Stadt und Pandemie: Gibt es Arbeit im vermeintlich vollautomatisierten Silicon-Valley-Urbanismus?

Wie “Kritische Infrastruktur” während der Covid-19-Pandemie aus dem Schatten des kollektiven Bewusstseins in den Vordergrund rückt und dabei wie selbstverständlich zur Spielwiese von Big Tech-Unternehmen wird, erkundete Stadtforscherin Katja Schwaller im ersten Teil ihres SILENT WORKS Essays am Beispiel San Franciscos. Im zweiten Teil fokussiert sie die Lebensbedingungen jener Menschen in der Underdog-Version der privatisierten Big Tech City, ohne deren Arbeitskraft der vermeintlich vollautomatisierte Silicon-Valley-Urbanismus nicht existieren würde.

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Silicon-Valley-Urbanismus, Gig Economy, Privatisierung kritischer Infrastruktur – im ersten Teil dieses Essays ging es darum, wie Tech-Unternehmen in der Bay Area mit die Weichen legten für einen pandemic urbanism und die höchst ungleichen sozialen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. Während Konzerne wie Amazon Rekordgewinne einstreichen und ihre Monopolstellung massiv ausbauen, sehen sich immer mehr Arbeitnehmende gezwungen, unter gesundheitsgefährdenden und hoch prekären Bedingungen für Unternehmen wie Uber oder eben Amazon zu arbeiten. Der Angriff auf die kritische Infrastruktur und auf gewerkschaftlich organisierte Sektoren durch die „Disrupters“ aus dem Silicon Valley betrifft aber nicht nur den öffentlichen Verkehr, den Postvertrieb, die Taxiindustrie und diverse Zulieferketten. Auch das Gefängnissystem, die kritische Infrastruktur einer (fehlenden) Krankenversicherung, ein rassistisch geprägter Polizeiapparat, das Arbeitsrecht sowie wortwörtlich in den städtischen Raum eingemeißelte Marker sozialer Ungleichheit wie etwa residenzielle Segregation sind (infra)strukturelle Bedingungen. Und auch diese sind mitunter von Tech-Unternehmen und Silicon-Valley-Ideologie mitbestimmt, wie auch bereits im ersten Teil dieses Essays thematisiert wurde.

Auch in jüngeren Protesten in der Bay Area kommen solche Überlagerungen verschiedener Krisen – von institutionellem Rassismus zur Prekarisierung der Arbeitsbedingungen, von der Unterminierung der öffentlichen Infrastruktur zur Ausbeutung unbezahlter (digitaler) Arbeit, von durch Tech-Unternehmen vorangetriebene Gentrifizierung bis zur gegenwärtigen Gesundheitskrise – immer wieder zum Ausdruck. Als Beispiel dienen können uns hier etwa die jüngsten Black-Lives-Matter-Proteste im Umfeld des Facebook Welthauptsitzes in Menlo Park im Silicon Valley. Ein Konzern, der mit seinen Plattform-basierten sozialen „Echokammern“ die US-Medieninfrastruktur quasi übernommen hat und politische Entwicklungen dadurch maßgeblich mitbestimmt. Doch auch lokal hat das Unternehmen seinen Einflussbereich über die Jahre stark ausgebaut. Als neuestes Item auf der Expansionsliste findet sich etwa ein „New Economy“ Company Town, das mit Mitarbeiterwohnungen, „öffentlichen“ Einrichtungen, eigenem „Dorfplatz“ und einer Parkanlage aufwarten soll.

Segregation und Überfluss

Aber lange nicht alle, die für Facebook arbeiten, werden vom Unternehmen auch als Angestellte eingestuft. Viele arbeiten stattdessen für ausgelagerte Subunternehmen. Dies gilt insbesondere für Service-Jobs in den hauseigenen Cafeterien, die Hauswartung, die Raumpflege und andere schlecht bezahlte Arbeitsbereiche. Im Gegensatz zu den hochbezahlten Programmierer*innen und Softwareingenieur*innen stammt dieser Teil der Belegschaft vorwiegend aus angrenzenden und benachteiligten Communitys. Zum Beispiel aus East Palo Alto, eine historisch schwarze und segregierte Ortschaft, die auch heute noch vom Reichtum des Silicon Valley abgespalten ist, die negativen Auswirkungen der Tech-Industrie aber umso mehr zu spüren bekommt. Dazu gehören auch die umwelt- und gesundheitsschädigenden Folgen der Silikon-Chip-Produktion, die in den 1970er und -80er Jahren noch hier im Valley angesiedelt war. Auch heute noch leiden Kinder in East Palo Alto 2,5-mal häufiger an Asthma als in den umliegenden Gemeinden, während das Haushaltseinkommen gerade einmal die Hälfte beträgt.

In den Worten einer lokalen Latina-Aktivistin, deren Eltern jahrzehntelang für Silicon-Valley-Unternehmen arbeiteten, ohne je etwas von den Anreizen und Sozialleistungen zu sehen, die für besserbezahlte Angestellte in der Tech-Industrie eine Selbstverständlichkeit sind:

„Unternehmen wie Facebook sind für gutverdienende Angestellte die reinste Spielwiese. Man kann während der Arbeitszeit ins Fitness-Studio gehen und sich jedes erdenkliche Essen servieren lassen – kostenlos, versteht sich. Aber die, die hinter ihnen den Dreck wegputzen und das Essen servieren, stehen vor der Wahl, ein Dach über dem Kopf oder genug zum Essen zu haben. Und das beschreibt das Lebensgefühl in East Palo Alto eigentlich ganz gut: Man rackert sich immer ab, während rund herum alles im Überfluss schwimmt.“

Bereits bevor die Pandemie die sozialen Gräben noch vertiefte, ergab eine Studie der Second Harvest Food Bank, dass eine von vier Personen im Silicon Valley – eine der reichsten Regionen der Welt, von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind. Gemäß des Silicon Valley Index von 2020 erhalten fast 90 % der Grundschüler*innen in East Palo Alto aufgrund von Armut einen kostenlosen oder verbilligten Schul-Lunch. Gleichzeitig haben Mieterhöhungen und Kündigungen infolge von durch Tech-Unternehmen vorangetriebene Gentrifizierung dazu geführt, dass fast ein Drittel der Schulkinder obdachlos ist. Viele schlafen mit ihren Familien ohne adäquate sanitäre Einrichtungen in Wohnmobilien in den Seitenstraßen des weltberühmten Valleys.

Repressive Infrastruktur

Das wiederum befeuert den Ausbau der repressiven Infrastruktur. So versuchte Facebook kürzlich in einem höchstkontroversen Schritt sogar, eine lokale Polizeieinheit zu kaufen. Das Unternehmen bot der Gemeinde Menlo Park nämlich an, das Gehalt von fünf zusätzlichen Polizeibeamten zu bezahlen, die insbesondere den ausufernden Campus-Komplex des Unternehmens bewachen sollen. Dieser liegt zwischen zwei vorwiegend nicht-weißen und einkommensschwachen Nachbarschaften, Belle Haven und East Palo Alto.

Trotz des Aufschreis aus den betroffenen Nachbarschaften, die schon lange gegen racial profiling und Fälle rassistischer Polizeigewalt ankämpfen, die gerade auch mit der Präsenz von Tech-Unternehmen wie Facebook zugenommen haben, wurde die „Facebook Unit“ umgesetzt. Die Facebook-Gelder sind nun zwar nicht mehr direkt für die Löhne der Polizeibeamten reserviert, was aber an Facebooks Einflussnahme auf die Lokalpolitik grundsätzlich nichts ändert.

Diese Verknotung eines rassistisch geprägten Polizeiapparates mit der Macht eines Tech-Unternehmens zeigt sich auch exemplarisch an der Infrastruktur der konzerneigenen, Facebook-blauen Fahrräder. Diese stehen hochbezahlten Angestellten kostenlos zur Verfügung, um von einem Campus-Gebäude zum anderen zu radeln. Oft frisst sich diese konzerneigene Infrastruktur aber auch in umliegenden Wohnregionen hinein, wo die Bikes einfach stehengelassen werden. Wenn nun aber Anwohnende die Einladung annehmen und die „kostenlosen“ Fahrräder ebenfalls als spontanes Transportmittel verwenden, kommt es immer wieder zu Kontrollen durch die Polizei.

Hier zeigt sich exemplarisch, wie die Macht von Konzernen auch durch kostenlose Dienstleistungen ausgeweitet werden kann – analog zu Facebooks digitalen „Freundschafts-Plattformen“, die für User*innen zwar erst mal nichts kosten, aber nur im Austausch gegen sensible Nutzer*innendaten und unbezahlte digitale Arbeit verfügbar sind. Und wie eine kostenlose Dienstleistung für die einen zu einem Stolperstein für weniger privilegierte Gruppen werden kann. Denn wie bitte unterscheidet die Polizei zwischen berechtigten Facebook-Angestellten und jenen, die ein Fahrrad ohne Genehmigung benutzen? Angesichts der Tatsache, dass weniger als 10 % der offiziellen Facebook-Angestellten in den USA schwarz oder Hispanic sind, während diese Gruppen über 70 % Prozent der Bevölkerung von East Palo Alto und Belle Haven ausmachen, sind Anschuldigungen bezüglich racial profiling kaum aus der Luft gegriffen.

No Facebook Police!“

Damit ist der lokale Einflussbereich von Facebook aber noch nicht abgesteckt. Denn selbst Wohltätigkeit kann als Instrument für die Ausweitung der Konzernherrschaft dienen. Dies wird etwa deutlich, wenn eine Geldspende dazu führt, dass das öffentliche Krankenhaus in San Francisco als „Zuckerberg General Hospital“ nun den Namen des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg zu Markte trägt. Oder wenn viele der Organisationen und NGOs, die in East Palo Alto gegen die negativen Auswirkungen des Tech-Unternehmens ankämpfen, von Facebook finanziert sind. In den Worten der lokalen Aktivistin Ofelia Bello: „Facebook vereinnahmt NGOs, die eigentlich wirklich gute und wichtige Arbeit leisten. Und das ist ein großes Problem, denn es schürt Misstrauen in einer Gemeinschaft, die bereits an allen Ecken und Enden mit Problemen zu kämpfen hat.“

Kritisiert werden diese Machtverstrickungen von Anwohnenden schon lange. So auch pointiert während der jüngsten lokalen Black-Lives-Matter-Proteste in Reaktion auf die Ermordung von George Floyd durch die Polizei in Minneapolis. „Nehmt nicht an Veranstaltungen teil, die von Facebook organisiert werden. Bleibt ihrem „Bauernmarkt“ fern. Lasst euch nicht von Facebook vereinnahmen,“ rät JT Faraji von der Real Community Coalition den Anwohner*innen, die sich an diesem Nachmittag im Juni 2020 in East Palo Alto versammelt haben, um gegen Polizeigewalt, institutionellen Rassismus und die Rolle der lokal ansässigen Tech-Unternehmen zu protestieren.

Zu diesem Zweck überqueren die Demonstrant*innen als ersten die mehrspurige Autobahn, die ihre Stadt vom reichen Palo Alto abschneidet, und ziehen dann in einem mehrstündigen Protestmarsch vor eine Liegenschaft von Mark Zuckerberg und anschließend zum Facebook Welthauptsitz am 1 Hacker Way. Dort fordern sie, dass der Konzern seinen Deal mit der lokalen Polizei rückgängig macht und stattdessen bessere Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen für seine prekär beschäftigte und an Subunternehmen ausgelagerte Arbeiter*innenschaft bietet. Die Verbindungen zwischen den beiden Anliegen sind hier für alle offensichtlich. „Janitors for Black Lives Matter“ (Hauswärte für Black Lives Matter), steht etwa auf einem der Schilder. Oder „No Justice, No Peace, No Facebook Police“.

Ausgelagerte Serviceworkers unite!

Vor der Pandemie staute sich hier der Verkehr um den Welthauptsitz meist kilometerweise bis hinein in die Wohnquartiere in East Palo Alto. Ein Zeichen, wie sehr der Zustrom von hochbezahlten Arbeitskräften im Tech-Sektor die lokale Infrastruktur überlastet. Während Anwohner*innen in East Palo Alto tagein tagaus in den Abgasdämpfen des stockenden Kolonnenverkehrs sitzen, arbeiten Facebook-Angestellte hingegen gemütlich im mit Wifi ausgestatteten Shuttlebus hinter den getönten Scheiben. Rund 6000 Angestellte transportierte allein Facebook täglich in firmeneigenen Bussen. Ein Zweiklassensystem, dass sich tief in die lokale Geografie eingegraben hat und bereits existierende Segregation und soziale Ungleichheiten noch verschärft.

Dies zeigt sich nun auch während der Covid-19-Pandemie. Facebook gehört neben Twitter und Square zu jenen großen Tech-Unternehmen, die bereits angekündigt haben, dass viele ihrer hochbezahlten Angestellten ab jetzt permanent von zu Hause arbeiten können. Geht die Dystopie einer völlig überlasteten lokalen Infrastruktur nun nahtlos in die Dystopie eines hyperüberwachten Home-Offices über? Facebook testet solche Überwachungstools jedenfalls gerade an der eigenen Arbeiter*innenschaft. Prekär-ausgelagerte Arbeiter*innen aus East Palo Alto sind hingegen wiederum die ersten, die durch die Schließung von firmeneigenen Cafeterien und die Reduktion anderer systemrelevanter Dienstleistungen vor Ort nicht nur ihren Job, sondern ihre Lebensgrundlage verlieren.

Das Unternehmen will aber auch in Zukunft hier Präsenz markieren. Ob der ursprünglich geplante Ausbau auf 35‘000 Mitarbeitende im Welthauptsitz – mehr als die Bevölkerung von Menlo Park! – tatsächlich umgesetzt wird, steht jedoch in den Sternen. Aber eines ist klar: Die Macht von Facebook manifestiert sich nicht nur in virtuellen Netzwerken. Sie basiert auch auf der Aneignung von Raum, lokaler Infrastruktur, und der Verschärfung bereits bestehender sozialer Ungleichheiten im Umfeld ihrer dann doch ganz herkömmlich-dinghaften Bürokomplexen.

Ohne die Arbeit der Menschen in der Underdog-Version der Company Town würde hier jedoch erst mal gar nichts gehen. Wie ein Kartenhaus würde das Facebook-Imperium in sich zusammenbrechen, ohne die unbezahlte digitale Arbeit von Millionen Nutzer*innen weltweit. Und ohne die systemrelevante Arbeit von Unterhalt, Sorge, und Pflege durch jene, die routiniert Zielscheibe der Polizei werden und die üppigen Spielwiesen der Tech-Hauptsitze nur als Dienstleister*innen kennen. Die Hochglanzversion des geplanten „Facebook Village“ ist eine Illusion, denn sie suggeriert, dass diese Realität ganz einfach wegretuschiert werden kann.

Anm.d.Red.: In Teil I dieses zweiteiligen Essays, der in der vergangenen Woche in der Berliner Gazette erschien, hat Katja Schwaller den Kontext für die hier beschriebenen Arbeitskämpfe ausgeleuchtet: Gig Economy und Covid-19-Pandemie. Der Beitrag basiert auf dem Silent-Works-Konferenzvortrag der Autorin, der auf Vimeo als englischsprachiger Video-Talk verfügbar ist: https://vimeo.com/480410376

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