Stadt und Pandemie: Silicon-Valley-Urbanismus, kritische Infrastruktur und ‚System-Relevanz‘

“Kritische Infrastruktur” ist während der Covid-19-Pandemie in den Vordergrund gerückt. Kann die unsichtbar gemachte Arbeit von Menschen, die so genannte systemrelevante Dienstleistungen (innerhalb eben dieser Infrastruktur) erbringen, im Zuge dessen auch sichtbarer werden? Wenn ja, könnte dies eine unerwartete Gelegenheit für Arbeitskämpfe sein? In ihrem zweiteiligen SILENT WORKS-Essay geht die in San Francisco lebende Stadtforscherin Katja Schwaller diesen Fragen nach und konzentriert sich dabei insbesondere auf die gesellschaftlichen Bereiche, in denen Big Tech in den öffentlichen Sektor expandiert. Eine Tour auf die dunkle Seite des Silicon Valley.

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Oranger Rauch steigt in den Himmel. E-Roller der Start-ups Lime and Bird sind als Blockade vor einem Google-Bus aufgetürmt. Aktivist*innen in Schutzanzügen und N95-Atemmasken entrollen Transparente auf einer stark befahrenen Straßenkreuzung in San Francisco. In Zeiten der Covid-19-Pandemie keine ganz unübliche Ästhetik, könnte man vielleicht denken. Die Protestaktion fand aber nicht im Unheilsjahr 2020, sondern bereits im Frühling 2018 statt. Lange bevor das Stadtbild von maskentragenden, eilig vorbeihuschenden Gestalten und verbretterten Geschäften geprägt war und N95-Masken zu einer gesuchten Rarität mutierten.

Ich möchte diese Aktion zum Anlass nehmen, um über die strukturellen Bedingungen der Covid-19-Pandemie nachzudenken, wie sie hier in der Bay Area, Hochburg der „Disrupters“ und der Silicon-Valley-Ideologie, in den letzten Monaten zutage getreten sind. Denn wie die Protestästhetik verdeutlicht, wurden die Grundsteine für toxische Ausbeutungsverhältnisse lange vor der Pandemie gelegt. Privatisierung der kritischen Infrastruktur, prekarisierte Arbeitsbedingungen, Übernahme des städtischen Raums, Zerschlagung von gewerkschaftlich organisierten Sektoren – eigentliche Grundpfeiler vieler Geschäftsmodelle lokal angesiedelter Tech-Unternehmen.

Techsploitation is toxic“

Dies schafft Rahmenbedingungen, welche die Verbreitung des neuartigen Coronavirus, und insbesondere die höchst ungleichen sozialen Auswirkungen der Pandemie, enorm begünstigen. Denn: „Techsploitation is toxic“, wie es auf den Transparenten der Aktivist*innen heißt, ein Wortspiel aus Technologie und Ausbeutung. Und zwar vom Sweatshop über die Gig Economy bis zur Elektrosondermüll-Deponie. Die Aktion – eine jener „Google-Bus“-Blockaden, die sein 2013 immer wieder Schlagzeilen machen – setzt damit Gentrifizierungsprozesse vor der eigenen Haustür mit globalen Zulieferketten und prekären Arbeitsbedingungen in der Tech-Industrie in Verbindung. Ein Ansatz, der im Zuge der weltweiten Pandemie nur noch an Wichtigkeit dazugewonnen hat.

Beispiele für prekäre und oft unsichtbar gemachte Arbeit*innen in der Tech-Industrie, die von dieser Aktion beleuchtet werden, sind etwa auch die Fahrer*innen der „Google-Busse“, wie die privaten Shuttle-Flotten von Facebook, Apple, Yahoo, oder eben Google gemeinhin genannt werden. Diese chauffieren hochbezahlte Programmierer*innen und Softwareengineer*innen zwischen ihrem Arbeitsplatz im Silicon Valley und dem hippen San Francisco hin- und her, lassen andere Arbeiter*innen aber im Regen stehen. Gut ein Dutzend solcher Privatliners gingen den Aktivist*innen während der morgendlichen Blockade-Aktion ins Netz. Öffentliche Busse sind hingegen viel seltener anzutreffen – ein Hinweis, wie stark das Zweiklassensystem aus dem Silicon Valley die städtische Infrastruktur bereits ausgeblutet hat.

Weiter von der Aktion hervorgehoben wird die prekäre Arbeit der „unabhängigen Vertragsnehmer*innen“, welche die E-Roller von Start-ups wie Bird und Lime einsammeln und wiederaufladen, ohne Grundeinkommen oder Sozialleistungen, genau wie andere Arbeiter*innen in der Gig Economy. Ironischerweise werden diese E-Roller gerne als grün, nachhaltig und sozialverträglich angepriesen. Dabei sind sie Teil von spekulationsbasierten Geschäftsmodellen, die ganz auf die „Disruption“ öffentlicher Verkehrsmittel und gewerkschaftlich organisierter Sektoren wie die Taxi-Industrie setzen, im Versuch, Monopole zu schaffen und ihre eigenen Markbewertung in die Höhe zu treiben. Der E-Roller selbst ist da eigentlich nicht viel mehr als ein Platzhalter für im Hintergrund ablaufende Spekulationen. Als solcher landet er oft frühzeitig auf einer giftigen Elektrosondermüll-Deponie im globalen Süden und damit in den Händen von noch prekärisierteren Arbeiter*innen.

Welcome to Uber-City?!

Unternehmen der Plattform-Ökonomie profitieren also häufig von Abhängigkeiten und Prekarisierungen, die sie mit ihren disruptiven Geschäftsmodellen selbst vorantreiben. Zum Beispiel, indem sie eben gewerkschaftlich organisierte Sektoren wie die Taxi-Industrie zerschlagen und den öffentlichen Verkehr unterminieren. Oder wie im Falle von Airbnb, einem weiteren global agierenden Tech-Unternehmen mit Hauptsitz in San Francisco, die Mieten in die Höhe treiben und die Wohnungsnot in vielen Städten zuspitzen. Dann bieten diese Firmen ihre eigenen Service-Leistungen als Lösung an: Wer die Miete nicht mehr berappen kann, soll „Host“ werden oder in der „Freizeit“ als „unabhängiger Vertragsnehmer*in“ für Uber dazuverdienen.

Und natürlich generieren diese Aktivitäten, da sie über konzerneigene digitale Plattformen abgefertigt werden, auch Unmengen an Daten, die von den Unternehmen analysiert, weiterverkauft und strategisch ausgewertet werden können. Sei es, um Konkurrent*innen im Kampf um Marktanteile auszubooten oder um die eigenen Arbeiter*innen intelligenten Algorithmen zu unterwerfen, die jede Bewegung kontrollieren und ständig neue Targets oder schnellere Produktionsrhythmen einführen.

Im Versuch, Konkurrent*innen auszuspielen, indem mit Unterstützung mächtiger Inverstor*innen Preise und Löhne gedrückt und Marktanteile erobert werden, setzen Unternehmen wie Uber auch auf die Ausweitung ihres Einflusses im jeweiligen Sektor, im Falle Ubers, Mobilität. So bietet Uber nicht nur Rideshares an, sondern expandiert auch in den App-basierten E-Bike-Verleih (Uber Jump), einen eigenen Essensausliederdienst (Uber Eats), einen privaten Bus-Service (Uber Bus), Krankentransporte (Uber Health) und so fort. Dies erlaubt ein flächendeckenderes Bild der Mobilitätsgewohnheiten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, oft bis vor die eigene Haustür. Diese umfassende Datenerhebung wiederum erhöht den Wettbewerbsvorteil von Unternehmen wie Uber, die übrigens auch keine Profite erwirtschaften müssen, solange die Investor*innen mit hohen Aktienkursen bei Laune gehalten werden können.

Die Übernahme physischer Infrastruktur ist für Unternehmen der digitalen Marktökonomie also von strategischer Bedeutung, auch wenn App-basierte Angebote den Eindruck erwecken mögen, dass sich Örtlichkeit und Materialität in der digitalen Wolke geradezu in Luft auflösten. Wie zentral etwa das Beobachten und Auswerten von Konsument*innenverhalten im nicht-virtuellen und insbesondere auch städtischen Raum ist, zeigen auch die Übernahme der Bio-Supermarktkette Whole Foods durch den Online-Riesen Amazon oder Projekte wie „Google Urbanism“, welche die profitorientierte Datenerhebung im städtischen Raum vorantreiben.

Zuckerberg General Hospital

Strukturelle Bedingungen wie diese, die bereits vor der Pandemie geschaffen wurden, haben den Verlauf der Covid-19-Krise in der Bay Area und ihre hochgradig ungleichen sozialen Auswirkungen maßgeblich geprägt. Die Pandemie tritt dabei weniger als radikaler Wendepunkt zu Tage, sondern fungiert vielmehr als Beschleuniger für bereits existierende soziale Ungleichheiten und prekäre Arbeitsbedingungen. Dazu gehört in San Francisco auch, wie Tech-Unternehmen und neoliberale Governance die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur bereits seit Jahrzehnten befördert haben. Sinnbildlich dafür steht etwa auch das öffentliche Krankenhaus in San Francisco, das als „Zuckerberg General Hospital“ den Namen des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg zu Markte trägt. Ein Beispiel, wie selbst Wohltätigkeit in der städtischen Übernahme durch Konzerne eine strategische Rolle spielen kann.

Kehren wir nun noch einmal zu unserem Anfangsbeispiel zurück. Bedenken wir, wie sehr Google-Busse, Uber, und Start-up-E-Roller den öffentlichen Verkehr bereits unterminiert haben. Angesichts der zusätzlichen pandemiebedingten Einbußen wird nun besonders augenfällig, dass sich die Stadt nun gezwungen sieht, voraussichtlich über die Hälfte seiner öffentlichen Buslinien permanent zu streichen. Ein typisches Beispiel für einen Austeritätsurbanismus, der bereits benachteiligte Gruppen besonders hart trifft.

Als Gewinner der Krise aufgestiegen sind hingegen Unternehmen wie Amazon und Instacart mit ihren plattformbasierten (und „kontaktfreien“) Hauslieferdiensten. Amazons zunehmende monopolistische Position – noch zusätzlich befeuert durch die Unterminierung des öffentlichen Postdienstes durch Trump im Vorfeld der Wahlen – stellt auch die politischen Machtverhältnisse auf den Kopf. Oder wie es Julia Carrie Wong jüngst in der Tageszeitung The Guardian ausdrückte: Welcome to the US of Amazon. Die Fulfillment-Centers des Konzerns sind derweil zu eigentlichen Virusschleudern mutiert, da Arbeiter*innen-Proteste gegen die gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen und fehlende Schutzkleidung während der Pandemie im Keim erstickt werden.

Als systemrelevante und prekarisierte Arbeiter*innen besonders vom Virus und den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind wiederum Gruppen, bei denen sich Klassenausbeutung und race überlagern. So macht etwa die Latin@-Community in San Francisco gerade einmal 15 % der Stadtbevölkerung aus, verzeichnet aber fast 50 % der städtischen Covid-Fälle. Die Rolle als systemrelevante Dienstleister*innen ist dabei häufig mit prekären Wohnbedingungen und langjährigem strukturellem Rassismus gekoppelt, der oft regelrecht in den städtischen Raum eingeschrieben ist. Armut, Segregation und Umweltrassismus wiederum zeitigen negative Gesundheitsfolgen, wie auch die hohen Covid-19-Todesraten in der schwarzen US-Bevölkerung krass veranschaulichen.

Angriff auf die “kritische Infrastruktur“

Masseninfektionen in Obdachlosenunterkünften und in Gefängnissen weisen ebenfalls darauf hin, wie sehr die bestehende Infrastruktur – inklusive die Infrastruktur der Masseneinkerkerung und eines rassistischen Polizeiapparates – die Rahmenbedingungen für die disparaten Auswirkungen der Pandemie abgesteckt hat. Die jüngsten Flächenbrände, die sich im August während Wochen rund um die Bay Area ganze Landstriche einverleibten, brachten dieserart Überlagerungen besonders dringlich ans Tageslicht. Häftlinge werden nämlich auch als Arbeiter*innen ausgebeutet, zum Beispiel in der harten und gefährlichen Arbeit der Feuerbekämpfung. Die „Bezahlung“ beläuft sich auf wenige Dollar pro Tag und ein Job bei der Feuerwehr nach Haftentlassung wird den meisten aufgrund der Vorstrafe verwehrt, obwohl sie dafür bestens ausgebildet wären – und dringend benötig würden.

Covid-19 hat diesem Teufelskreis nun noch einen weiteren Twist verpasst. Die notorisch überbelegte Anstalt San Quentin in der Bay Area etwa stellt einen der größten lokalen Hotspots der Pandemie, mit über 2000 infizierten Insassen, Zweidrittel der ganzen Belegschaft. An Unterstützung für die Feuerbekämpfung durch Häftlinge ist da nicht mehr zu denken. Wer nicht krank ist befindet sich aufgrund von Covid-19 im Lockdown – eine humanitäre Katastrophe und einer der Gründe, warum die USA mit ihren rekordhohen Gefangenzahlen die Pandemie nicht in den Griff bekommt. Und warum die Feuer weiter lodern und Zehntausende mitten in der Pandemie evakuiert werden mussten.

Für schuldig befunden, einige der tödlichsten Flächenbrände der jüngeren Geschichte durch infrastrukturelles Missmanagement mitverursacht zu haben, ist wiederum das private Unternehmen PG&E, das für die „öffentliche“ Stromversorgung zuständig ist. Kurz: unsere eigene Infrastruktur ist hier in den USA oft tödlich. Und das ist kein Zufall, sondern Resultat gezielter politischer Interventionen.

Zynischerweise wird auch der Angriff auf die „kritische Infrastruktur“ einer Krankenversicherung inmitten einer zugespitzten Gesundheitskrise nicht nur von den Republikaner*innen angeführt, die in Washington gerade daran arbeiten, den Affordable Care Act („Obamacare“) rückgängig zu machen und potentiell weitere gut 20 Millionen Menschen im Regen stehen zu lassen. Auch Unternehmen, die mitten in der progressiven Vorzeigestadt San Francisco angesiedelt sind, arbeiten aktiv an der Unterminierung der Rechte und Sozialleistungen von Arbeitnehmenden. An vorderster Stelle stehen auch hier wiederum Gig-Unternehmen wie Uber, Lyft und Postmates, die Millionen in eine lokale Initiative (Proposition 22) pumpten, um zu verhindern, dass ihre „unabhängigen Vertragsnehmer*innen“ künftig als Angestellte behandelt werden müssen, inklusive Sozialleistungen wie bezahlte Krankentage. Uber drohte sogar mit der sofortigen Abwanderung aus Kalifornien, sollten die gesetzlichen Rahmenbedingungen zum wirtschaftlichen Nachteil der Unternehmensanleger*innen angepasst werden. Ein typischer Versuch der Gig Economy, lokale Politiker*innen zu erpressen und die eigene prekäre Arbeiter*innenschaft als Lobby für das unternehmenseigene disruptives Geschäftsmodell zu mobilisieren.

Gig-Workers reagierten mit großen Organisierungen und Protesten, inklusive einer Autokarawane vor dem Uber-Hauptsitz an der Market Street in San Francisco, wo das disruptive Unternehmen jahrelang von öffentlichen Subventionen in Form von Steuererleichterungen profitierte. Die Stadt San Francisco lehnte die Uber-finanzierte Proposition 22 zwar ab, die Initiative gewann am 3. November jedoch eine Mehrheit im Bundesstaat Kalifornien, was potentiell auch die Weichen stellt für weitere Vorstöße des Konzerns und zukünftige Arbeitskämpfe in anderen US-Orten oder sogar weltweit. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr die Ausblutung des öffentlichen Verkehrs, die Zerschlagung gewerkschaftlich organisierter Sektoren und die überwachende Datengenerierung durch Plattformunternehmen neue Abhängigkeiten beförderen und disruptiven, spekulationsbasierten Geschäftsmodellen Auftrieb verschafft. Und das kann durchaus auch gesundheitsschädigend sein. Denn, „Techsploitation is toxic“ – gerade in einer globalen Pandemie.

Doch auch die Proteste gehen weiter.

Anm: Mehr zu Protesten und Kämpfen gibt es in Teil II dieses zweiteiligen Essays: https://berlinergazette.de/klassenkampf-politisches-potenzial-der-covid-19-krise/ Der zweiteilige Beitrag basiert auf dem Silent-Works-Konferenzvortrag der Autorin, der auf Vimeo als englischsprachiger Video-Talk verfügbar ist: https://vimeo.com/480410376

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