erobert werden. Ein Interview.

*

Sie haben sich in Ihrem Buch “Technopolis” mit urbanen Kämpfen in der San Francisco Bay Area auseinandergesetzt und dabei auch Verbindungen zu europäischen Metropolen wie Berlin hergestellt. Sie untersuchen wie im Zuge des 24/7-Netzkapitalismus Leben und Arbeit in neuartiger Weise verschmelzen, wie ArbeiterInnen von Big Tech-Unternehmen als Versuchskaninchen ihrer eigenen Services fungieren und dabei UserInnen in neuer Weise instrumentalisiert werden, während im selben Atemzug neue Formen der Enteignung ‘normalisiert’ werden. Sind UserInnen die ArbeiterInnen der Zukunft?

Was sich sicherlich beobachten lässt, sind neue Formen der Monetarisierung sozialer Aktivitäten und Alltagshandlungen, sofern diese in den „sozialen“ Medien oder auf digitalen Plattformen stattfinden. Die dadurch anfallenden Daten sind das eigentliche Rohmaterial der Digitalkonzerne, das durch Analyse, Mining, and Weiterverkauf verwertet und in Marktanteile und oft exorbitante Börsenbewertungen verwandelt wird. Digitalkonzerne leben also in gewisser Weise von der unbezahlten Arbeit ihrer UserInnen. Jeder Klick, jedes „Like“, und jedes „geteilte“ Posting trägt so im Endeffekt zur Macht dieser Unternehmen bei. Smart Phones und soziale Medien sind nicht zufällig am Prinzip des Geldspielautomaten angelehnt. Der Like-Faktor kann genauso süchtig machen wie der Glücksautomat.

Gamifizierung spielt auch am Arbeitsplatz eine immer größere Rolle, das zeigt sich zum Beispiel am Einsatz von Targets, Ratings, 360°-Feedbacks und anderen „Anreizen“. Es soll sich ja nicht wie Arbeit, sondern wie Selbstverwirklichung im Spiel anfühlen. Ähnliche Mechanismen kommen auch in den sozialen Medien zum Tragen. Die in der sogenannten “attention economy” erfahrende Beachtung soll Anerkennung genug sein, ohne dass die geleistete Arbeit vergütet wird. Unbezahlte digitale Arbeit kann so sogar zur Glorifizierung prekärer Arbeitsbedingungen beitragen.

Wenn UserInnen einen wichtigen ArbeiterInnen-Pool der Zukunft darstellen, bedeutet das nicht auch, dass vernetztes Leben als Arbeit immer nur dann etwas Wert ist, wenn es besonders pulsierendes Leben ist, ohne dass aber für ein solches Leben Grundlagen wie soziale Sicherheit geschaffen werden müssen?

Der Inhalt eines Postings oder Tweets ist den Plattformen erst einmal egal – Hauptsache, es macht Furore und trägt dadurch zur Steigerung der Aktivitäten auf den digitalen Netzwerken bei. Salopp gesagt sind Skandale oder Fake News dabei genauso ein gefundenes Fressen wie Trolling oder „Facebook-Revolutionen“. Zentral sind die anfallenden Daten.

Vernetztes Leben wird auf vielfältige Weise in Wert gesetzt, und die Gruppe der UserInnen ist nur eine der neuartigen Kategorien, die Arbeiternehmende im herkömmlichen Sinne zunehmend ablösen. Ich denke da etwa an die Airbnb-„Hosts“, die „schnellen Kaninchen“, die für „Task Rabbit“ arbeiten, die „selbstständigen AuftragnehmerInnen,“ die für Uber fahren und so fort. Sie nennen es „Sharing“ – vorangetrieben wird dadurch jedoch die Prekarisierung von Arbeitnehmenden, die ohne soziale Absicherung, ohne Verträge, mit dem eigenen Auto, auf eigenes Risiko oder sogar ganz unbezahlt arbeiten. Konzerne wie Uber profitieren dabei von der zunehmenden Prekarisierung, die sie in gewissem Masse selber mitproduzieren, indem sie gewerkschaftlich organisierte Brachen zerschlagen und den öffentlichen Verkehr untergraben – oder wie Airbnb die Mieten hochtreiben und die Wohnungsnot zuspitzen.

Anschließend werden die eigenen Angebote dann als Lösungen feilgehalten. Wer sich die Miete nicht mehr leisten kann, soll eben Host werden und in der Freizeit für Uber fahren. Auch diese Tätigkeiten wiederum produzieren Daten, die von diesen Unternehmen ausgewertet und strategisch genutzt werden, sei es zur Überwachung ihrer ArbeiterInnen oder zur Ausbootung von KonkurrentInnen im Run um Marktanteile.

In der ‘Corona-Krise’ bekommt das vernetzte Leben einen besonderen Stellenwert. “Social distancing” wird groß geschrieben (verkörperlichte Personenkontakte sollen vermieden werden), “social media” noch größer geschrieben. Selbst Regierungschefs raten dazu. Sicherlich, das Netz lässt sich zunächst einmal als ein Werkzeug begreifen, dass auch in Krisensituationen helfen kann, doch befeuert es in der Gegenwart, wie kaum etwas anderes, die kapitalistischen Verwertungszusammenhänge. Ist es eine bittere Ironie, dass Staaten, die immer wieder als Gegenspieler von Big Tech auftreten (etwa im Bereich der Datenhoheit), nun Werbung für Big Tech machen oder zeigt sich darin eher etwas, das sonst eher unterbelichtet bleibt: die Komplizenschaft von Staaten und Big Tech?

Das Internet und der Computer sind Produkte des Kalten Krieges. Die Tech-Industrie – oder was gemeinhin als „Silicon Valley“ bekannt ist – profitierte wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig von massiven Subventionen und Verträgen mit dem Pentagon and anderen staatlichen Institutionen. Digitalkonzerne geben sich zwar gerne subversiv und betonen Innovation, Unabhängigkeit und Eigeninitiative. In ihren techno-utopischen Manifesten stilisieren sie sich zum Antidot gegen autoritäre, bürokratische Regierungen und preisen ihre digitalen Plattformen als Befreiungsschlag für das Individuum.

Diese Rhetorik sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Unternehmen wie Google, Twitter und Amazon massiv von öffentlichen Errungenschaften profitieren, auch wenn sie diese gleichzeitig unterlaufen und sogar ersetzen. Zu nennen wären hier etwa Steuerdeals, die mit Städten im Gegenzug für die Ansiedlung von Firmenbüros oder Verteilzentren ausgehandelt werden, oder auch die Abwälzung negativer Auswirkungen der digitalen Angebote und Arbeitsbedingungen auf die Gesellschaft (Stichworte Arbeitslosigkeit, Depressionen, Umweltverschmutzung). Tech-Konzerne werden also einerseits umgarnt, sind demokratisch gewählten Regierungen aber gleichzeitig oft ein paar Schritte voraus, wenn es darum geht, legale Graubereiche auszunutzen oder neue sozialpolitische Tatsachen zu schaffen. Mehr denn je gilt heute die Weisung: Wer die Daten hat – und diese auch auszuwerten versteht –, der hat die Macht.

In diesem Sinne sind Staaten auch auf Tech-Konzerne angewiesen, wenn es darum geht, ihre eigenen repressiven Polizeiapparate und Grenzregime aufzurüsten. So arbeiten Unternehmen wie Amazon, Microsoft, oder Palantir mit der US-Immigrationsbehörde ICE zusammen oder bereiten ihre Überwachungstools – wie etwa Amazons Video Doorbell Ring – auch für die Polizei auf.

Geisterhafte Leere in Metropolen wie Rom, Berlin und New York. Vereinzelt sind PaketzustellerInnen, EssenausliefererInnen und andere Delivery-DienstleisterInnen zu sehen. Ein Bild, das prägend für die ‘Corona-Krise’ ist – doch erzählt es nicht mehr über die Gegenwart, als dass man es auf dieses bestimmte Krisenmoment reduzieren könnte?

Was durch die Corona-Krise stärker sichtbar wird sind Ausbeutungsverhältnisse und Abhängigkeiten, die normalerweise gerne ausgeblendet werden. Wenn man in der App auf „bestellen“ drückt passiert eben erst einmal gar nichts, wären da im Hintergrund nicht die ArbeiterInnen, die in den Verteilzentren die Pakete herumhieven, als Kuriere das Essen ausliefern, oder auch die „smarten“ Geräte und Algorithmen trainieren, die uns dann z.B. in Form von Amazons digitaler Assistentin Alexa ins Haus geliefert werden. Es ist ironisch, und geradezu tragisch, dass genau jene Arbeiten – z.B. in der Pflege, der Nahrungsmittelversorgung, dem Transportwesen – die elementare Bedürfnisse sicherstellen, oft am wenigsten Wertschätzung erfahren.

Uber-FahrerInnen, (Raum-)Pflegepersonal, PaketzustellerInnen, Fahrrad-Kuriere – sie alle arbeiten an vorderster „Corona-Front” und sind dabei besonderen Risiken ausgesetzt, verfügen aber häufig über keinerlei bezahlte Krankentage, keine Jobsicherheit und hier in den USA zum Teil nicht einmal über eine Krankenversicherung. Das Bild der leergefegten Städte mit dem einsamen Paketzusteller zeigt aber auch, dass die Abkanzelung von der Außenwelt eine Illusion ist. Vielleicht kommt das Virus dann einfach mit der Amazon-Bestellung ins Haus. Denn bei Krankheit zu Hause bleiben ist für viele in der Zulieferkette keine Option. Hier herrscht Arbeitszwang.

RegierungsvertreterInnen wie Angela Merkel fordern angesichts der ‘Corona-Krise’, öffentliches Leben solle praktisch komplett heruntergefahren werden, doch der Warenverkehr dürfe nicht zum Erliegen kommen. Logistik-Netzwerke sollen nach wie vor in Betrieb sein. Menschen, die hier – weitgehend unsichtbar gemacht – ihre Arbeit verrichten, werden unhinterfragt eingesetzt, ohne dass Vorsichtsmaßnahmen getroffen würden. Spiegelt sich hier nicht exakt jenes Problem wieder, dass auch vor der ‘Corona-Krise’ AktivistInnen immer wieder anprangern – Menschen werden zu Robotern gemacht?

Automatisierung wird immer auch mit dem Argument vorangetrieben, dass Roboter harte und gefährliche manuelle Arbeit überflüssig machen könnten. Stattdessen werden ArbeiterInnen in Amazons Verteilzentren heute intelligenten Algorithmen unterworfen, die jeden Arbeitsschritt bis ins kleineste Detail überwachen und die Arbeitenden ständig neuen „Targets“ und noch schnelleren Produktionsrhythmen unterwerfen. Da kommt es schon einmal vor, dass ArbeiterInnen in Flaschen pinkeln müssen, um den von der Maschine eingeforderten Rhythmus einzuhalten. Der Konzern ist nach wie vor auf menschliche ArbeiterInnen angewiesen, verlangt aber, dass sich diese wie Maschinen verhalten: Wer in Normalzeiten krankheitshalber unbezahlt einen Tag frei nehmen muss, wird bestraft. Wer nicht reibungslos funktioniert, landet auf dem Altmetall.

Letztlich ist der Corona-Virus nun doch in der sauberen und reibungslosen Welt eines Logistik-Imperiums wie Amazon angekommen. Wie die Schlagzeile eines US-Medium lautet: “An Amazon warehouse worker in NYC has coronavirus. They probably won’t be the last.” So sehr in der gegenwärtigen Situation Lieferketten ein integraler Bestandteil der ‘kritischen Infrastruktur’ sind und der Einsatz von Amazon-MitarbeiterInnen zwingend erscheint, ist es nicht auch gleichzeitig der richtige Moment für Protest und Aktivismus, wie er etwa auch in Ihrem Buch “Technopolis” dokumentiert ist? Was für Formen von Widerstand sind jetzt wie auch sonst angezeigt?

Die gegenwärtige Krise spitzt Ausbeutungsverhältnisse zu und macht die gesellschaftliche Abhängigkeit von prekär Arbeitenden stärker sichtbar. Am Ende schadet es der ganzen Gesellschaft, wenn Menschen weiterhin zur Arbeit gehen, weil sie sich das Kranksein schlicht nicht leisten können. Ja, es schadet der ganzen Gesellschaft, wenn prekär Arbeitende so überstrapaziert werden, dass sie am Steuer des Amazon-Vans einschlafen. Und wenn die Pausen beim Gesundheitspersonal zusammengespart werden und die spitalexterne Pflege im Stückakkord stattfinden soll. Der Kapitalismus, wortwörtlich, macht krank – und das gilt nicht nur in Zeiten von Covid-19. Das schadet uns allen.

Oder zumindest fast allen. Einer der Gewinner der gegenwärtigen Krise steht jedenfalls bereits fest: Amazon. Der Onlinehandelsriese legt gerade massive an Marktwert zu und plant, 100.000 neue Mitarbeitende einzustellen – während kleinere Geschäfte gerade reihenweise bankrottgehen. Diese zunehmende Monopolstellung des Konzerns drückt sich auch in veränderten politischen Machtverhältnissen aus. Oder wie es eine Journalistin des Guardian kürzlich ausdrückte: Willkommen in den „US of Amazon“.

Doch auch Amazon – eines der mächtigsten Unternehmen der Welt – können Steine in den Weg gelegt werden, wie eine breite Koalition von Stadtteilgruppen, Basisgewerkschaften, kritischen Tech-ArbeiterInnen und MigrationsaktivistInnen jüngst in New York vorgemacht hat. Amazon versuchte dort erfolglos, sein HQ2 zu eröffnen, nachdem es Städte monatelang im Standortwettbewerb nach unten gegeneinander ausgespielt hatte. Und nun geht das Seilziehen in Berlin weiter – einer Stadt, wohlgemerkt, die bereits Google in die Flucht geschlagen hat.

Und vielleicht ruft die Corona-Krise auch der einen oder dem anderen gesellschaftliche Abhängigkeiten in Erinnerung, die zu neuen Prioritäten in der Ressourcenverteilung und Vorstellungen von einem „guten Leben“ führen könnten? Streiks in Italien gegen den Arbeitszwang während des Lockdowns erzielten jedenfalls bereits erste Erfolge, und in Kalifornien wird gerade auf ein Kündigungs-Moratorium hingearbeitet und zu MieterInnen-Streiks in Zeiten des massiven Einkommensverlusts für viele aufgerufen.

Und nun drohen auch die 175.000 prekären Gig Workers von Instacart, in einen USA-weiten Streik zu treten. Dabei handelt es sich um prekär Arbeitende, die man über eine App anheuern kann, um die eigenen Einkäufe zu erledigen – ein Geschäftsmodell, das ähnlich wie Amazon gerade Hochkonjunktur feiert. Sollte der Konzern den Forderungen nach verbesserten Schutzmaßnahmen und Arbeitsbedingungen jedoch nicht nachkommen, dürfte uns die gesellschaftliche Abhängigkeit von unsichtbar gemachten ArbeiterInnen bald schmerzhaft in Erinnerung gerufen werden.

Anm.d.Red.: Die Fragen stellte die Berliner Gazette Redaktion. Das Foto oben im Text stammt von Brian Evans und steht unter einer Creative Commons Lizenz (CC BY-ND 2.0). Das Foto weiter unten im Text stammt von tdlucas5000 und steht unter einer Creative Commons Lizenz (CC BY-SA 2.0).

Ein Kommentar zu “Politik des Just-in-Time: Wie in der ‘Corona-Krise’ unsichtbar gemachte Arbeit sichtbarer wird

  1. Vielen Dank für diesen Input. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht, wir bestellen, und bestellen, ohne einmal an die Leute zu denken, die dahinter stecken. Heute las ich in der FAZ:

    “Ich bin 70 Jahre alt und habe Angst, mich mit dem Virus zu infizieren. Wenn ich ein Paket annehme, kann ich mich dann anstecken?

    Hier geht es um die Frage, wie lange sich das Virus auf Oberflächen hält. Wie bei so vielen Dingen rund um Sars-CoV-2 gilt auch hier: Hundertprozentig weiß man es nicht. Experten aus Amerika haben Daten veröffentlicht, die zeigen, dass das Virus auf Kunststoff und Edelstahl fast drei Tage überleben kann, auf Papier angeblich etwa einen Tag und in der Luft einige Stunden. Andere sagen, in der Luft bleibe es nur wenige Minuten, weil die Tropfen schnell zu Boden fielen. Das Robert-Koch-Institut schreibt zu Oberflächen: Eine Infektion durch kontaminierte Oberflächen ist prinzipiell nicht ausgeschlossen. Welche Rolle sie spielt, ist nicht bekannt. Für die spezielle Frage mit der Post heißt das: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Virus über einen Brief oder ein Paket übertragen wird. Während des Transports trocknet das Virus an der Luft und unter UV-Licht aus. Dass so viel Virusmenge auf dem Paket bleibt, wenn überhaupt welche drauf war, dass man sich darüber ansteckt, gilt als sehr unwahrscheinlich. Das sehen auch viele Virologen so. Man sollte sich nur in jedem Fall nach der Annahme des Pakets die Hände waschen. Als viel gefährlicher schätzen die Experten das Zusammentreffen mit dem Paketboten ein. Aber auch hier gibt es Alternativen: Entweder man lässt seine Sachen an eine Paketstation schicken oder der Postbote legt sie einfach vor die Tür. Ohnehin hat die Deutsche Post offiziell verkündet, dass sie bei der Übergabe von Paketen auf eine Unterschrift verzichtet. So wird persönlicher Kontakt reduziert.”

    https://faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-pandemie-wichtige-fragen-und-antworten-zum-virus-16705439.html

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.