Was bedeutet es, in Fukushima zu leben? Die Autorin Marika Yoshida beschreibt das Unbeschreibliche. Eine lyrische Suchbewegung – ein Jahr nach der Dreifachkastrophe.
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Ich lebe in Fukushima, in einer Gegend mit einem relativ niedrigen Grad an radioaktiver Verseuchung. Ich bin sicher, dass es viele Menschen gibt, die sich selbst dazu entschlossen haben oder aber gezwungen wurden, in einem Gebiet mit einer größeren nuklearen Gefahr zu bleiben. Einige von Ihnen werden sich angegriffen fühlen, wenn sie diese Notiz lesen, da sie denken, dass ich doch in einem “sichereren” Gebiet wohne und nur “überreagiere”. Wenn Sie zu diesen Leuten gehören, dann löschen Sie meine Notiz einfach.
Ganz egal, ob andere Leute denken, mein Gebiet wäre “sicher”, ich habe trotzdem Angst und ich mache mir trotzdem Sorgen. Dabei geht es mir nicht nur um die radioaktive Strahlung in meiner Umgebung. Meine Ängste rühren auch daher, dass Informationen, die einst als Fakten galten, viele Male verworfen und geändert wurden. Egal was die anderen sagen, ich fühle, was ich fühle. Und ich denke, dass wir unsere Erlebnisse nur verarbeiten können, wenn wir uns unsere wahren Gefühle eingestehen.
In Fukushima leben heißt für mich …
Nie wieder morgens das Fenster zu öffnen und tief durchzuatmen
Nie wieder unsere Wäsche draußen trocknen zu lassen
Das Gemüse, das in unseren Garten wächst, wegzuwerfen
Ein Stechen im Herzen zu haben, jedesmal wenn ich meine Tochter das Haus verlassen sehe mit einer Schutzmaske vor dem Gesicht und einem Strahlendosimeter im Gepäck, ohne dass ich sie daran erinnert hätte
Keinen Schnee anfassen zu können, selbst wenn er noch so weiß aussieht
Gereizt zu reagieren, wenn ich den Fight on, Fukushima-Slogan höre
Zu bemerken, dass ich jetzt nur noch flach atme
Immer schnell anzufügen “ja aber die Radioaktivität in meinem Gebiet ist noch niedrig…”, wenn ich jemandem sage, wo ich lebe
Das Gefühl zu haben, dass ab jetzt immer ein 福島 (Fukushima im japanischen Schriftsystem) und ein FUKUSHIMA (in lateinischen Buchstaben) existiert
Mir Sorgen darüber zu machen, ob meine sechsjährige Tochter in Zukunft mal heiraten kann
Manchmal meine Verantwortung dafür, dass ich Fukushima als Wohnort gewählt habe, aufgeben zu wollen
Jeden Morgen aufs Neue mein Verständnis tief in meinem Inneren darüber zu erneuern, daß unser Alltag jetzt auf einer eisdünnen Schicht von Sicherheit beruht, die durch die Aufopferungsgabe und durch die Bemühungen anderer aufrechterhalten wird
Jede Nacht zu denken, dass ich dieses Haus möglicherweise morgen verlassen und weit fort gehen muß
Trotzdem jede Nacht zu beten, dass wir morgen noch in diesem Haus leben können
Dass ich diesen schwarzen Rauch nicht vergessen kann
Dass ich wütend werde – jeden Tag
Dass ich bete – jeden Tag.
Anm.d.Red: Dieser Beitrag ist eine redigierte Fassung der von Marika Yoshida verfassten Notiz – ins Deutsche übersetzt von Alena Eckelmann. Übersetzungen in weitere Sprachen erscheinen auf Senrinomichi. Das Foto wurde in Fukushima aufgenommen und stammt von ichigonotsukikage. Es steht unter einer Creative Commons Lizenz.
unglaublich!!
Unheimlich…
klasse Artikel. Genauso sieht es aus. Es ist wirklich krass, dass Leute, die sich Gedanken machen und Sorgen, von den Mitmenschen als “supernervous” abgestempelt werden, und dieses “being nervous” schon fast einem outing gleich kommt in Japan.
Die Künstler Nina Fischer und Maroan el Sani arbeiten gerade an einem Film über die Folgen von Fukushima in Japan, darüber gab es heute einen Artikel, hier:
http://www.art-magazin.de/kunst/49855/fukushima_filmprojekt
danke!
an upcoming berlin event on fukushima, 23.03: https://www.facebook.com/events/262893817123949/
Die Rede von Marika san werden wir morgen in japanischer und franzosicher Sprache lesen (http://www.senrinomichi.com/?p=4993)
http://www.senrinomichi.com/?p=4811