Nach der Dreifachkatastrophe vom 11. März hat sich in Japan nicht viel geändert. Dennoch ist nichts mehr so, wie es vorher war. WAS BLEIBT auf lange Sicht? Gerade im Hinblick auf die Technologie-Abhängigkeit und die Funktion der digitalen Medien im öffentlichen Raum wird sich vieles ändern. Zu diesem Fazit kommt die renommierte Medienwissenschaftlerin Yvonne Spielmann. Sie ist derzeit zum wiederholtem Male auf einer Forschungsreise in Japan und blickt für uns tief ins Neonlicht.
Ich bin seit einigen Wochen wieder in Japan. Von einer Krise spürt man ohne weiteres Nachfragen wenig. Erst wenn Themen wie Essen, Erdebenvorsorge und Fragen der radioaktiven Luft- und Trinkwasserverseuchung aufgeworfen werden, bekommt man Antworten, die über das vorherige “alles ist wie immer” hinausgehen.
Besorgnis erregen vor allem Nahrungsmittel. Hier herrscht eine große Ungewissheit. Den offiziellen Angaben wird nicht mehr uneingeschränkt geglaubt. Es gibt kritische Stimmen, die bestimmte Speisen meiden und genau nachfragen: Wo kommt das Gemüse her? Wo kommt der Fisch her? Wird der neu geerntete Reis, der neue Tee ausreichend geprüft? Andere dagegen meinen: Man müsse die Bauern unterstützen, die in den Provinzen um Fukushima herum ihre Waren verkaufen müssen, weil der Staat ihnen keine Entschädigung zahlt. Doch man sollte nicht vergessen: Es gehört sich nicht in Japan, ständig kritisch nachzufragen – etwa, wo das Stück Fisch in dem Sushi herkommt.
In diesem Sinne bestätigen sich nach dem 11. März meine Erfahrungen aus früheren Reisen: Die Menschen in Japan neigen nicht zum Diskurs und heftigen Auseinandersetzungen. Das haben die sehr geduldigen Reaktionen auf die Katastrophe auch der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt. Allerdings haben sich unterhalb dieser sichtbaren Oberfläche die Dinge anscheinend doch stark verändert. Der Technologieoptimismus scheint im Hinblick auf die Regierung und die Konzerne gebrochen. Niemand glaubt mehr einer Regierung, die die zulässigen Höchstwerte für akzeptable radioaktive Strahlung nach einiger Zeit heruntersetzt.
Warum waren sie vorher höher? Und was passiert mit den Menschen, die den höheren Werten ausgesetzt waren? Diese Fragen stehen im Raum. Im Alltag scheint jedoch das Vertrauen in das Funktionieren der Technik immer noch vorhanden. Das ist in einer Kultur, in der praktisch jede Toilettenspülung vollautomatisch erfolgt und jeder über über einen, wenn nicht mehrere Kleincomputer verfügt, nicht verwunderlich.
Die Abhängigkeit von Technologie
Die Notwendigkeit einer breiteren Intervention in die insgesamt weiterhin unreflektierte Technologieabhängigkeit wird von vielen Medienpraktikern erkannt. Dabei ist sicherlich zu unterscheiden zwischen dem täglichen Computerbedarf und den politisch-gouvernemental-korporativen Monopolen, die erstmals fundamental in breiten Schichten der Bevölkerung in die Kritik geraten.
Der Widerstand wächst nicht nur gegen Atomkraft, sondern vor allem gegen die staatlich-industrielle Steuerungspolitik und inakzeptable Informationspolitik. Viele beziehen ihre Informationsquellen mittlerweile aus dem Ausland. Gleichzeitig sind keine Anzeichen erkennbar, den Energiebedarf zu senken. Die Werbeflächen blinken wie zuvor in extremer Dichte die ganze Nacht hindurch, die Klimaanlagen laufen in allen öffentlichen Einrichtungen und Restaurants.
Als ich in den Nuller Jahren intensiv die digitale Medienkultur Japans erforscht habe, war für mich wichtig, mit eigenen Augen und Ohren die Superdichte der audiovisuellen Alltagskultur zu erfahren. Dazu zählen die sehr lauten, öffentlichen, großformatigen Screens. Ebenso die Praxis, dass praktisch jeder ständig mit seinem Mobiltelefon in der Hand beschäftigt ist. Nicht, um zu telefonieren, sondern mit allen möglichen anderen, jedoch geräuschlosen Anwendungen, wie beispielsweise E-mail, Textmessage, Internetrecherchen, Filme und Spiele. Dazu tragen fast alle Kopfhörer im Ohr.
Dieses Spannungsfeld von öffentlichem Lärm und privater Geräuschlosigkeit hat mich in meiner Forschung sehr beschäftigt. Jetzt frage ich mich: Reicht diese Oberflächenform der Medienpräsenz dazu aus, den politischen Optimismus zu transportieren, dass es schon irgendwie weitergehen wird? Oder brechen unter dieser homogenisierenden Oberfläche die Widersprüche und Heterogenitäten auf? All das scheint noch lange nicht entschieden. Auch weil es nicht absehbar ist, was die Menschen mit Mobiltelefon in der Hand auf der Agenda haben.
Zivilgesellschaft und offizielle Politik
Die Versuche der Medien und der Regierung, Normalität herzustellen, werden vom Großteil der Bevölkerung nicht angenommen. Es stellt sich eine Art Fatalismus ein: Man glaubt der öffentlichen Darstellung nicht, sieht aber keine oder kaum Alternativen und versucht sich zu trösten. Beispielsweise damit, dass alles schon nicht so schlimm sein wird und man auch dieses Mal tatkräftig die Katastrophe bewältigen kann. Nur nicht aufregen, das ist die Devise.
Ob Fernsehen oder die Shows auf den Werbeflächen an öffentlichen Plätzen für alle möglichen Produkte – all die öffentlichen Medien sind unverändert und völlig unberührt von der aktuellen Krise. Weder die Energie ist knapp, noch das Kapital, so scheint es. Diese glättende Hybridation mit ihrer digitalen Oberflächenästhetik wird wahrscheinlich nur so lange goutiert werden (vor allem von der Jugend), wie sich keine flächendeckende ökonomische Krise ausbreitet.
Im Prinzip ist jeder öffentliche Raum ein Raum, der von Werbe-Animationsgrafik besetzt ist. Auf den Straßen Japans hat man nicht den Eindruck, dass das Geld knapp wäre, wie in Europa. Es fällt allerdings auf den zweiten Blick auf, dass im Unterschied zu meinen Besuchen in Japan 2005/2006 und 2009 mehr Obdachlose auf den Straßen und in den rund um die Uhr beheizten Bahnhöfen zu sehen sind. Da diese Phänomene in Japan nicht diskutiert werden, ist es schwer, genauere Informationen zu erlangen.
Bildungsideal: Blick aus dem Hier und Jetzt in die Zukunft
Meine aktuelle Situation hier in Japan ist von Ungewissheit geprägt: Von Reisen in die nord-östlichen Regionen von Tokio wird nicht ausdrücklich abgeraten. Mehr Vorsicht und Ratschläge zur Vermeidung von Gefahren gibt es immer erst auf Nachfragen. Ich versuche, meinen Aufenthalt in Tokio zeitlich zu begrenzen. Ich reise nicht weiter nach Norden. Ich setze stattdessen den Schwerpunkt der Feldforschung Richtung Süden/Westen, bevorzuge also die Region Kyoto. Selbstverständlich ist das nur eine theoretische Sicherheit. Denn eines der von der Regierung als problematisch ausgewiesenen Atomkraftwerke steht unweit Osaka und Kyoto.
Wenn ich von hier aus ein bisschen in die Zukunft schaue, denke ich: In der kritischen Medienkultur wird sich viel tun. Zwar zeigen sich in diesem Bereich auf den ersten Blick keine großen Veränderungen. Doch diese werden sich in der Einstellung gegenüber Technologie und öffentlicher Medienkultur langfristig in künstlerisch-kreativen Projekten offenbaren – ob nun bei spielerischen Aktionen auf Twitter oder bei Eingriffen im öffentlichen Raum. Diese Projekte werden stärker als zuvor auf eine kritische Intervention gegenüber korporativ-kommerziellen Vorgaben setzen.
Zwar ist diese Strömung in der digitalen Medienkultur Japans seit den 1990er Jahren artikuliert. Doch leider erreicht sie die breite Öffentlichkeit nicht. Woran das liegt? Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon ist: In Japan gibt es zwar viele Studien- und Ausbildungsoptionen im Medienbereich. Doch diese sind vornehmlich auf Anwendungen und Produkte, also den Markt ausgerichtet. Sie weisen wenig Verbindung mit einem kritischen-künstlerischen Konzept auf, wie es im Westen entwickelt wurde.
Was hoffen lässt: Veränderungen im Bildungssektor Japans stehen seit einiger Zeit aus und könnten im Zuge der Krise torpediert werden. Denn wie kaum etwas anderes lässt die Krise den gängigen Marktglauben fragwürdig erscheinen. Das bisherige Bildungsideal wird unumgänglich obsolet.
Anm. d. Red.: Der Beitrag erscheint als Einstimmung auf die “Berliner Gazette”-Konferenz Learning from Fukushima. Das Foto Tokyo@Night stammt von Nobihaya (cc-by-nc-sa 2.0).
Aus dem Bericht kann ich nur folgern, die Japaner müssen Weltmeister im Verdrängen sein.
Die ersten Atombomben wurden bei ihnen abgeworfen. Wie kann dann ein Land sich so schamlos und naiv an diese mörderische Technik verkaufen lassen, frage ich.
@#1: “Weltmeister im Verdrängen”
ich glaube, die Verarbeiten anders. Auf die Differenz kommt es an, nicht auf eine Festschreibung “SO MACHEN DIE DAS”. Die machen es anders. Auch das Verdrängen. Ich kenne Japan nicht so genau, aber so würde ich das auf andere Kulturkreise, die unseren nicht ähnlich sind, generell sehen.
ich lese daraus etwas anderes: es ist kompliziert und man muss differenzieren, Schwarz-Weiss-Denken hilft nicht weiter. In China steht KRISE für Möglichkeit. Möglichkeit für was? ich lese hier, dass es in verschiedene Richtungen gehen kann. Alles andere wäre doch illusorisch.