Neu-Ordnungen: Japans Großmachttraum, Lektionen der Katastrophe und der globale Systemwandel

Die Katastrophe vom 11.3.2011ff markiert für Kojin Karatani das Ende des Strebens nach nationaler Macht und Größe. Somit auch das Ende einer Ära im Zeichen des Kapitalismus. Im Rahmen des Berliner Gazette-Schwerpunkts WAS BLEIBT? analysiert Japans bedeutendster Philosoph die Funktion von Katastrophen als Endpunkt und Neubeginn von sozialen Ordnungen. Bei einem Streifzug durch die jüngste Geschichte macht Karatani deutlich: Der Absturz der kapitalistischen Großmacht Japan kann als Vorbote eines globalen Systemwandels gesehen werden.

Ich war auf den Straßen Tokios, als das Erdbeben begann. Die Erde bebte heftig, während die Gebäude um mich herum für lange Zeit schwankten. So etwas hatte ich noch nie erlebt und ich spürte, dass etwas Schreckliches passiert war. Als erstes musste ich an das Erdbeben von Kobe denken, bei dem im Jahr 1995 mehr als 6000 Menschen starben. Obwohl ich das Erdbeben damals nicht persönlich miterlebt habe, war mein Heimatort, in dem viele enge Verwandte lebten, auch davon betroffen und so machte ich mich sofort auf den Weg zum Schauplatz der Katastrophe. Ich lief die Straßen entlang, wo Gebäude um Gebäude zu Trümmern zusammengefallen waren.

Wirtschaftskrise und Katastrophe

Die aktuelle Katastrophe übersteigt eindeutig das Erdbeben von Kobe. Denn sie umfasst auch die Schäden durch den Tsunami an Küstenregionen auf einer Strecke von hunderten von Kilometern sowie die Folgen der nuklearen Katastrophe. Das sind nicht die einzigen Unterschiede. Das Erdbeben von Kobe kam aus dem Nichts. Außer einer kleinen Anzahl von Experten hatte niemand an die Möglichkeit eines Erdbebens in dieser Region geglaubt. Das aktuelle Erdbeben hingegen wurde erwartet. Erdbeben und Tsunamis haben den Nordosten von Japan seit jeher erschüttert, Warnungen wurden in den letzten Jahren häufig ausgesprochen (die Probleme der Atomkraftwerke waren bekannt, Anm.d.Red.). Und doch haben Ausmaß und Folgen des jüngsten Erdbebens jede Vorahnung in den Schatten gestellt. Es lag nicht daran, dass die Größenordnung eines solchen Unglücks nicht vorhersehbar war, man hat sie schlichtweg bewusst ausgeblendet.

Es gibt einen weiteren Unterschied. Obwohl das Erdbeben von Kobe nach dem Platzen der Wirtschaftsblase in den 1980ern auftrat, als die Rezession das Land bereits erfasst hatte, mussten die Menschen erst noch richtig begreifen, dass Japans hochentwickelte Wirtschaft sich im Untergang befand. Aus diesem Grund war das Erdbeben in Kobe anfangs ein Symbol von Japans ökonomischen Niedergang. Diese Lektion war allerdings schnell vergessen, da die Nation umgehend versuchte, ein Zeitalter zurückzuholen, indem Japan als Nr. 1 galt: Statt innezuhalten, ging Japan nach dem Erdbeben von Kobe rückhaltlos auf neoliberalen Kurs – unter dem Vorwand, die Wirtschaft wiederzubeleben.

Im Gegensatz dazu war das Bewusstsein für die Rezession der Wirtschaft vor der gegenwärtigen Katastrophe bereits weit verbreitet. Sinkende Geburtsraten und das zunehmende Altern der Bevölkerung ließen keine positiven Prognosen zu. Obwohl leere nationalistische Rhetorik von Japans Aufschwung zur Supermacht nach wie vor die Massenmedien beherrscht, wird die Menschen von einer anderen Idee beseelt. Es geht darum, die Realität nicht länger auszublenden, ein nachhaltiges Wachstum zu initiieren, was wiederum eine Neuformierung der Wirtschaft und Zivilgesellschaft verlangt. In diesem Sinne kommt die aktuelle Katastrophe nicht als ein überraschender Schock für die Wirtschaft. Sie bestätigt vielmehr aktuell existierende Tendenzen und in gewissem Sinne auch die Probleme, die in der Zeit nach dem Erdbeben von Kobe übersehen wurden.

Tabula rasa: Das Entstehen neuer Ordnungen

In der Folge des Erdbebens von Kobe war ich zuallererst beeindruckt von der Fassung, mit der ältere Menschen den Verlust ihrer Häuser hinnahmen. Genauso wie sie in den abgebrannten Ruinen des Zweiten Weltkriegs alles wieder aufbauten, mussten sie auch jetzt wieder von Vorne beginnen. Weiterhin gab es eine Vielzahl von jungen Freiwilligen, die in Zeiten des Wohlstands aufgewachsen waren, und sich doch aus ganz Japan zusammenfanden, um zu helfen und Gemeinschaften für gegenseitige Unterstützung zu bilden. Dieses Phänomen gab es nicht nur in Japan. Ich habe von ähnlichen Vorkommnissen nach dem kürzlichen Erdbeben in China gehört.

Es wird gemeinhin angenommen, dass mit dem Schwinden der sozialen Ordnung (wie nach einer Katastrophe) ein Hobbes’scher Naturzustand entsteht, in dem Menschen sich wie Wölfe zueinander verhalten. Die Realität ist aber, dass Menschen, die sich in der sozialen Ordnung des Staates mit Angst gegenüberstanden in Folge eines Unglücks in neuer Weise zueinander finden und sich gegenseitig unterstützen. Mit Blick auf das Erdbeben in San Francisco aus dem Jahr 1906 sowie auch spätere Katastrophen, gehen aus Desastern, so Rebecca Solnit in A Paradise Built in Hell (2009), außergewöhnliche Gemeinschaften hervor. Es kommt zu einer spontanen Form von Ordnung, die sich von der des Staates unterscheidet.

Es war dieser Typ von Gemeinschaft, der nach dem Erdbeben von Kobe entstand. Aber Japans eigene historische Erfahrung kam zusätzlich ins Spiel. Denn die Ruinen, die das Erdbeben hinterließ, riefen die gleichen psychologischen Zustände hervor wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Menschen zusammenkamen, um über den Krieg zu sprechen und über die Geschichte des modernen Japans, die in den Krieg führte. Das „Paradies“, das nach dem Unglück entstand, war allerdings kurzlebig und die Erinnerung an den Krieg verschwand mit ihm.

Als die Ordnung nach dem Erdbeben von Kobe wieder hergestellt war, bestand der gesellschaftliche Großversuch darin, die Katastrophe als eine Möglichkeit zu nutzen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Premierminister Koizumi förderte verstärkt neoliberale Trends und trat nebenbei die Friedensverfassung aus Nachkriegszeiten mit Füßen, als er Japans Selbstverteidigungstruppen in den Irak schickte. Das Ergebnis war dennoch eine weiterhin anhaltende wirtschaftliche Stagnation und eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Bald darauf musste die Liberal-Demokratische Partei ihre lang erhaltene Macht an die Demokratische Partei Japans abgeben. Doch die neue Regierung war nicht in der Lage das Land auf einen anderen Kurs zu bringen.

Das war die Situation, als das aktuelle Erdbeben das Land erschütterte. Einmal mehr wurden im Zuge der Katastrophe die Geister der Zerstörung nach dem Krieg beschworen. Zusätzlich weckte die Krisensituation in der Atomkraftanlage Fukushima Erinnerungen an Hiroshima und Nagasaki. Nach dem Krieg bestand in Japan eine starke Abneigung gegen nukleare Waffen und Atomkraft allgemein. Selbstverständlich gab es eine starke Front gegen den Bau von Atomkraftanlagen in Japan. Nichtsdestotrotz unterstütze der Staat in Folge der Ölkrise in den 1970ern die Entwicklung von Atomkraftanlagen. Frühe Kampagnen proklamierten, der Bau von Atomkraftanlagen sei eine Notwendigkeit für wirtschaftliches Wachstum, während in den letzten Jahren behauptet wurde, dass Atomenergie den Ausstoß von CO2 verringern könne und damit einen positiven Einfluss auf die Umwelt habe. Dass diese Aussagen eine kriminelle Täuschung von Seiten der Industrie und der Regierung darstellten, wurde durch die aktuellen Geschehnisse nur allzu klar.

Katastrophenkonjunktur: Das Ende des Kapitalismus

In den Ruinen des Nachkriegsjapans reflektierte die Bevölkerung über den Weg, den das Land in der Moderne eingeschlagen hatte. Den westlichen Mächten gegenübergestellt, strebte Japan nach dem Status einer Militärgroßmacht. Das Zerschlagen dieses Traums durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg führte zu einem anderen Ziel, nämlich dem, eine wirtschaftliche Großmacht zu werden. Diese kapitalistische Utopie konnte sich lange halten, doch die aktuelle Katastrophe hat die Sinnlosigkeit dieser Bestrebungen deutlich zum Vorschein gebracht.

In Wahrheit ist es nicht die Wirtschaft Japans allein, die versagt hat. In den frühen 1970er Jahren trat der globale Kapitalismus in eine Zeit schwerwiegender Rezession ein und hat es seitdem nicht geschafft, den Rückgang im Profit zu überwinden. Der Kapitalmarkt konnte sich vorübergehend vor dem Niedergang retten: durch globale Finanzinvestitionen und durch das Ausweiten von Investitionen im Industriebereich auf frühere „Dritte Welt“-Regionen. Der Zusammenbruch dieser Strategie wurde im Zuge des sogenannten Lehman-Schocks evident. Währenddessen geht das beschleunigte Wachstum von Ländern wie China, Indien und Brasilien weiter. Dies wird allerdings nicht lange anhalten können. Es ist unvermeidbar, dass Löhne steigen und ein Konsumlimit erreicht wird.

Aus diesem Grund wird der globale Kapitalismus zweifellos in 20 oder 30 Jahren nicht mehr tragfähig sein. Das Ende des Kapitalismus ist aber nicht das Ende menschlichen Lebens. Wir werden auch ohne kapitalistisches Wirtschaftswachstum oder Wettbewerb leben können. Vielmehr werden Menschen erst dann zum ersten Mal wirklich leben können. Natürlich wird die kapitalistische Wirtschaft nicht einfach ein Ende finden. Um solch einen Ausgang zu verhindern, werden die Großmächte ohne Zweifel weiterhin um natürliche Ressourcen und Märkte kämpfen. Ich bin jedoch der Meinung, dass Japan solch einen Weg nie wieder einschlagen sollte. Ohne die aktuelle Katastrophe hätte Japan zweifellos weiterhin einen sinnlosen Kampf um den Großmachtstatus geführt, aber dieser Traum ist jetzt undenkbar geworden und sollte aufgegeben werden.

Die Katastrophe vom 11.3.2011ff hat nicht Japans Niedergang verursacht, sondern die Möglichkeit einer Wiedergeburt eröffnet. Womöglich können Menschen nur inmitten von Ruinen den Mut finden, einen neuen Weg einzuschlagen.

Anm.d.Red: Dieser Essay wurde von Anne-Christin Mook ins Deutsche übersetzt. Die Bilder stammen aus dem Akira Kurosawa-Film Yume.

19 Kommentare zu “Neu-Ordnungen: Japans Großmachttraum, Lektionen der Katastrophe und der globale Systemwandel

  1. weitsichtiger Beitrag – sollte man einmal pro Jahr veröffentlichen, bis 2033 wenigstens

  2. mich irritiert dieser satz:

    “Selbstverständlich gab es eine starke Front gegen den Bau von Atomkraftanlagen in Japan.”

    ist/ war das tatsächlich so? bisher dachte ich immer, das gegenteil sei der fall…

  3. fragt sich was “stark” und “front” genau bedeuten soll… und ob man sich das so vorstellen kann… wie hier zulande… eher nicht oder?

  4. in Japan wird vieles, was “stark” gefühlt oder gedacht wird, nicht unbedingt ausgesprochen…

  5. apropos “Dinge unausgesprochen lassen”:

    Fernsehen tabuisiert Scherze mit AKW

    Mehrere Fernsehsender in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben mit dem Hinweis auf das Reaktorunglück in Japan darauf verzichtet, Folgen der satirischen Zeichentrickserie The Simpsons über eine Nuklearkatastrophe auszustrahlen. Das ist eine falsche Entscheidung, meint der Vorsitzende der flämischen Nationalisten, Bart de Wever, in seiner festen Kolumne in der Tageszeitung De Standaard: “Vielleicht prallen The Simpsons und Fukushima für die deutsche Öffentlichkeit hier … zu sehr auf die Grenze zwischen Komödie und Tragödie. Die Einsicht, dass der japanische Reaktor ungestraft von solchen Leuten gemanagt wird, die mehr Ähnlichkeit mit Homer Simpson und Monty Burns haben, als wir für möglich hielten, ist zu schmerzlich. Wir wollen lieber die Tragödie der tapferen Japaner sehen, die auf eine übermenschliche Weise gegen das Schicksal kämpfen, das sie nicht durch den fehlbaren Menschen, sondern offensichtlich durch die Hand Gottes selbst getroffen hat. Wenn die Angst regiert, muss das Lachen weichen.”

    http://www.eurotopics.net/de/archiv/article/ARTICLE85598-Fernsehen-tabuisiert-Scherze-mit-AKW

  6. wenn man den Aussagen Akio Tanakas traut (ich las seinen Beitrag über Atomkraft in Japan zu WAS BLEIBT) letzte Woche, dann war diese “starke Front” gegen friedliche Atomkraft nicht stark genug, um sich gegen den Bau von Kraftwerken durchzusetzen und vor allem nicht stark genug verzahnt mit der Front gegen die Atombombe…

    “stark” lese ich hier vor allem auch im Vergleich zu den anderen zivilgesellschaftlichen Ambitionen innerhalb des Landes, nicht so sehr im internationalen Vergleich, da ist das Engagement wohl eher als schwach zu beurteilen.

  7. Die Leistungen mancher kluge Köpfe wurden erst postum anerkannt, mal sehen…

  8. @nadja: danke, wir haben den Text auch gelesen, eine Stelle, die zu Karatanis Überlegungen ganz gut passt, ist:

    “Niemand weiß, ob diese Geschichte eines neuen Anfangs in allem gut endet, ob wir uns auf Risiken zubewegen, die heute keiner kennt.”

    Karatani würde jetzt wahrscheinlich auf den Kapitalismus bzw. die Wirtschaftsform zu sprechen kommen, Schirrmacher aber geht es um, man könnte sagen, das untergeordente System, sprich: Energie.

    “Doch dass die Kollateraleffekte größer sein könnten als die der Atomenergie, einschließlich des Endlagerproblems, ist bis zum Gegenbeweis höchst unglaubwürdig.”

  9. überaus interessant… über das Ende des Kapitalismus habe ich in letzter viel nachdenken müssen… wird es jemals kommen? werde ich es noch erleben? es scheint klar, dass es so nicht weitergehen kann, aber was genau soll passieren, damit sich etwas ändert?

    dass jetzt ein global player wie japan am Boden liegt könnte vielleicht ein Signal setzen

    1) weil Japan nicht Argentinien ist
    2) weil Japan jetzt einen neuen Start versuchen muss

    vielleicht können wir in Zukunft von Japan lernen, ohne darauf zu warten, dass eine Katastrophe der Auslöser ist…

  10. einer unserer Facebook-Freunde aus Tokio heisst David d’Heilly und er hat auf seiner Pinnwand gerade ein ganz interessantes Statement gepostet, das wir mit Euch teilen wollen – es passt gut zu dem Text von Kojin Karatani:

    “This could be Japan’s “moon landing” moment. Waiting for Kan to say that Japan will instigate a carbon-neutral non-nuke energy policy. In the States hedge-fund bastards would use their bail-out money to play both sides, and kill any move towards new energy supply infrastructure. The great hope for Japan it’s that it could actually fund and produce and implement these things domestically.”

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