Die Zukunft als Feld des virtuellen Bergbaus, oder: die künstliche Intelligenz des Klimakollaps

Der Showdown zwischen Carbon-Kapitalist*innen und Post-Carbon-Kapitalist*innen ist nicht zuletzt auch ein Kampf um die kollektive Wahrnehmung der Klimakatastrophe. Ein Spektakel, das darauf abzielt, uns mit schnellen Antworten abzuspeisen und uns daran zu hindern, den herrschenden Wirtschaftsmodus – lies: Kapitalismus – schonungslos zu hinterfragen, wie der Medienwissenschaftler Paul Schütze in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” mit Blick auf die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI) argumentiert. 

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In einem Vortrag über den drohenden Klimakollaps beschreibt der Klimaaktivist und Schriftsteller George Monbiot anschaulich, wie alles, worauf die Gesellschaft aufgebaut ist, von der Stabilität komplexer planetarischer Klimasysteme abhängt – alles, was geliebt und gehasst wird, jeder Traum und Wunsch, jeder Gedanke und Plan. Werden diese Systeme instabil oder brechen sie zusammen, geht auch alles andere mit ihnen zugrunde. Besorgniserregend ist vor allem, dass der Zusammenbruch dieser Klimasysteme kein fernes Szenario mehr ist, sondern in naher Zukunft liegt.

Diese beängstigende Realität ist auf das gegenwärtige Wirtschaftssystem, sein energieverschwendendes Gewinnstreben und seinen ressourcenverzehrenden Extraktivismus zurückzuführen. Die zerstörerische Instrumentalisierung der Natur ist grundlegend in den Prozessen des Kapitalismus verwurzelt, denn sie machen “die Natur ‘billig’ im Preis” und damit “in einem ethisch-politischen Sinne minderwertig”, wie Jason W. Moore in seinem Buch “Anthropocene or Capitalocene? “ beschreibt.

Insofern stehen wir als ForscherInnen, AktivistInnen und JournalistInnen vor der Herausforderung, immer wieder deutlich zu machen, dass der Kapitalismus als Ganzes überwunden werden muss – sei es der Carbon-Kapitalismus oder seine neuere, schrillere Variante, der grüne Kapitalismus. Jedoch ist in deren Schatten eine neue kapitalistische Form entstanden, die aber in Bezug auf die Klimakrise bisher weitgehend vernachlässigt wurde: der KI-Kapitalismus. Ein Begriff, der von Nick Dyer-Witheford sowie Magdalena Taube und Krystian Woznicki 2019/2022 geprägt wurde, wenn auch mit etwas anderen Intentionen.

Der Aufstieg des KI-Kapitalismus

Viele der heute größten und wertvollsten Unternehmen der Welt, wie Google, Amazon, Meta, Baidu, Tencent und andere, sind KI-Unternehmen. Dies zeigt, dass KI – hier verstanden als Überbegriff für verschiedene Algorithmen des maschinellen Lernens und der Datenanalyse – in den letzten Jahren zu einem grundlegenden Bestandteil der Wirtschaft geworden. Sie hat inzwischen den Stellenwert einer Allzwecktechnologie, die in der gesamten Wirtschaft in einer Vielzahl von Bereichen eingesetzt wird.

KI hat eine solche Bedeutung erlangt, dass man sie in der marxistischen Terminologie sogar als allgemeine Produktionsbedingung bezeichnen kann. Oder, um es mit Timo Daum zu sagen: Künstliche Intelligenz ist die neueste Maschine des modernen Kapitalismus. Das heißt, KI-Technologien sind die wichtigsten Werkzeuge, um die riesigen Datenmengen, die heute praktisch überall gesammelt werden, zu verarbeiten und zu verwerten. All diese Daten werden dann durch ihre algorithmische Verknüpfung zu einer Ware, die als Big Data bekannt ist. In der gegenwärtigen Form des Kapitalismus ist diese Ware zentral für das Erzielen von Gewinnen – sie stellt die Essenz der wirtschaftlichen Tätigkeit dar. Und so hängt die Verwertung von Daten, deren Extraktion und Auswertung, im Wesentlichen von KI-Technologien ab. Kurz gesagt: KI in Verbindung mit Big Data ist zu einem grundlegend bestimmenden Prozess des heutigen Kapitalismus geworden.

Doch trotz dieser grundlegenden Veränderungen innerhalb des Wirtschaftssystems hat der KI-Kapitalismus im Zusammenhang mit der Klimakrise noch nicht viel Aufmerksamkeit erhalten. Ein Grund dafür ist das Versprechen grüner KapitalistInnen, dass “das Digitale” generell “sauber” und “klimaneutral” sei und damit keine wirklich neuen Herausforderungen für das Klima darstelle. Und wenn sich Kritik am KI-Kapitalismus regt, bezieht sie sich hauptsächlich auf den massiven Ressourcenverbrauch der zugrundeliegenden Infrastrukturen und der immer „besseren“ Technologien. Eine solche Kritik zielt im Wesentlichen auf die inhärenten Probleme des kapitalistischen Systems im Allgemeinen ab, also auf das Profitstreben und den planetarischen Extraktivismus. Doch abgesehen von diesen berechtigten und notwendigen Diskussionen bringt der der Datenextraktivismus der KI-Technologien seine ganze eignen Probleme für Klimagerechtigkeit und Umweltschutz mit sich, die in der Regel nicht ausgesprochen werden.

Wie der Datenextraktivismus die Zukunft gestaltet

Auf eines dieser Probleme möchte ich hier eingehen: Durch die allgegenwärtige Extraktion von Daten – also der Anhäufung, Auswertung und Verwertung immenser Datenmengen – zielt der KI-Kapitalismus grundsätzlich darauf ab, eine kontrollierbare Zukunft zu erschaffen. In ihrem Buch über den Überwachungskapitalismus beschreibt Shoshana Zuboff treffend einen entscheidenen Ausgangspunkt diesen Unterfangens, nämlich die Mission von Google die Informationen der Welt zu organisieren und universell zugänglich zu machen. Dank Googles Absicht bleiben Informationen, die normalerweise veralten und in Vergessenheit geraten würden, nun ewig erhalten. Auf diese Weise werden durch den Datenextraktivismus die Vergangenheit und die Gegenwart gesammelt, gespeichert und verfügbar gemacht. Viel entscheidender ist jedoch, dass auf dieser Grundlage auch die Zukunft festgesetzt wird. In ihrer Aggregation und Anwendung helfen Big Data und prädiktive Algorithmen Unternehmen und Regierungen, das kollektive Bewusstsein zu erfassen, unsere Wahrnehmungen der Welt zu beeinflussen und somit maßgelblich auch die Zukunft zu gestalten. Mit anderen Worten: KI-Technologien bestimmen zunehmend, was in der Zukunft liegt; sie bestimmen, was Datensubjekte sehen werden, wo sie leben, wohin sie reisen, was sie kaufen und wie sie letztlich in Notfällen handeln werden.

Artwork: Colnate Group (cc by nc)

Wie Shoshana Zuboff beschreibt, bauen auf solchen prädiktiven Analysen Märkte auf, die ausschließlich mit menschlichen Zukünften handeln. Big Data und KI werden also dazu genutzt, um die Unsicherheiten menschlichen Handelns beherrschbar zu machen und so eine Zukunft mit minimaler Unsicherheit zu schaffen. Dies bezeichnet die Rechtswissenschaftlerin Antoinette Rouvroy als “Datenbehaviorismus“. Das bedeutet, dass die Zukunft nicht nur vorhergesagt wird – im Sinne einer Prognose von Wahlergebnissen oder Ähnlichem. Vielmehr wird die Zukunft aktiv gestaltet und bestimmt – so bestimmt Google die Informationen die wir sehen können, während Banken und Krankenversicherungen uns ihre Dienste verweigern, weil sie uns als kreditunwürdig oder gesundheitsgefährdet einstufen. Wichtig ist hier, dass diese Zukunft fast ausschließlich für die Imperative des KI-Kapitalismus gemacht ist. Wie Jathan Sadowski es formuliert, ist es das erklärte Ziel der KI-basierten Zukunftsgestaltung, die Gesellschaft so zu terraformen, sodass Big Tech gedeihen kann.

Entscheidend ist, dass in dieser Zukunft – die immer noch von den Interessen des Kapitals dominiert wird – kein Platz für Klimaschutz oder eine gerechte Transformation ist. Solche Themen werden an den Rand gedrängt. Die Visionen des KI-Kapitalismus richten sich in der Tat nur an eine privilegierte Gruppe von Menschen, nämlich an diejenigen, die in die Ziele und Visionen von Big Tech hineinpassen, die ihre Dienste adäquat nutzen und sie sich leisten können. So beschreibt Adrian Daub in seinem Buch “What tech calls thinking“, wie die Mobilitätsdienste von Lyft und Uber nur für Menschen funktionieren, die ein Smartphone besitzen, damit umzugehen wissen und auch eine Kreditkarte besitzen, die für die Installation ihrer Apps benötigt wird. Die Fantasien des KI-Kapitalismus stellen also ein restriktives und selbstbestimmtes Projekt dar, in dem andere Bedürfnisse und Perspektiven verdrängt und ausgeschlossen werden.

Die Klimakrise ist für dieses kapitalgesteuerte Projekt natürlich kein Thema. Vielmehr fungiert der Datenextraktivismus, wie Jonathan Beller anschaulich beschreibt, als eine Form der radikalen Enteignung, die insbesondere die Marginalisierten und den globalen Süden betrifft. Das Ergebnis ist, wie Beller es ausdrückt, eine “totalitäre systemische Praxis, trotz der relativ klaren Tatsache, dass die Erde auf eine Umweltkatastrophe zusteuert und dass zwei Milliarden Menschen … schon jetzt damit beschäftigt sind, das real existierende Armageddon zu überleben.” Während der Carbon-Kapitalismus die Zukunft gestohlen hat und immer noch stiehlt, setzen die technologischen Entwicklungen des KI-Kapitalismus diesen Diebstahl fort. Indem sie das kollektive Bewusstsein kolonisieren, fügen sie jedoch noch eine zusätzliche Ebene hinzu: Basierend auf den Visionen einer perfekten, also weniger unsicheren und grüneren Zukunft, werden Normen und Richtlinien für das Hier und Jetzt diktiert. Das zugrundeliegende Versprechen eines besseren Planeten ist natürlich ein falsches. Denn es sind Visionen, die vom KI-Kapitalismus konstruiert werden und weder die Klimakrise noch die Interessen der Marginalisierten und der am meisten Betroffenen berücksichtigen.

Die Visionen des KI-Kapitalismus

Doch was sind die Visionen des KI-Kapitalismus und wohin führt diese Zukunft? Bereits 1993 hat die technologiekritische und feministische Wissenschaftlerin Sue Curry Jansen in Worte gefasst, was man nicht besser hätte vorhersagen können: “‘Astronauten’, die sich darauf vorbereiten, den Planeten mit ‘goldenen Fallschirmen’ zu verlassen, sollte man nicht zutrauen, das Ozonloch zu flicken”. Wir “können es uns nicht länger leisten, die Jungs mit ihrem Spielzeug allein zu lassen”. Etwa 30 Jahre später wurden “die Jungs” – die Jansen pauschal als die westliche männliche Elite bezeichnet, also die Wissenschaftler, Technologen und Unternehmer an der Spitze des KI-Kapitalismus – viel zu lange allein gelassen. Sie sind buchstäblich zu Astronauten geworden, die gleichzeitig versuchen, die Klimakrise mit ihren KI-Lösungen und Technofixes zu bezwingen.

Im Jahr 2021 flog Jeff Bezos – der Gründer von Amazon, einem der größten Akteure im KI-Kapitalismus – ins All, während sein Unternehmen angeblich CO2-neutral werden will. Der Raketenstart von Bezos fand zu einer Zeit statt, in der Teile des Amazonaswaldes – eine der größten CO2 Senken der Welt – anfingen, CO2 auszustoßen, anstatt es zu absorbieren. Dies zeichnet ein fast karikaturhaftes Bild der Realität: Der neue Amazonas des KI-Kapitalismus verdrängt den alten Amazonaswald. Gleichzeitig arbeitet Elon Musk, der digitale Technologe und Unternehmer par excellence, an der Kolonisierung des Mars, während sein Unternehmen Tesla an der Spitze der angeblich “nachhaltigen” Mobilität steht. Und sind ihre Pendants in der Golfregion nicht von einem ähnlichen wahnhaften Eskapismus getrieben?

Während es den Jungs und ihren Spielzeugen gelungen ist, die Massen davon zu überzeugen, dass sie mit ihrem Techno-Solutionismus den Planeten retten, tragen sie in Wirklichkeit dazu bei, die Krise immer weiter zu verschärfen. Dies gibt nur einen kleinen Einblick in die Zukunft, die vor uns liegt.

Der Mitbegründer von Google, Larry Page, hatte die Vorstellung, dass mensch Google niemals Fragen stellen müsse. Vielmehr sollte die Suchmaschine die Antwort immer schon wissen und geben, bevor man die Frage überhaupt stellen kann. Er beschreibt damit präzise das Ideal einer vorbestimmten Zukunft, die von KI-Konzernen kontrolliert wird. Es ist eine Vision, die auf einer kapitalorientierten Epistemologie aufbaut und durch Datenextraktivismus untermauert wird. In ihrer extremen Ausprägung lässt sich dies auch an Facebooks Rebranding als “Meta” und der Unternehmensvision eines Metaverse beobachten. In klassischer KI-kapitalistischer Manier zielt das Unternehmen im Wesentlichen darauf ab, eine völlig neue digitale Welt zu schaffen, in der alles, was mensch braucht, will oder sich vorstellen kann, möglich und in Reichweite ist und immer von Meta bereitgestellt und vorhergesagt wird.

Geht es also um eine gerechte Transformation zu einer “besseren Zukunft”, muss immer mitgedacht werden, dass terraformierte Gesellschaften sowohl auf systemischer als auch auf individueller Ebene wenig Raum für eine solche Transformation lassen. Es ist schwer, dem Bild der Realität zu entkommen, das der KI-Kapitalismus erzeugt. Innerhalb dieses Bildes wird die Klimakrise zu einem entfernten und abstrakten Merkmal einer Welt, die scheinbar von datenextraktivistischen Träumen überlagert und beherrscht wird. Die Klimakrise und die Bemühungen um eine gerechte Klimapolitik werden auf diese Weise vernebelt und vernachlässigt – oder durch Greenwashing verharmlost. Letztlich bleiben sie im Nebel der von KI und Big Data konstruierten Welt verborgen und gehen in den Bewegungen des KI-Kapitals Richtung Zukunft verloren. Diese oft vernachlässigten Mechanismen müssen im Auge behalten werden, wenn es darum geht, die dem Status quo zugrunde liegenden Strukturen aufzubrechen.

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette. Die englische Version ist auf hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website: https://after-extractivism.berlinergazette.de

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