Ich und Welt, dieses Verhältnis war mal die vertraute Formel, die das politische Subjekt konstituierte. Heute ist das Ich am Schwimmen, wie sich etwa am weltweiten Geschäft mit Staatsbürgerschaft zeigt, aber ebenso die Eckpfeiler der Welt verflüssigen sich: Staaten. Können Blumenbouquets dabei helfen, diese Verhältnisse zu ordnen? Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki geht dieser unerwarteten Frage nach.
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Der Visa Restrictions Index der Firma Henley & Partners präsentiert eine Rangfolge der “prestigeträchtigsten” Staatsbürgerschaften. Deutschland steht ganz oben. Am untersten Ende befindet sich Afghanistan. Die Rangfolge ergibt sich aus Freiheiten, Privilegien und Rechten, die die jeweilige Staatsbürgerschaft zugesteht oder nicht. Ein Fokus liegt auf Visa-Restriktionen und damit auf der Frage, in wieviele Länder man visafrei reisen kann. Ein Staatsbürger Deutschlands kann in über 170 Länder visafrei einreisen. Länder wie Deutschland oder Schweden, das im Index die Nummer zwei ist, stehen auch aufgrund solcher Rangfolgen für alles Erdenkliche, was auf diesem Planeten als begehrenswert und erstrebenswert gilt. Afghanistan, das im Index den letzten Platz belegt, steht für das Gegenteil.
So perfide diese Rangfolge erscheint, sie repräsentiert eine Realität, in der es zwischen den Staatsbürgern Deutschlands sowie den Staatsbürgern Afghanistans eine schier unüberwindbar große Kluft gibt. Können sich Staatsbürger Deutschlands mit all ihren Freiheiten, Privilegien und Rechten überhaupt vorstellen, was es bedeutet Staatsbürger Afghanistans zu sein? Diese Frage wird spätestens dann virulent, wenn Geflüchtete aus Afghanistan Schutz in Deutschland suchen und wenn es heißt sie zu “integrieren” oder sie wieder zu deportieren oder sie tausendfach zu einer freiwilligen Rückreise zu bewegen, wie etwa in der Weihnachtszeit des Jahres 2016 geschehen.
So ist die Hackordnung der “prestigeträchtigsten” Staatsbürgerschaften nicht zuletzt dann ausschlaggebend, wenn Menschen aus einer Notlage heraus nach einer neuen politischen (und ökonomischen) Zugehörigkeit suchen. Wenn Menschen bereit sind alles aufzugeben und alles zu riskieren, um ihr Herkunftsland zu verlassen und ihr Glück an einem anderen Ort zu versuchen. Wenn Menschen ihren Reisepass wegwerfen und ohne Papiere die Flucht antreten, in der Hoffnung am Ziel ihrer Reise, eine neue nationale Identität zu bekommen. Zum Beispiel in Deutschland. Doch was, wenn das nicht klappt? Viele, die sich auf den Weg machen, denken nicht immer so weit. Sie wollen ihre bisherige Staatsbürgerschaft loswerden und ihr Lebensumfeld so weit wie möglich hinter sich lassen.
Staatenlosigkeit, die bis zu einem gewissen Grad selbst gewählt und der Idee nach temporär sein soll, kann vor diesem Hintergrund als Befreiung und Aufbegehren gegen den Staat als Referenzsystem gesehen werden. Oder zumindest als inhärente Kritik daran. Das kann beispielsweise bedeuten, dass der eigene Pass entsorgt wird, um Abschied vom Herkunftsland zu nehmen und im Zuge dessen Widerstand gegen das Herkunftsland zu artikulieren (ob Iran oder USA) oder um gegen die Konstruktion des Nationalstaats durch den Kolonialherr zu protestieren, wie das etwa bei Männern aus Frankreich der Fall ist, die, bevor sie sich dem IS anschließen, demonstrativ ihre Pässe verbrennen – Propaganda-Videos von solchen Aktionen sind in Umlauf.
Freilich gibt es auch jene, die alles, was ihre Staatsbürgerschaft dokumentieren könnte, vernichten, um Abschiebungen zuvorzukommen: Wer keine Papiere hat, also “keine Identität”, kann geo-politisch nicht zugeordnet (und somit nirgendwo hin abgeschoben) werden. Menschen werden im Zuge dessen in die Illegalität getrieben, die sie häufig in Kauf nehmen: Obwohl sich die erwünschte Staatsbürgerschaft nicht realisieren lässt, ist wenigstens der Aufenthalt im gewünschten Land möglich. So wächst ein Subproletariat ohne Rechte und ohne Sichtbarkeit, dafür aber mit Jobs in einer flexibilisierten Wirtschaft, in der ohnmächtige Subjekte immer gefragt sind, weil sie am besten instrumentalisierbar sind.
Phantasma der Staatsbürgerschaft
Doch die kritische Diskussion greift zu kurz, wenn sich die Reflexion über selbstgewählte Staatenlosigkeit auf die Problematik der Illegalität beschränkt – selbst wenn jene als Katalysator eines politischen Subjekts begriffen wird, das den Raum des Demokratischen erweitert, weil es das vom Staat gegebene (sprich: gesetzlich erlassene) Referenzsystem überschreitet und somit, en passant, eine Form von Weltbürgertum kultiviert. Damit blendet die kritische Diskussion der selbstgewählten Staatenlosigkeit einerseits aus, dass hier das Phantasma der Staatsbürgerschaft nicht nur zur Institutionalisierung von Illegalität führen kann – jenes Subproletariat ohne Rechte und ohne Vertretung befördernd, das Schattenwirtschaften beflügelt. Ist eine solche Tendenz der Erweiterung des demokratischen Raums nicht geradezu diametral entgegengesetzt?
Andererseits blendet ein verkürzter Fokus auf Illegalität im Kontext selbstgewählter Staatenlosigkeit aus, dass es im zunehmenden Maße zu perfiden Spielarten eines Handels mit staatlicher Zugehörigkeit kommt: Wer als Asylbewerber oder illegalisierter Migrant die Illegalität im “Traumland” nicht in Kauf nehmen möchte oder kann, wem die Wege in die einstige Heimat versperrt bleiben, den lockt etwa der so genannte Islamische Staat (IS). Freilich, der IS taucht auf dem Visa Restrictions Index nicht auf. Man könnte argumentieren, er stehe lediglich für eine weitere Spielart der Illegalität. In dem Fall übersieht man allerdings, dass der IS das Phastasma der Staatsbürgerschaft auf seine ganz eigene Weise befeuert und dabei eine wie auch immer irreführende Strahlkraft entwickelt, die nicht zuletzt eine politische Dimension hat: Die politische Philosophie des IS fordert die politische Philosophie eines Landes wie Deutschland provokant heraus – nicht zuletzt im Hinblick auf die Freiheiten, Privilegien und Rechte, die eine Staatsbürgerschaft einräumen soll.
So gilt es die Erweiterung des demokratischen Raums nicht nur dahingehend zu reflektieren, wie sich politische Subjektivität außerhalb des Diskursrahmens “Staat” entwickelt – sondern auch innerhalb. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Konstituiert sich das Subjekt als politisches Subjekt über die Beziehung zu einer Macht; drückt sich diese Beziehung traditionellerweise in der Staatsbürgerschaft aus und spiegelt sich im Reisepass; so muss das Subjekt heute eine wichtige Verschiebung registrieren: Heute ist diese Macht nicht mehr mit der statischen Weltordnung von Staaten synonym, sondern mit einem dynamischen Vernetzungszusammenhang, den die Bewegungen von Menschen, Gütern, Daten und Kapital hervorbringen und der zugleich diese Bewegungen strukturiert.
Angesichts dieser Verschiebung erreichen die Phantasmen des Staates und der Staatszugehörigkeit ein Limit. Symptomatisch dafür ist, dass sie von den Phantasmen der Wirtschaft tendenziell ununterscheidbar werden. Allein der besagte Index der Firma Henley & Partners verweist darauf: Staatsbürgerschaft ist zu einer Art Aktie geworden, die bewertet, quantifiziert und gehandelt wird. Ein Prestigeobjekt, das auf dem internationalen Markt angeboten, gekauft und verkauft wird. (Im historisch selben Moment findet übrigens der intransparente Großhandel mit Datenprofilen statt, aber darüber wird an anderer Stelle zu sprechen sein.)
Dabei ist die jeweilige Staatsbürgerschaft sowohl das Produkt als auch der Katalysator des Vernetzungszusammenhangs, der alle Facetten unserer Realität prägt. Nehmen wir Afghanistans Staatsbürgerschaft als Beispiel. Sie ist mit Blick auf den Index die ‘wertloseste’ Staatsbürgerschaft der Welt. In dieser Eigenschaft ist sie das Produkt eines internationalen Zusammenhangs von Geopolitik und Wirtschaft, der historisch gewachsen ist und bis zu einem gewissen Grade dynamisch bleibt. Gleichzeitig hat sie die Funktion eine ‘Weltklassengesellschaft’ zu katalysieren, die die Hierarchie der Verhältnisse besagten Zusammenhangs ordnen und steuern hilft – so dass das, was ‘unten’ ist, unten bleibt.
Zugehörigkeit ohne Residenzpflicht
Die Hierarchie kann auch vom oberen Ende her betrachtet werden: Abhängig davon, wie vermögend man ist, sprich: wieviel Geld man ins Land bringen kann, lassen sich begehrte Zugehörigkeiten zu Nationalstaaten buchstäblich erwerben. Der Preis dafür ist stetig gestiegen. Das lässt sich etwa am Beispiel der USA nachvollziehen. Wer aus China kommt, muss heute eine Million US Dollar mitbringen, 15 Jahre zuvor waren 40.000 US Dollar ausreichend. Die Superreichen wiederum können es sich leisten, mehrere Staatsbürgerschaften zugleich zu haben, gewissermaßen für jeden Zweck eine: Familie, Arbeit, Vermögensverwaltung, etc. Duale oder multiple Staatsbürgerschaft avanciert zum ultimativen Statussymbol einer globalen Elite. All das wird nicht nur ermöglicht, sondern mit unternehmerisch aggressiven Mitteln befeuert durch Staatsbürgerschaftsbroker wie Henley & Partners oder Arton Capital.
Das Geschäft mit der Staatsbürgerschaft dreht sich immer wieder um Investitionen. Beispielsweise lockt ein karibischer Inselstaat wie St. Kitts potenzielle Investoren damit, finanzielles Engagement bei einem ambitionierten Immobilienprojekt werde mit einem ganz besonderen Bonus belohnt: Staatsbürgerschaft. Wer in einer bestimmten Höhe investiert, genau genommen 596.000 US Dollar, wird Bürger des Inselstaats – samt seiner Familienangehörigen. Residenzpflicht besteht nicht. Man muss nur fünf Jahre lang an dieser Investition festhalten, um die Staatsbürgerschaft auf sicheren Boden zu stellen. Darauf hin kann man die Anteile mit den selben Geschäftsbedingungen an andere Investoren verkaufen.
Das Programm bringt weitere Vorteile mit sich bringt: Einkommen muss nicht versteuert werden; Steuern auf private Veräußerungsgeschäfte, Geschenke und Erbschaften entfallen; darüber hinaus gibt es duale Staatsbürgerschaft sowie visafreies Reisen in zahlreiche Länder weltweit, darunter Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Schweiz und Kanada. Zahlreiche Investoren aus dem Nahen Osten und Afrika machen hier eifrig mit, nicht zuletzt weil die duale Staatsbürgerschaft ihnen ermöglicht, international geltende Reisebeschränkungen und Wirtschaftssanktionen zu umgehen.
Wie kommt so etwas zu Stande? Da tun sich Range Developments, ein Tochterunternehmen von Hyatt Hotels Corporation mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kiawah Partners zusammen, das wiederum ein internationaler “Resort Developer” ist und vereinbaren, ein Luxushotel auf St. Kitts zu bauen, welches unter dem Dach des “St. Kitts & Nevis Citizenship by Investment Program” finanziert werden soll. Am 16. Juli 2012 trifft man sich auf Dubai, um die Vereinbarung im feierlichen Rahmen zu besiegeln. Ein Event, flashige Werbebanner und Herren in maßgeschneiderten Anzügen auf einem Podium, vor ihnen ein dezentes Blumenbouquet.
Das Blumenbouquet gehört zur Standardausstattung eines solchen Treffens. Es ist eines von vielen kleinen Details, die den offiziellen Rahmen abstecken, ein dekoratives Element, das in einem ansonsten nicht sonderlich geschmackvollen Setting einen optischen Akzent setzen soll und zudem eine zeremonielle sowie repräsentative Funktion hat: einerseits symbolisiert es den gewichtigen Status des Abkommens, andererseits steht es für Macht und Kontrolle, die von der Vereinbarung ausgehen.
Status, Macht und Kontrolle
Solche Bouquets wären als nachrangiges Detail in den Akten der Geschichte verschollen, wären sie durch die Künstlerin Taryn Simon in ihrem Projekt Paperwork and the Will of Capital nicht in den Vordergrund gestellt worden. Die New Yorker Künstlerin konfiguriert das zeremonielle Blumenbouquet als Indikator für die Verschiebungen im Referenzrahmen der politischen Subjektivität und damit für die Neubestimmung der Weltordnung als solche – oder, wie Simon das selbst nennt, als zentrales Element einer “stagecraft of power”.
Simon hat das Abkommen vom 16. Juli 2012 auf Dubai und über 50 weitere vergleichbarer Meetings recherchiert, bei denen weitreichende Verträge über wirtschaftliche und politische Großprojekte abgeschlossen worden sind. Das obligatorische Blumenbouquet, das bei den Treffen immer präsent ist, hat sie in “Paperwork and the Will of Capital” akribisch rekonstruiert. Im Falle des Abkommens zum “St. Kitts & Nevis Citizenship by Investment Program” ist es ein Ensemble recht schlicht wirkender Hydrangea macrphylla: weiße Blumen mit grünen Blättern. Ihre Rekonstruktion dieses Bouquets hat Simon in einem zweifarbigen Setting fotografiert: brauner Boden, grüner Hintergrund.
Die präzise Reinszenierung des Bouquets wird komplettiert durch exakte botanische Angaben: Namen und Herkunft der Pflanzen. Insbesondere die Herkunft verweist darauf, dass, um solche Bouquets zu verwirklichen, auf ein globales Netz zurückgegriffen werden muss, welches aus unzähligen Knotenpunkten besteht: aus gigantischen Blumenzuchtanlagen wie der Longonot Farm (mit 49 Treibhäusern und einer Ernte von 72 Millionen Rosenstämmen pro Jahr), aus Arbeiterheeren und Bewässerungs- und Transporttechnologien, aus logistisch ausgefeilten Infrastrukturen und komplexen Marktmechanismen, usw.
Ein globales Netz, dessen paradoxer Zusammenhang sich etwa darin äußert, dass der Massenproduktion der Blumen in Afrika ein aufwändiger Export derselben mit dem internationalen Luftverkehr folgt – in die Niederlande etwa, wo mit Aalsmeer das weltweit größte Blumengeschäft liegt –, während die prekären Arbeitskräfte, die die nicht weniger aufwändige Zucht ermöglichen, im zunehmenden Maße ihre Heimat verlassen, um auf lebensgefährlichen Routen in den Globalen Norden zu gelangen.
Logistik des Blumenhandels
Simons Blumenbouquets sind das Produkt aber auch die Analyse eines weltweiten Vernetzungszusammenhangs, der durch Vereinbarungen ermöglicht und weiter ausgebaut wird, beispielsweise durch das “Nuclear Cooperation Agreement” (Bagdad, 2.12.1974), durch das “Treaty on European Union” (Maastricht, 7.2.1992), durch das “Agreement for Cooperation on China’s Beidou Navigation Satellite System” (Islamabad, 22.5.2013) oder durch das “Diamond Trade Agreement” (Moskau, 21.10.1997). Als emblematische Verdichtungen dieses globalen Netzes erscheinen die Blumenbouquets somit auch als vielschichtige Portraits einer Gesellschaft, die sich mit ihnen schmückt.
Diese Eigenschaft entfalten sie bereits in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Es ist der Zeitpunkt, in dem die kapitalistische Musternation zum “Nukleus des kapitalistischen Weltsystems” wurde, wie der Kapitalismuskritiker Joseph Vogl beobachtet: “Die Ökonomisierung des Regierens einerseits und die Integration privater Finanz in die Ausübung von Politik andererseits haben in den Niederlanden ein neues ‘diagrammatisches’ Gefüge von Macht ergeben”. Blumenbouquets, genauer gesagt Blumen-Stillleben, avancierten unterdes zu einem Statussymbol.
In einer Gesellschaft, deren Politik und Wirtschaft sich globalisierten, wurden sie als “unmögliche Bouquets” zelebriert, sprich: Sie erregten Aufmerksamkeit als ein phantastisches Ensemble von Blumen, die man unmöglich an einem Ort hätte pflücken können, weil sie aus unterschiedlichen saisonalen und geografischen Kontexten stammten. Auf diese Weise reflektierten Blumen-Stillleben die neue politische und ökonomische Reichweite gesellschaftlichen Wirkens und Agierens. Hier zeigte sich also nicht zuletzt die neue Macht des weltweiten Vernetzungszusammenhangs und somit auch der emergierende Referenzrahmen des politischen Subjekts.
Jenseits der Statik der Welt-Ordnung
Die Weltordnung, die nach dem westfälischen Frieden im Jahr 1648 entstand, hat bis heute eine gewisse Gültigkeit behalten. Die globale Ordnung aus Staaten und Staatsgrenzen war bereits zu diesem Zeitpunkt durch die heute so markant gewordene Disparität und Kontingenz von wirtschaftlichen Transaktionen informiert. Reisepässe, die daraufhin nicht zuletzt deshalb eingeführt wurden, um ein gewisses Maß an Kontrolle über diese Bewegungen einzuführen, sollten die politische Fiktion des Staats als festen Grund und Boden unterstützten. Im Kontrast zu dieser Fiktion begann sich der Staat zu verflüssigen. Welt und Welt-Ordnung wichen einer Dynamik und Mobilität des Zusammenhangs, in dem Staatsgrenzen überall auftauchen können.
Spätestens heute – etwa im Angesicht des Geschäfts mit Staatsbürgerschaft oder dem Aufkommen von Big-Data-Governance – muss die “Weltordnung” als quasi statisches Arrangement von Territorien wie ein Phantasma erscheinen. Doch dass Staaten und Staatsgrenzen die Stabilität und Verlässlichkeit eines politischen und wirtschaftlichen Referenzsystems vorgeben, in Wirklichkeit aber niemals garantierten – diese Diskussion ist auch in jenem Moment im Raum, als mit der Einführung von Staatsbürgerschaft so etwas wie Bürgerrechte annonciert worden sind, die in Wahrheit keine Rechte, sondern eine “Belohnung” für all jene waren, die im vorgegebenen Rahmen mitmachen konnten und wollten, wie der Sozialwissenschaftler Barry Hindess herausarbeitet.
Somit deutete sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt an, was heute für das politische Subjekt auf dem Spiel steht. Es ist die Herausforderung “hinter” der vermeintlichen “Weltordnung”, die aus Staaten (oder Noch-Nicht-Staaten) besteht, einen Welt-Zusammenhang, oder sagen wir, die Welt als Zusammenhang, zu registrieren. Anders als die Ordnung, die man quasi mit dem Blick vom Feldherrenhügel auf einer Karte oder mit dem panoptischen Blick des Überwachers auf einem Bildschirm herstellt, geht es beim Zusammenhang um jene Kräfte und Prozesse, Dynamiken und Bewegungen, welche, wie Joseph Vogl sagt, “die Welt im Inneren zusammenhalten”.
So gesehen ersetzt der Zusammenhang die Welt-Ordnung nicht einfach. Stattdessen unterwandert und überschreibt er sie, bringt sie hervor und löst auf, bedroht sie und schränkt sie – ebenso wie er dies mit der aktuell vielleicht zentralen politischen Kategorie tut: der Staatsbürgerschaft. Als Wesen, die maßgeblich durch die Verbindung zu Staaten (und ihrer Weltordnung) definiert werden, stehen wir somit vor einer großen Herausforderung: Wir müssen unser Verhältnis zum Staat neu definieren, indem wir den Vernetzungszusammenhang als das Referenzsystem des politischen Subjekts zu begreifen. Anders gesagt: Der vielbeschworene Abschied vom Nationalstaat und seinen Ordnungsystemen, doch ebenso auch das Gegenteil: die Anrufung der mythenumwobenen Stärke des Nationalstaats – beides führt in die Irre. Denn beides blendet aus, das der Nationalstaat ein Teil des Vernetzungszusammenhangs ist, der zum zentralen Referenzsystem des politischen Subjekts avanciert ist.
Die Gewalt des Vernetzungszusammenhangs
Vor diesem Hintergrund ist eine landläufige Kritik am Islamischen Staat bezeichnend. Immer wieder ist zu vernehmen, er sei weniger ein Staat als vielmehr ein modern organisiertes Unternehmen. Doch Tatsache, dass in seiner politischen Philosophie beides miteinander ununterscheidbar verschränkt ist, zeugt vielmehr von der Aktualität, Virulenz und Gewalt des Vernetzungszusammenhangs. Dieser Charakter ist ebenso treffend in einer fehlgeleiteten Kritik an der Arbeit Taryn Simons beschrieben, sie fächere derart weitreichende Referenzen auf und schichte dermaßen viele Schichten, dass es eines Subjekts nicht bedürfe, welches einen Sinn daraus ableitet. Statt Sinn zu konstruieren, werde das Subjekt primär mit der Verfolgung von Spuren des Zusammenhangs in Bewegung gehalten.
So schreibt die Journalistin Prudence Pfeiffer in der einflußreichen Zeitschrift Art Forum über “Paperwork and the Will of Capital”: “Simon’s photos are packed with global context, even as they present restrained, minimalist portraits of […]” [flowers]. “This can present a challenge to criticism: By the time you are done explaining their complicated background, there’s little room for your own analysis. They don’t need you, in other words.”
Das ist ein Missverständnis. Simon konstruiert den “global context” in ihrem Werk nicht als überbordende und überfordernde Totalität, die das kritische Subjekt suspendiert. Vielmehr produziert sie einen ästhetischen Zusammenhang analog zu der mehr oder weniger bewussten Erfahrung der Welt als “Zirkulation, Interaktion und Information […], die die Existenzen in ein immer dichteres, immer stärker vernetztes Wechsel- und Abhängigkeitsverhältnis bringt”, wie der Philosoph Jean-Luc Nancy den Vernetzungszusammenhang beschreibt.
Dies bringt allerdings keine Suspendierung mit sich, sondern fordert das Subjekt heraus. Statt sich im Vernetzungszusammenhang zu verlieren, wird es dazu angehalten, daran zu arbeiten. Als Totalität verstanden, wirft der Vernetzungszusammenhang Fragen von Kontext und Kohärenz auf: Was gehört zum Kontext? Was ermöglicht Kohärenz? Statt restlos alles zu berücksichtigen und statt die Sinnfrage auf eine endgültige Antwort zu verpflichten, macht Simons Arbeit ein anderes Angebot: Was die Welt im Inneren zusammenhält, kann so kompakt und vergänglich, so rästelhaft und offen für Interpretationen sein wie ein Blumenbouquet.
Daher gilt es, nicht allen erdenklichen Spuren und Verbindungen nachzugehen. Vielmehr gilt es im Mikrokosmos (hier: das Blumenbouquet) den Makrokosmos zu erkennen. Denn im Mikrokosmos finden sich Struktur und Logik, Muster und Schwingung des weltweiten Vernetzungszusammenhangs verdichtet. So kann der Referenzrahmen des Kunstwerks als ein aktivierender, emanizipierender Referenzrahmen der politischen Subjektivität erfahren werden.
Blinde Flecken des Staates
Wer das auf heutige Verhältnisse übertragen möchte, sollte folgende Frage stellen: Wie wird die Struktur des Vernetzungszusammenhangs durch das Spannungsverhältnis von staatlichen und wirtschaftlichen Kräften geprägt?
Auf Mikro-Ebene kommt dieses Spannungsverhältnis im Konstrukt der Staatsbürgerschaft zum Ausdruck: Sie wird jenen zu Teil, die auf dem Staatsgebiet geboren werden und die (dem Mythos zu folge) dafür bereit sind zu sterben. Im scheinbaren Widersinn dazu, wird sie auf dem freien Markt verkauft – häufig ohne besondere Auflagen. Statt die Käuflichkeit der Staatsbürgerschaft zum Anlass zu nehmen, sie als Beziehungskategorie der politischen Subjektivität zu verwerfen, gilt es vielmehr genau diesen Aspekt als notwendige Erweiterung des Referenzrahmens zu begreifen, in dem sich politische Subjektivität formieren kann.
Was aber bedeutet das für politisches Handeln? Es kann sich dort ereignen, wo die blinden Flecken des Staates und der Ökonomie liegen. Dort etwa, wo der Staat seine Ökonomisierung verschleiert, dort auch, wo die Ökonomie das Wirken des Staates ausblendet. Ein fruchtbares Terrain dafür bietet Staatszugehörigkeit. Sie wird heute im zunehmenden Maße ununterscheidbar von etwas, das man als ‘Netzwerkzugehörigkeit’ bezeichnen könnte: die Verbindungen und Verträge des Individuums mit IT- und Kommunikationsdiensten aller Art (Telefon, Web, Internet, Apps, etc.) im Zuge derer Datenprofile generiert und, meistens ohne Zustimmung, monetarisiert werden. Fraglos, eine besorgniserregende Tendenz.
Im Hinblick darauf, kann sich die Frage nach politischen Handlungsräumen nicht nur auf Dinge fokussieren, die getan werden sollten. Sie sollte auch berücksichtigen, was schon getan wird, ja: was bereits geschieht – ohne ein explizit politisches Motiv, ‘die Welt zu verändern’, sondern aus Notwendigkeiten heraus, die den Vernetzungszusammenhang erschüttern oder in Frage stellen.
Anm. d. Red.: Der Bildband “Paperwork and the Will of Capital” von Taryn Simon ist bei Hatje und Cantz erschienen. Das erste Foto zeigt: Das zweite Foto zeigt das Blumenbouquet, das Simon aus dem Zusammenhang des “Agreement for Cooperation on China’s Beidou Navigation Satellite System in Pakistan” rekonstruiert hat. Beide Fotos stammen aus Simons Projekt. Courtesy: Gagosian Gallery.
Statt von Staatsangehörigkeit sollte man das klarere Konzept der Volkszugehörigkeit beachten. Jemand aus Afghanistan könnte zum Beispiel deutscher Staatsangehöriger werden, bliebe aber afghanischer Volkszugehöriger. Auf Deutschland bezogen gibt es Passdeutsche und Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit sowie Volksdeutsche, also Volkszugehörige anderer Staatsangehörigkeit wie z.B. die Österreicher. Ebenso gibt es in Deutschland authochtone Staatsbürger anderer Volkszugehörigkeit wie Friesen, Sinti und Sorben.
Man bräuchte auch eigene Ausweise für Volkszugehörigkeiten vielleicht, die nicht an staatliche Hüllen gebunden sind. Insbesondere für den postkolonialen Diskurs sehr wichtig.
Ich find es absolut neoliberal gedacht, und damit habe ich ein riesiges Problem. Wenn manche Staaten die Staatsbürgerschaft an Wohlhabende verkaufen, sei Staatabürgerschaft insgesamt hinfällig. Oder janz eloquent die gleiche Chose: “Statt die Käuflichkeit der Staatsbürgerschaft zum Anlass zu nehmen, sie als Beziehungskategorie der politischen Subjektivität zu verwerfen” – Wieso denn?
Also ob jeder das Recht von sich aus hätte zu sein was er wolle. Oder ob es so ein Recht geben sollte, quasi als Menschenrecht. Die Aufnahme in die Staatsbürgerschaft hängt an der Zustimmung von den Staatsbürgern, sie legen die Regeln fest. Sieb haben das Recht zu bestimmen, wer mitspielen darf. Wenn ihre Regel ist, wir geben die Staatsbürgerschaft an Außenstehende nur gegen Cash für uns, dann ist das als Geschäft okay und stellt sicher, dass man sich als Gemeinschaft keine Kosten aufbürdet. Wenn die Leute sagen, wir geben die Staatsbürgerschaft nicht an Leute, die wir anschließend nur versorgen müssen oder bei uns Trouble machen, ihre rückständige Kultur egoistisch ausleben, dann ist das auch okay. Die Taliban haben den Saudi Bin Laden als Gast in Afghanistan aufgenommen, sie haben die Quittung bekommen.
Natürlich kann man in jeden Sportverein eintreten, wie man es gerne will. Aber letzten Endes ist es der Verein, der jmd. aufnimmt und niemand hat das Recht von sich aus in einen Verein aufgenommen zu werden. Der Verein steht nämlich auch in der Kritik, wenn er miese Gestalten aufgenommen hat, Rechtsextreme oder Kinderschänder in der Jugendbetreuung einsetzt.
Die neoliberale Perspektive sieht immer nur das einzelne Ego mit seinen materiellen Interessen, das von einer Gemeinschaft “ausgeschlossen” wird und an sie Steuern zahlen muss, aber voll von ihr versorgt werden will, respektiert werden will in all seinen Widerborstigkeiten oder seine spekulativen AAA Einlagen gerettet haben will von der Gemeinschaft. Das ist antisozial gedacht. Das ist diese ganze neoliberale Weltanschauung, die parasitäres Verhalten vergöttert und enge soziale Bande zerschneiden, Menschen entwurzeln und ihrer Identität berauben will. Neoliberal ist es wo Solidarität und Gemeinschaft verdächtig geschrieben werden.
Gegen den Neoliberalismus sollten wir uns gemeinschaftlich zur Wehr setzen, gerade in diesen Zeiten, wo die alten und neuen Rechten, die korrupten Eliten, die Glücksritter des Kapitals und die Kapitäne der Schwerindustrie wieder Morgenluft schnuppern.
Mir gefällt das Argument über das Wandel des Referenzrahmens vom Staats- zum Vernetzungzusammenhang gut. Sonst finde ich den Topos von Migration als Selbstbestimmungsakt, der von Mezzadra und co. vertreten
wird, ziemlich produktiv, die Subjektivität und Autonomie aus der Debatte nicht ganz abzuschaffen.