Verfassung first: Warum Glaube und Religion im Staat nicht an erster Stelle stehen

Wir leben in keinem Gottes-Staat, sondern in einem Verfassungsstaat. Es herrscht Glaubensfreiheit. Alle dürfen glauben, niemand muss. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen. Notwendig ist ein Kompass dafür, wie das Neutralitätsgebot des Staates angesichts wachsender kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt am besten zu schützen ist. Der Journalist und Buchautor Helmut Ortner kommentiert.

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Warum ich nicht an Gott glaube? Aus vielerlei Gründen. Ich lasse hier mal alles beiseite, was man Religionen und ihren irdischen Machtzentren vorwerfen kann: von der christlichen Inquisition bis zum islamischen Fundamentalismus – um nur zwei Irrläufer herauszugreifen. Religionen sind Menschenwerk – immer unvollkommen. Das aber genügt nicht zur Rechtfertigung des Atheismus, in dessen Namen auch Verbrechen begangen wurden. Nicht Glaube oder Unglaube führt zu Verbrechen, sondern Fanatismus.

Sagen wir es so: Ich bin ein überzeugter Gegner der Kirche, gegen jede Art von religiösen Fundamentalismus. Ich bin ein undogmatischer Atheist. Ich glaube, dass es Gott nicht gibt. Beweisen kann ich es nicht. Man könnte mir entgegenhalten, ich sei kein Atheist, sondern Agnostiker. Das verdient ein paar Worte der Erläuterung: Atheisten und Agnostiker haben einiges gemeinsam – weshalb sie auch häufig verwechselt werden: sie glauben nicht an Gott. Der Atheist glaubt, dass Gott nicht existiert. Der Agnostiker indes legt sich hier nicht fest, sondern lässt die Frage offen.

Spannung zwischen Religion und Moderne

Oder anders: Wenn jemand behauptet: Ich weiß, dass es Gott nicht gibt, ist er kein Atheist, sondern ein Dummkopf. Und genauso verhält es sich meiner Ansicht nach, wenn einer sagt: Ich weiß, dass es Gott gibt. Auch er ist ein Dummkopf, ­– einer der Glauben für Wissen hält. Und wenn einer sagt: Ich bin davon überzeugt, dass Gott nicht existiert, ist auch der ein Dummkopf, weil er Überzeugung mit Wissen verwechselt. Glaube und Unglaube müssen in Demokratien miteinander auskommen. Und das ist gut so. Die Einzigen, die das stört, sind Eiferer und Fanatikerinnen.

Dass Religionen die Welt zu einem besseren Ort gemacht haben, wird niemand behaupten. Heilige Krieger aller Denominationen berufen sich auf ihre jeweilige Religion, um Andersgläubige und -denkende zu verfolgen, auch umzubringen. Die meisten Religionen propagieren zwar ein friedliches Miteinander, aber die wenigsten wirken sich dabei friedensstiftend aus. Tatsächlich tobt der Kampf zwischen Frommen und Ungläubigen, aber auch zwischen Gläubigen und Andersgläubigen. Tatsache ist: es gibt eine anhaltende Spannung zwischen Religion und Moderne.

Émile Durkheim ging davon aus, dass die Religion in modernen Gesellschaften ihre dominante Rolle verliert und keine verbindliche Welt- und Sinnstiftung mehr anzubieten vermag; sie verliere ihre Deutungshoheit, aber würde nicht verschwinden. Durkheim hat recht behalten. Religion und Moderne, das ist bis heute ein schwieriges Verhältnis. Denn anders als die soziologischen Klassiker meinten, ist die Macht der Religion und ihrer Institutionen in der postmodernen Gesellschaft zwar eingeschränkt, aber keineswegs gebrochen.

In den Sozialwissenschaften heute wird viel weniger von Säkularisierung als vielmehr von einer “Renaissance der Religionen” gesprochen. Gleichwohl: Der politische Bedeutungsverlust von Religion und Kirche ist vor allem in West-Europa evident. Für Deutschland gilt: Kirchlich gebundene und organisierte Gläubigkeit schwindet, das belegen jedenfalls rückläufige Mitgliederzahlen. Das mag mit aktuellen Skandalen zu tun haben (Missbrauchs-Skandalen, Finanz-Skandalen), sicher aber auch mit einem Gesellschafts- und Menschenbild, das keine Bindekraft mehr aktiviert.

Mitgliederschwund bei den Kirchen

Auch wenn konservative Stimmen eine neue “Sehnsucht nach Gott” (so der Titel Neuerscheinung des Publizisten Wolfram Weimer) festgestellt haben wollen und schon einen Übergang vom postmodernen zum neo-religiösen Zeitalter prognostizieren – die Realität sieht freilich anders aus. Die großen Kirchen verlieren überall in Europa dramatisch an Mitgliedern. In Deutschland ist nur noch die Hälfte der Bevölkerung Mitglied in der katholischen oder evangelischen Kirche. Es herrscht Erosion auf allen Ebenen.

Im Erzbistum Köln – einem der reichsten Bistümer der Welt – stiegen die Austrittszahlen um mehr als 130 Prozent im Vergleich zum Jahr 2020. Von einem “Woelki-Tsunami” ist dort die Rede, um zu beschreiben, was sich dort ereignet hat: 40.000 Austritte allein in der jüngsten Amtszeit des Erzbischofs Rainer Maria Woelki. Der Vertrauensverlust ist enorm. Der skandalöse Umgang mit dem Missbrauchsskandal, hochriskante Finanz- und Immobiliengeschäfte, zuletzt starre Reformverweigerungen auf dem Synodalen Weg, all das lässt Gläubige verzweifeln – und austreten.

Nicht nur im Kölner Sprengel. Im Erzbistum Hamburg traten im vergangenen Jahr rund 50 Prozent mehr aus als im Vorjahreszeitraum. Der Mitglieder-Niedergang grassiert landesweit – und damit der Verlust beträchtlicher Kirchensteuer-Einnahmen. Insgesamt haben mehr als 360.000 Menschen 2021 die katholische Kirche verlassen. Auch bei der evangelischen Kirche stieg die Zahl der Kirchenaustritte im Vergleich zum Vorjahr um 60.000 auf rund 280.000. Erstmals sind die Mitglieder der beiden Kirchen in Deutschland in der Minderheit.

Den Schlussstrich ziehen

Ob Katholikin oder Protestantin – Tatsache ist, die meisten Kirchenmitglieder sind schon lange keine überzeugten Anhänger*innen ihrer Kirche mehr, sondern sogenannte “Taufscheinchristen”. Gerade etwas über 3 Prozent der evangelischen und knapp 10 Prozent der katholischen Kirchenmitglieder besuchen regelmäßig noch den sonntäglichen Gottesdienst. Die Bindekraft bröckelt. Gläubige Schäfchen verlassen massenhaft die Herde.

Die große Mehrheit ob Katholiken oder Protestanten, nennt einer Studie der Ev. Kirche zufolge überhaupt keinen konkreten Anlass für ihren Austritt. Sie haben sich im Laufe der Jahre einfach von der Kirche entfremdet und ziehen irgendwann den Schlussstrich. Hinzu kommt: in Zeiten grassierender Teuerungen der Lebenshaltungskosten wird der jahrelang aufgeschobene Austritt aus einer Kirche, die einem ohnehin nichts bedeutet, nun endlich vollzogen. Freilich: Nicht mehr Mitglied der Kirche zu sein, muss nicht zur Folge haben, von seinem Glauben abzufallen. Glaube geht auch ohne Kirche.

Und die Politik? Obwohl die aktuellen Statistiken ein Beleg dafür sind, dass nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung überhaupt hinter den Kirchen und ihren Glaubenssätzen steht, scheint die Politik das zu ignorieren. Noch immer gibt es eine Fülle anachronistischer Gesetze und Subventionen, etwa bei der horrenden öffentlichen Finanzierung von Kirchentagen oder der Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, die Finanzierung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten bis hin zu Kirchenredaktionen in Landes-Rundfunkanstalten. Daran wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern. Zu stark ist der klerikale Lobbyismus, die Kirchenhörigkeit der Politik.

Religiöse Symbole in der Justiz

Deutschland ist kein Kirchenstaat. Es ist an der Zeit, dass die Politik angesichts des massiven gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts der Kirchen erkennt, dass die Kirchen immer weniger Rückhalt in der Bevölkerung haben. Erstmals sind die Mitglieder der beiden Kirchen in der Minderheit. Dem muss die Politik gerecht werden. Die Komplizenschaft zwischen Staat und Kirche ist nicht mehr zeitgemäß, sie muss ein Ende haben.

Die Frage drängt sich auf: Wie säkular soll, ja muss das Staatswesen und seine tragenden Institutionen sein? Wie viele religiöse Symbole verträgt beispielsweise die Justiz als dritte Gewalt in einer multireligiösen Gesellschaft?

Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang zum Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen bereits 2003 angemahnt, die “Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität” strenger zu handhaben, um Konflikte zwischen Religionen zu vermeiden.

Für Richterinnen oder Staatsanwältinnen ist die Rechtslage eindeutig: Landesgesetze schreiben vor, keine “sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole zu tragen”. Musliminnen ist während der Referendarzeit das Tragen von Kopftüchern innerhalb von Dienstgebäuden untersagt, bei Schöffinnen mit Kopftuch zeigt sich die Justiz mal tolerant, mal ablehnend. Die Justiz reagiert eher hilf- und orientierungslos. Zwei Wege sind möglich: “Einübung in die Toleranz”, etwa das Aufeinandertreffen im Gerichtssaal eines jüdischen Angeklagten mit Kippa, der vor einer muslimischen Schöffin mit Kopftuch steht – unter einem christlichen Kreuz. Oder aber, wie im laizistischen Frankreich, das Verbot jeglicher religiöser Symbolik im Gerichtssaal – selbstredend auch Verzicht auf das obligate Kruzifix an der Wand.

“Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat, alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber muss ist in einer modernen Grundrechts-Demokratie gottlos sein.”

Im öffentlichen Streit wird hier vor allem von Seiten konservativer Parteien oft und gerne auf “das christliche Abendland” verwiesen, gewissermaßen als Pauschal-Legitimation für die Dominanz der christlichen Kirchen im öffentlichen Raum.

Philosophie- statt Religions-Unterricht in der Schule?

Niemand kann die Prägung unserer Kultur durch das Christliche ignorieren, aber gab es nicht lange vor der christlich-abendländischen Imprägnierung (mit all ihren Wirrungen und Barbareien) nicht auch schon die prägenden Philosophen? Staatskunde, Humanismus, Sinnstiftung – bis heute haben ihre Fragen, ihre Gedanken, ihre Leitideen für unser Leben und Zusammenleben Relevanz. Und was die elementaren Bürgerechte betrifft – von Meinungsfreiheit bis Frauenrechten – kurz das, was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, sie alle wurden gegen die Religionen und ihre irdischen Verwalter erkämpft. Also: Warum eigentlich kein Philosophie-Unterricht statt Religions-Unterricht in unseren Schulen?

Fest steht: Die integrationsbedingte Pluralisierung der religiösen Geographie hat die bewährte, traditionelle Arbeitsteilung zwischen Kirche und Staat in Schieflage gebracht. Der Staat ist gefordert, sich gewissermaßen religionspolitisch neu zu orientieren. Was fehlt, ist ein Kompass dafür, wie das Neutralitätsgebot des Staates angesichts wachsender kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt am besten zu schützen ist. Es gilt, die Grundsätze des säkularen Staates zu verteidigen.
Nicht nur bei Gericht: es geht nicht um die Austreibung Gottes aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen.

Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der der beiden großen christlichen Konfessionen – eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsfelder. Und der Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Unser Grundgesetz sollte gottlos sein. Ob moslemische Gottes-Fanatiker, christliche Fundamentalisten, ob Hardliner des Vatikans oder alt-testamentarische Rabbiner – sie alle müssen zur Kenntnis nehmen: Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat, alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber muss ist in einer modernen Grundrechts-Demokratie gottlos sein. Es geht darum, die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen, damit Gott nicht in die Politik zurückkehrt. Der Staat vor der Religion, der Bürger vor dem Gläubigen.

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