Unsägliche Zeit: Über einen sprachlichen Grenzbereich und seine politischen Folgen für die Klimakrise

Männer des Absaroka-Stamms. Foto: David F. Barry, circa 1878-1883 (Public Domain)
Männer des Absaroka-Stamms. Foto: David F. Barry, circa 1878-1883 (Public Domain)

Wir wissen, dass in absehbarer Zeit wichtige Teile des Ökosystems Erde mit absehbar katastrophalen Folgen kollabieren werden. Dennoch konsumieren viele von uns lediglich passiv Weltuntergangsszenarien in Form von Popkultur (Kinofilme, Computerspiele, etc.) und Politparolen linker und rechter Populismen, halten aber den Untergang des Kapitalismus, dem wir die ökologische Krise zu verdanken haben, für unmöglich. Der Autor und Aktivist Slave Cubela zeigt, dass wir uns aus diesem Dilemma befreien können, wenn wir beginnen, das Unvorstellbare zu artikulieren und die Möglichkeiten des Artikulierbaren neu auszuloten.

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Anfang der 1930er Jahre: Gegen Ende seines langen Lebens wandte sich Plenty Coups, der Häuptling des Absaroka-Stamms, der allgemein als Crow bekannt ist, an seinen Freund, den Trapper Frank B. Lindeman, um ihm seine Biographie zu erzählen. Nachdem er über lange Zeit bereitwillig Auskunft über sein Leben gab, gelangte Plenty Coups mit seinen Erinnerungen in die Zeit der 1880er Jahre, also die Periode, in der die Crow in ein Reservat verwiesen wurden. Daraufhin passierte laut Lindeman das Folgende: „Plenty Coups weigerte sich, über sein Leben nach dem Niedergang der Büffelherden zu sprechen, sodass seine Geschichte viele Jahre nicht mit einschließt und so wirkt, als sei sie abgebrochen worden. ‚Ich habe dir noch nicht einmal die Hälfte von alledem erzählt, was geschehen ist, als ich jung war‘, sagte er, als ich ihn drängte, weiterzuerzählen. ‚Ich kann mich zurückerinnern und dir vieles mehr vom Krieg und vom Pferdestehlen berichten. Aber als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen‘.“

Mit anderen Worten: Obwohl Plenty Coups noch mehr als vier Jahrzehnte lebte, nachdem er ins Reservat gegangen war, und obwohl die Crow dank seines Geschicks als eines der wenigen indigenen Völker Nordamerikas auf ihr angestammtes Land zurückkehren konnten, führte die Zerstörung der alten Lebensweise seines Stammes dazu, dass Plenty Coups mehr als die Hälfte seines Lebens als bedeutungslos empfand.

An den Grenzen des Artikulierbaren

Man kann diese Episode als Beleg für die Folgen einer kollektiven Traumatisierung heranziehen und diese Interpretation ist sicher nicht falsch. Jedoch sollten wir nicht den Fehler begehen, durch eine solche traumatheoretische Interpretation das soziale Problem zu übersehen, das in dieser Geschichte mitenthalten ist. Es lautet: Inwieweit können fundamentale Veränderungen das sprachliche Vermögen einer Gesellschaft übertreffen, so dass diese Veränderungen sprichwörtlich unsäglich werden? Denn das Beispiel der Crow zeigt eindringlich, dass zumindest der Untergang ihrer alten Lebensform für sie eine Zäsur darstellte, die gewissermaßen „too big to speak“ war. Oder allgemeiner formuliert: wenn eine Gesellschaft mit ihrem Ende konfrontiert ist, so scheint sie in einen sprachlichen Grenzbereich zu gelangen.

Auf der einen Seite steht in Anknüpfung an Reinhart Kosselleck der Umstand, dass Menschen aus ihren Erfahrungen qua Sprache stets Erwartungshorizonte extrapolieren. Das heißt, eine Gesellschaft gerät in diesen Grenzbereich nicht nur deshalb, weil sie akut feststellt, dass ihrer gesamten Lebensweise buchstäblich der Boden entzogen wird, sondern sie kann ihre Finalität durchaus vorab antizipieren. Auf der anderen Seite aber ist das Ende einer sozialen Formation ein Ausnahmezustand und die Welt nach diesem Ende eine reflexive Herausforderung. Denn, wie kann man ein unbekanntes, weil noch kommendes soziales Leben genauer beschreiben, wenn einem dabei nur bekannte Begriffe und Narrative der gegenwärtigen Verhältnisse zur Verfügung stehen? Kann es gelingen, mit der alten Sprache und den in ihr enthaltenen sozialen Definitionen, Traditionen, Normen und Machtrelationen eine extreme soziale Zäsur in ihrem ganzen Ausmaß ins Bewusstsein zu heben? Oder zeichnet man mit den alten Sprachmustern die radikale Andersartigkeit der kommenden, neuen Welt notwendig weicher und vertrauter, so dass man damit den Untergang „bewusst-unbewusst“ verklärt oder verdrängt? Wie sieht also eine Sprachpraxis aus, in der ein „adäquates“ soziales Finalitätsbewusstsein entstehen kann?

Plenty Coups Reaktion angesichts dieses Grenzbereichs des sozialen Erkennens besteht darin konsequent zu schweigen. Ihm scheint bewusst zu sein, wie schwierig es ist, der Zeit nach dem Niedergang der angestammten Crow-Kultur einen Sinn zuzuschreiben. Einen solchen, man könnte sagen vollumfänglichen Sinn gesteht er implizit der alten Sprache nur für jene Periode seines Lebens zu, in der diese Sprache noch in dem sozialen Zusammenhang eingebettet war, dem sie entstammte. Und auch wenn er registriert, dass die alten Begriffe und Narrative nicht mit dem Untergang der althergebrachten Crow-Gesellschaft verschwunden sind, so vermeidet er mit seinem Schweigen ein relikthaftes Sprechen, das darauf hinausliefe die Augen vor der katastrophischen Gegenwart der Crow zu verschließen.

Kommerzialisierung der Sprache im Kapitalismus

Wie aktuell das Problem dieses sprachlichen Grenzbereichs ist, in den Gesellschaften geraten, wenn sie genötigt sind, sich mit ihrem potentiellen Ende auseinanderzusetzen, wird deutlich, wenn wir fragen: Steht die kapitalistische Welt im 21. Jahrhundert nicht vor einem ähnlichen Problem wie Plenty Coups? Weil sie ebenso eine Sprache für die drohende Aussicht finden muss, dass sie sich durch die Zerstörung ihrer materiellen Grundlagen zielstrebig einem zumindest partiellen Kollaps annähert? Die erste Antwort auf diese Frage ist wahrscheinlich ein Nein. Denn die Zerstörung der Crow-Welt scheint nicht das gleiche zu sein, wie die drohende Weltzerstörung im 21. Jahrhundert. Zum einen nämlich stehen der kapitalistischen Welt die massivsten Schrecken der Zerstörung noch bevor, das bedeutet, wir haben im Gegensatz zu Plenty Coups die Möglichkeit dieses Schicksal noch abzuwenden. Und zum anderen wiederum leben wir zumindest dem Selbstverständnis nach in hochentwickelten Gesellschaften, in denen beispielsweise versierte wissenschaftliche Institutionen sowie eine lebendige Öffentlichkeit dafür sorgen, dass wir im Gegensatz zu den Crow das, was uns bevorsteht aber auch das was wir dagegen tun müssten, seit geraumer Zeit in vielen Diskursen versprachlichen.

Die ohne Zweifel bestehenden sozialen Unterschiede zwischen uns und den Crow einseitig zu betonen, verbietet sich aus einem einfachen Grund: Auch unsere Sprache ist wie der der Crow in eine soziale Gegenwart eingebettet und wird in dieser sinngebend geformt. Das wird deutlich, wenn wir berücksichtigen, dass in einer kommerzialisierten Gesellschaft wie der unseren auch Sprache aktuellen Profitzwängen unterworfen ist. Eine Konsequenz daraus ist etwa der Umstand, dass in einer marktwirtschaftlichen Medienlandschaft, in der Informationen im gegenseitigen Aufmerksamkeitswettbewerb stehen, viele öffentliche Diskurse sensationalistisch aufgeladen werden. Es ist fast folgerichtig, dass vor diesem Hintergrund ein singuläres Inferno wie die partielle Zerstörung der Erde nach und nach zu einem wichtigen Ereignis neben vielen anderen herabsinkt.

Eine andere Konsequenz der kapitalistischen Kommerzialisierung der Sprache zeigt sich wiederum in der akademischen Forschung. Um nämlich deren Früchte leichter verwertbar zu machen, sind die meisten wissenschaftlichen Diskurse inzwischen auf eine wertfreie Sprache und neutrale Narrative festgelegt. Entsprechend etablieren sich hier für die drohenden „letzten Tage der Menschheit“ (Karl Kraus) wohltemperierte Kategorien wie etwa die des „Klimawandels“ oder technokratische Wortverbindungen wie die „sozialökologische Transformation“. Und zu dieser Entwicklung passt auch, dass inzwischen viele Klimaforscher*innen damit hadern, dass sie über Jahre hinweg glaubten, mit konservativen Rechenmodellen und wohlabgewogenen Papieren bei politischen Entscheidungsträger*innenn als besonders seriöse Wissenschaftler*innen zu erscheinen und folglich besser Gehör zu finden.

Begriffsflucht in die Vergangenheit?

Aber nicht nur die Kommerzialisierung der Sprache im Kapitalismus bindet unsere Vorstellungen an die Gegenwart. Die bürgerliche Welt ist durch ihre Konflikthaftigkeit zudem davon gekennzeichnet, dass sie bereits früh die Ausbildung dezidiert anti-bürgerlicher Begriffe und Konzepte von links sah, die eine postbürgerliche Zukunftsgesellschaft zu umreißen suchten. Allein, was für die unterdrückten Klassen des 19. Jahrhunderts ein hoffnungsvoller Prozess war, ist rückblickend vielschichtiger zu bewerten.

Erstens, viele revolutionäre Sozialismus- und Kommunismusvorstellungen des 19. Jahrhunderts transportierten unbewusst bürgerliche Perspektiven und Konzepte in die postbürgerliche Imagination, so dass beispielsweise Karl Marx einen erheblichen Teil seines Lebens damit zubrachte, diese Vorstellungen zu kritisieren und als bürgerlich affiziert zurückzuweisen.

Zweitens, da jedoch diese Marxsche Sprachkritik weitestgehend unverstanden und unwirksam blieb, band der sogenannte Marxismus im 20. Jahrhundert die Arbeiter*innenbewegung immer fester an bürgerliche Entwicklungs- und Fortschrittsmodelle sowie an bestehende Organisationsformen wie Staat, Partei oder Gewerkschaft. Dass im Ergebnis dann die realsozialistischen Staaten alsbald bürgerliche Verhältnisse reproduzierten und durch die Brutalität ihres Vorgehens dafür sorgten, dass die Sprachen des Sozialismus und Kommunismus ihre einstige anti-bürgerliche Massenwirksamkeit verloren, ist zumindest aus der Perspektive der Marxschen Sprachkritik kein Zufall.

Drittens, das gegenwärtig in der radikalen Linken zu beobachtende Marxismus-Revival ist zwar nachvollziehbar, da so immerhin eine anti-bürgerlich emanzipative Perspektive formulierbar wird. Da dieser Rückgriff in weiten Teilen jedoch erneut unkritisch erfolgt, bleibt nicht nur das von Marx aufgeworfene Problem der bürgerlichen Gebundenheit der Sprachen des Sozialismus und Kommunismus unbearbeitet. Schlimmer noch: mit dieser orthodoxen Begriffsflucht in die Vergangenheit suggeriert die radikale Linke nicht zuletzt sich selbst, dass Lösungen für unsere massiven Probleme der Zukunft schon vorhanden sind und lediglich irgendwo verschüttet in den Trümmern der alten Klassen-Linken liegen.

Intuition vs. Paralyse

Auch wenn es uns also kränken mag: Ähnlich wie die Crow sitzen wir bis in die radikale Linke hinein im Hinblick auf das drohende Ende unserer Welt tatsächlich in einem Grenzbereich des Erkennens fest. Oder in den Worten des ehemaligen Umweltministers Frankreichs Yves Cochet: „Wir können gut die zahllosen Daten untersuchen und darüber räsonieren, aber es ist uns nach wie vor unmöglich, selbst aus systematischer Sicht, uns eine vollständige Vorstellung davon zu machen, was das sein könnte, ein ‚weltweiter Zusammenbruch‘. Wir spüren lediglich eine Intuition, die nicht weit von einer Gewissheit entfernt ist.“

Wenn wir so bislang über unseren Untergang reden, ohne ihn nachhaltig ins Bewusstsein heben zu können: welche politischen Implikationen hat das für uns? Erstens: wenn Plenty Coups das Schweigen wählte, so überdecken wir zwar genau umgekehrt zu Beginn des 21. Jahrhunderts die nahende Unbewohnbarkeit von riesigen Regionen der Erde mit einer Unmenge von Diskursen, doch das historische Resultat ist in beiden Fällen das Gleiche. Denn wenn Plenty Coups mit seinem Schweigen betonte, dass nach dem Gang ins Reservat nichts mehr passiert sei, dann könnte man zugespitzt das Gleiche von den kapitalistischen Gesellschaften sagen, insofern auch hier seit dem großen Weckruf des Club of Rome zu Beginn der 1970er Jahre kaum mehr etwas geschehen ist.

Fabian Scheidler unterstreicht diese Paralyse sehr pointiert, wenn er im Juli 2022 lakonisch festhält: „Trotz mittlerweile 26 UN-Klimakonferenzen und 15 Biodiversitätskonferenzen steigen die globalen Emissionen, während sie das Artensterben weiter beschleunigt. Anlässlich eines Klimagipfels, bei dem die Regierungschefs aus aller Welt zusammenkamen, formulierte es der damalige Vorsitzende des UN-Klimarats, Rajendra Pachauri, einmal so: ‚Um ehrlich zu sein: Niemand hier schenkt der Wissenschaft irgendeine Beachtung.‘ Es gehört zu den bemerkenswerten Eigenheiten unserer vielbeschworenen Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft, dass sie ausgerechnet dann, wenn es ums Überleben geht, die relevantesten Informationen ignoriert.“

Zweitens: solange die radikale Linke orthodox an die alten anti-bürgerlichen Marxismen anzuknüpfen sucht, solange ist sie Teil dieser Paralyse. Das zeigt sich, wenn wir uns die Wege anschauen, die wir angesichts des sich abzeichnenden Unheils einschlagen können. Genaugenommen sind dies nur drei. Da wäre der Weg, den die vielen Tribune des fossilen Faschismus bevorzugen und der letztlich in der völligen Leugnung einer drohenden Erdzerstörung und einem schlichten auch sprachlichen „Weiter so“ besteht. Und da wäre der Weg der grünen Technologien, also ein Weg, der geprägt ist von der Vorstellung, dass wir an Wachstum und Fortschritt festhalten können, wenn wir bereit sind, neue, klimaneutrale Technologien zu fördern und schnell in unsere Wirtschaft zu implementieren. Innerhalb dieses Weges gibt es eine große Bandbreite von Vorstellungen und entsprechend sammeln sich hier an einem Ende marktgläubige Neoliberale und am anderen auch radikale Linke. Ein weiterer Weg besteht im sozial und/oder politisch kontrollierten Ende des Wachstums. Was ist nun die Pointe?

Kapitalismus oder Postwachstumsökonomie

Meines Erachtens besteht sie zum einen darin, dass von diesen verschiedenen Wegen nur der Postwachstumsweg ein anerkanntermaßen sicherer Weg ist, um das ökologische Desaster zu verhindern. Der fossile Kapitalismus dagegen ist der direkte Weg in die Katastrophe. Der grüne Kapitalismus mit seinen „grünen Technologien“ leugnet, dass er lediglich bereit ist, eine desaströse Form des Kapitalismus durch eine andere zu ersetzen. Schließlich ist das Problem der zugrunde liegende Wachstumszwang (d.h. endlose Akkumulation, endlose Ausbeutung von Natur und Arbeit, etc.) und nicht die dafür gewählte Technologie.

Die zweite, größere Pointe vor diesem Hintergrund besteht nun darin, dass trotz der furchtbaren Aussichten für Milliarden von Menschen nur eine Minderheit den anerkanntermaßen sicheren Weg gehen will. Auch innerhalb der (radikalen) Linken sind so viele Politiker*innen, Aktivist*innen und Intellektuelle bereit, es „grün-technologisch“ mal darauf ankommen zu lassen, obwohl es doch hier um fast alles, nämlich die Bewohnbarkeit unseres Planeten geht. Ist diese bis in die Linke hineinreichende Zocker-Mentalität nicht ein deutlicher Beleg dafür, wie sehr auch die (radikale) Linke weiterhin geprägt ist von der Gegenwartsgebundenheit ihrer Sprachen, so dass sie modernitäts- und fortschrittsorientiert bleibt?

Sprachliches Unvermögen

Der Hinweis auf unser sprachliches Unvermögen, uns des eigenen Untergangs wirklich bewusst zu werden, sollte meines Erachtens nur jenen politisch defätistisch erscheinen, die sich eine radikale Revolution als planbaren und begrifflich kontrollierten Prozess vorstellen. Demgegenüber könnte man jedoch argumentieren, ob ein so gedachter Übergang in eine neue Welt nicht schon immer Zweifel aufwerfen musste, wenn wir registrieren, wie tief sich der gegenwärtige Kapitalismus bis in unsere Sprache hinein zu verankern versteht.

Was also, wenn ein weitgehender sozialer Neuanfang anders zu denken ist? Was, wenn er eine tiefe Erschütterung zur Voraussetzung hätte, die mit einer Phase des sprachlosen Leids einherginge? Was also, wenn die alte Losung „Sozialismus oder Barbarei“ immer schon ein Stück weit falsch war, weil der Sozialismus – wenn überhaupt und keinesfalls notwendig – nur dann entstehen kann, wenn er das Ende der Barbarei herbeiführt, weil erst in einer sozialen Epoche von Gewalt und Zerstörung die alten Begriffe und Praxen für viele Menschen derart fremd und abstoßend werden, so dass sie beginnen neue zu suchen und zu etablieren?

Soviel ist gewiss: Auf eine solche katastrophische Revolutionsperspektive sollte man sich auf keinen Fall fraglos zurückziehen, denn das wird leicht zu Überheblichkeit und/oder politischer Resignation führen. Insofern bleibt es immens wichtig nach (sprachlichen) Ausdrucksformen zu suchen, die das beginnende finale Drama des Kapitalismus im 21. Jahrhundert womöglich doch noch massenhaft ins Bewusstsein heben und dieses damit verhindern helfen. Gleichzeitig sollte man aber auch der katastrophischen Perspektive gedanklich nicht ausweichen. Denn dafür sind die historischen Entwicklungen im Jahr 2024 einfach zu schlecht.

Unvorstellbare Zukunft

In diesem Zusammengang ergibt es Sinn noch einmal auf die Geschichte der Crow zu blicken. Denn wie Jonathan Lear in seinem überaus anregenden Buch „Radikale Hoffnung“ zeigt, gaben die Crow trotz einer sozialen Katastrophe nicht auf. Im Gegenteil: „Plenty Coups gelang es, sich selbst und sein Volk in eine unvorstellbare Zukunft hineinzuführen, indem er sich dem Gedanken verpflichtete, dass etwas Gutes entstehen würde. Er führte sich selbst und sein Volk in die Zukunft und hielt daran fest, dass dieser Weg es wert war, weiter beschritten zu werden, und das obwohl er einräumte, dass sein eigenes gegenwartsbezogenes Verständnis des guten Lebens verschwinden würde. Das ist eine gewaltige Form der Verpflichtung: Sie betrifft eine Güte in der Welt, die das eigene Vermögen übersteigt, sie zu erfassen.“

Wir werden gerade als Linke aller Voraussicht nach eine ähnliche Güte, eine begrifflich kaum unterfütterbare Form der „radikalen Hoffnung“ brauchen, um die kommenden Jahrzehnte kämpferisch zu überleben. Immerhin: So ganz unbegründet wie im Falle von Plenty Coups muss unsere Hoffnung nicht daherkommen, denn wie Rebecca Solnit über die sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung schreibt: „Das Bild des egoistischen, panischen oder regressiv wilden Menschen in Katastrophenzeiten ist wenig zutreffend. Jahrzehntelange akribische soziologische Forschung über das Verhalten bei Katastrophen, von den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs bis hin zu Überschwemmungen, Tornados, Erdbeben und Stürmen auf dem ganzen Kontinent und in der ganzen Welt, haben dies gezeigt.“

Und Solnit fügt hinzu: „Wenn Paradiese in der Hölle entstehen, dann deshalb, weil wir durch die Aufhebung der üblichen Ordnung und des Scheiterns der meisten bis dahin bestehenden sozialen Systeme plötzlich frei sind, anders zu leben und zu handeln.“

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