Rentner, Marsmädchen und Bärbel Höhn bei einer Anti-Atomkraft-Kundgebung in Kyoto

Atomkraft hat nicht nur Vorteile. Trotz Fukushima hat sich diese Einsicht noch nicht bei allen Menschen in Japan herumgesprochen. Entsprechend hat die Grünen-Politikerin Bärbel Höhn vergangenen Sonntag bei einer Anti-Atomkraft-Kundgebung ihr blaues Wunder erlebt. Marsmädchen inklusive. Die Künstlerin und Berliner Gazette-Autorin Nina Fischer fängt die widersprüchliche Stimmung ein.

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Kyoto, Maruyama Park, 13 Uhr: Wir befinden uns auf einer Anti-Atomkraft-Kundgebung mit Bärbel Höhn von den Grünen, verschiedenen Aktivisten aus der Anti-Atomkraftbewegung in Kyoto und Betroffenen aus der Umgebung der vielen alten Atomkraftwerke Japans und aus Fukushima. Frau Kato zum Beispiel, die mit ihrer Tochter nach Kyoto gezogen ist, gehört zu den unzähligen Flüchtlingen aus Fukushima, die von der Regierung für drei Monate kostenfreie Appartments zur Verfügung gestellt und auch für drei Monate einen Hilfsjob bekommen.

Das Publikum besteht zu 90% aus Rentnern

Die Kundgebung findet in einer Open-Air-Musikbühne im Maruyama Park statt. Am Eingang gibt es hunderte von Infozetteln über alles, was die Menschen bewegt. Die Tochter eines koreanischen Funktionärs für erneuerbare Energien moderiert die Veranstaltung. Sie hat sich sehr schick gemacht: mit riesig hohen Absätzen und einem niedlichen Kleidchen. Auf dem Podium sitzen Sprecher von aktivistischen Gruppen, Betroffene, Bürger mit Che-Guevara-Attitüde und eine Fernsehtalk-erprobte Nonne in einem lilafarbenen Gewand, haarlos, mit einem kräftigen Lachen Anekdoten raushauend.

Das Publikum besteht zu 90% aus Rentnern. Alt-68er, Kommunisten mit roten Bändchen, der Arbeiterbewegung aus Osaka (alles Tagelöhner) und deren Gewerkschaft, dann Bildungsrentner, die endlich mal Bärbel Höhn erleben wollten und dann, ganz versprengt, ein paar Jüngere, die sich seit Fukushima für das Thema Atomkraft interessieren. Darunter gemischt auch Anhänger der Partei für die Anerkennung von Außerirdischen.

Die Menschen reagieren auf Appelle wie „das Volk sollte das Recht haben, seine Energie selbst herzustellen und ins Netz zu speisen, und mit dem Ausstieg aus der Atomenergie haben wir nur Vorteile, …“ mit einem trockenen “Honto”? (zu Deutsch: ach wirklich?). Solche Parolen scheinen zu abstrakt. Besonders die These, daß man mit dem Ausstieg aus der Kernkraft auch die Wirtschaft ankurbelt durch Umbau auf erneuerbare Energien, ruft ein besonders lautes “Honto?“ hervor.

Was ist eigentlich schlecht an Atomkraft?

Dass Kernkraft auch gefährlich ist, zählt Bärbel Höhn nur in einem Nebensatz auf, bei einer Aufzählung der Vorteile des Ausstiegs: „Verringerung von Atommüll und Gesundheitsrisiken“. So sehr dieser Punkt in Deutschland schon Konsens ist, dass er kaum noch erwähnt werden muß, so wenig scheint dieser Fakt in Japan bislang ins kollektive Bewusstsein gesickert zu sein: dass Radioaktivität auch Schäden für die eigene Gesundheit hervorrufen kann, ist vielen offenbar noch nicht klar.

All dies ist sehr merkwürdig in einem Land, das so sehr gezeichnet ist von den Folgen des US-geführten Abwurfs der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima. Es ist wirklich schwer nachzuvollziehen: Japans Grundsatz der ausschließlich friedlichen Nutzung der Atomenergie hat offenbar zur Folge, dass man selbst seinen Frieden mit der Technologie schließt und sämtliche Risiken und Nebenwirkungen ausblendet. Doch wie einträchtig sind die Menschen mit dem Segen der Atomenergie wirklich? Und mit der innigen Freundschaft zu den USA?

In den Umzug der Demonstranten reiht sich gleich hinter Bärbel Höhn und der Kyoto Green Party auch die Anti-US-Fraktion „Raus aus Okinawa“, die Fraktion der Tagelöhner aus Osaka, die alten Kommunisten in ihren Rollstühlen, die Marsfraktion und ach ja ganz zum Schluss noch eine kleine Gruppe von Leuten, die gegen Atomkraft an sich demonstrieren. Darunter ein paar Künstler, die das erste Mal auf einer Demo mitlaufen und den begleitenden Ordnungshütern (mit blauen Käppis) freundlich zurufen: “Reiht euch ein!” …in die Anti-Atomkraft-Fraktion mit Fahrrädern, einer handvoll Kinder, Pappschildern und rüstigen Rentnern.

Sonntagsshopper vs. Demonstranten

Der Zug der cica 300 Demonstranten schiebt sich auf der Straße schnellen Schrittes auf nur einer gesperrten Spur am Autoverkehr vorbei, stoppt an jeder roten Ampel, vor jedem Bus, aus dem Sonntagshopper strömen, die sich ihrer Lieblingsbeschäftigung widmen wollen und sich beherzt zur Ladenzeile durchkämpften. Der Strom der Sonntagsshopper überragt den der Demonstranten zwar an Masse. Aber er wird durch die Megaphonrufe der uralten Tagelöhner übertönt, dessen lautstarker Ruf eines jeden Matsuri Festes “Washi Washi” (Hau Ruck Hau Ruck) noch lange über den Straßen Kyotos nachhallt.

Das Gruppenfoto mit Bärbel Höhn, der Kyoto Green Party, Rednern des Podiums und den lustig verkleideten Marsmädchen (in Kimonos mit Hörnern) ist dann längst im Kasten. Längst hat der Protestmusiker seine Gitarre wieder eingepackt und auf dem Vorplatz des archaisch wirkenden Rathauses tanzen wieder wie jeden Sonntagabend die Rockabilly Jungs in schwarzen Lederoutfits mit hochgegelten Haaren und Kamm in der Gesäßtasche zu den Rock & Roll Klängen aus ihrem Ghettoblaster in der Abendsonne.

Anm.d.Red.: Der Beitrag erscheint als Einstimmung auf die “Berliner Gazette”-Konferenz Learning from Fukushima. Nina Fischer hat diese Reportage gemeinsam mit Maroan el Sani verfasst. Gemeinsam recherchieren sie derzeit in Japan die Folgen von Fukushima und drehen dazu einen Film. Weitere Erlebnisberichte folgen im Laufe dieses Jahres. Das Foto oben stammt von Junji Kurokawa (AP Photo) und zeigt eine Straßenszene am Rande eines Anti-Atomkraft-Protests in Japan. Die beiden Fotos darunter stammen von Nina Fischer und Maroan el Sani, aufgenommen bei der Kundgebung in Kyoto.

4 Kommentare zu “Rentner, Marsmädchen und Bärbel Höhn bei einer Anti-Atomkraft-Kundgebung in Kyoto

  1. Klasse Text! Lässt sich sehr schön lesen und dieser leicht ironische Ton gefällt mir. Ich würde sehr gerne mal ein paar Fotos davon sehen…

  2. @#1: eigentlich ist die Reportage schon bildhaft genug :)
    Aber wir haben jetzt zwei Fotos von Nina Fischer und Maroan el Sani eingearbeitet, die bei der Kundgebung entstanden sind.

  3. Es erstaunt nicht, dass über 50 Jahre nach Hiroshima nur die “Alten” und “Außerirdischen” motiviert genug sind, sich dem Thema zu stellen. Moderne demokratische Gesellschaften kranken an der Freiheits-Übersättigung und am “Fisch-Syndrom” (die reale Welt hört dort auf, wo das Glas beginnt). Deshalb sind die Massen allenfalls zu Party-Events zu bewegen, aber nicht zum nachhaltigen Schutz ihrer natürlichen Umgebung. Es muss im Aquarium noch wesentlich enger werden bis die Fische nach neuen Ufern suchen werden. Das ist eine Tragödie, aber kein zwangsläufiger Vorgang – wie wir Deutsche es wohl zeigen.

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