Verbindungen zwischen Arbeits- und Umweltkämpfen könnten aus der Leiderfahrung der globalen Arbeiter*innenklasse hergestellt werden. Warum? Die Naturalisierung dieses Leids im Kapitalismus geht schließlich Hand in Hand mit der Normalisierung der exzessiven Ausbeutung von Arbeit und Natur. Deshalb kann in der großen ökologisch-ökonomischen Krise unserer Zeit die Arbeiter*innenklasse nur dann zu einer plausiblen und wirkungsvollen gesellschaftlichen Kraft avancieren, wenn wir proletarisches Leid entschieden politisieren und, wie Slave Cubela in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “Allied Grounds” argumentiert, einen Kommunismus des Körpers konstruieren.
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Ein echtes Geschenk ist schmerzhaft, weil es bedeutet etwas wegzugeben, dass man selber gerne behalten hätte. Echte Erkenntnis ist ähnlich: auch sie tut weh, wie mir vor einiger Zeit die Lektüre von Wolfgang Hiens „Die Arbeit des Körpers“ deutlich zeigte. Schließlich musste ich mir nach dem Lesen dieses Buches als Arbeiteraktivist eingestehen, dass ich mich trotz einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Arbeiter*innen und Arbeiter*innenklassen einer riesigen Ignoranz schuldig gemacht hatte. Denn erst Hiens beeindruckende Studie über die Verwundungen, die der Arbeitsprozess im gesamten 20. Jahrhundert in Deutschland und Österreich nach sich zog, führte mir vor Augen, welche immense Rolle Arbeitsleid in zwei industrialisierten Ländern gespielt hatte und spielte.
Ebenso wichtig wie dieses peinliche Eingeständnis waren die Folge-Fragen, die ich mir stellte, vor allem: Wenn Hiens Buch darauf hinwies, wie sehr Arbeiter*innen im Arbeitsprozess als Subjekte nicht nur geprägt, sondern auch zugerichtet werden, hatten diese deformierenden Prägungen womöglich weitreichende soziale Folgen? Schüttelten Arbeiter*innen diese Erfahrungen in ihren Kämpfen ab und leisteten dort gewissermaßen „bedingungslosen“ Widerstand? Oder wirkte das Arbeitsleid auf den sozialen Widerstand ein, nicht zuletzt deshalb, weil es diese Menschen erschöpfte und resignieren ließ?
Krieg der Produktion
Während mich diese Fragen beschäftigten, begann ich immer mehr Meldungen über das Arbeitsleid in unserer Gegenwart zu sammeln. Beispiel eins: WHO und ILO gingen im Jahr 2016 davon aus, dass durch arbeitsbedingte Krankheiten und Verletzungen global knapp 1,9 Millionen sterben. Zum Vergleich: In den vier Jahren des Ersten Weltkriegs starben knapp 9 Millionen Soldaten. Denken wir diese Gegenüberstellung weiter, stellt sich die Frage: Tobt in der kapitalistischen Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts ein verborgener Produktionskrieg mit auf vier Jahre hochgerechnet ähnlichen Verlusten bei den „Arbeits-Soldaten“?
Beispiel zwei: Wie schmerzhaft die neoliberale Welle des Arbeitsleids sein muss, zeigt sich in zwei verstörenden Phänomenen: dem Selbstmord am Arbeitsplatz sowie dem Amoklauf am Arbeitsplatz. Während über Selbstmorde am Arbeitsplatz aus vielen Ländern seit Jahren berichtet wird, wird das vor allem in den USA verbreitete Phänomen des arbeitsplatzbezogenen Amoklaufes öffentlich weitgehend ignoriert. Dabei jedoch ist es derart verbreitet, dass es mit „Goin´ Postal“ zur Redewendung geworden ist, nachdem es ab Ende der 1980er Jahre zu einer ganzen Reihe von Amokläufen von Postbediensteten in Postämtern gekommen ist.
Beispiel drei: Die hoch repräsentative Beschäftigtenbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin findet alle sechs Jahre statt. Wirft man einen Blick auf die 2018er-Befragung, dann scheint es subjektiv um die deutsche Arbeitswelt vor der Corona-Krise bestens bestellt gewesen zu sein. 90,7% der Befragten sind nämlich entweder zufrieden oder sogar sehr zufrieden mit ihrer Arbeit insgesamt. Allein auf die Frage: „Sagen Sie mir bitte, ob die folgenden gesundheitlichen Beschwerden bei Ihnen in den letzten 12 Monaten während der Arbeit bzw. an Arbeitstagen aufgetreten sind. Uns interessieren die Beschwerden, die häufig vorkamen“, kommt es zu folgenden Resultaten: 49,5% klagen über häufige Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich, 47,8% durchleben häufig allgemeine Müdigkeit, Mattigkeit oder Erschöpfung, 46,2% haben häufig Schmerzen im unteren Rücken sowie Kreuzschmerzen, 35,5% sind häufig von körperlicher Erschöpfung geplagt, 33,6% von Kopfschmerzen, 29,5% von nächtlichen Schlafstörungen und 25,9% von emotionaler Erschöpfung.
Kurz gesagt: Folgt man dem Arbeitnehmer*innen-Bewusstsein in Deutschland, dann haben wir keine Arbeitsleid-Epidemie. Vertraut man aber dem unbestechlicheren menschlichen Körper der gleichen Arbeitnehmer*innen, dann ist das Gegenteil der Fall.
Um diese Meldungen, die allesamt aus der Vor-Corona-Zeit stammen, etwas besser einordnen zu können, sollten zunächst zwei Hinweise genügen. Erstens, dass Corona die Verhältnisse der Arbeitswelt abermals verschlimmerte, dafür spricht die Fluchtbewegung aus der Arbeit, die während der COVID-19 Pandemie nicht nur in den USA als „Great Resignation“, sondern sogar in China um sich griff. Zweitens, so erschütternd allein diese Meldungen sind, wir sprechen hier überwiegend von der Arbeitswelt der transatlantischen Kolonialstaaten. Das Arbeitsschicksal des globalen Proletariats im Globalen Süden, insbesondere im riesigen informellen Sektor, über das man bei Harsha Walia, Mike Davis oder Jan Breman viel erfahren kann, ist deutlich schlimmer.
Das Konzept der industriellen Leidarbeit
Man kann sich nun leicht denken, dass diese und viele ähnlich gelagerte Meldungen die eingangs umrissenen Fragen nicht zur Ruhe kommen ließen. Das Ergebnis meiner Überlegungen ist das Konzept der industriellen Leidarbeit, dass ich wie folgt umreißen würde.
Erstens: wenn Hiens Buch die Bedeutung des Arbeitsprozesses für das Leben von Arbeiter*innen hervorhebt, dann stellt das Konzept der industriellen Leidarbeit diesen Arbeitsprozess in den Mittelpunkt seiner geschichtlichen Überlegungen. Das mag trivial anmuten, denn schließlich ist es allgemein bekannt, dass „Arbeit das halbe Leben“ ist. Allein, wie der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel anmerkte, nur weil etwas bekannt ist, ist es darum noch nicht erkannt, und das gilt auch für die menschliche Arbeit. Denn wo sind trotz des riesigen Umfangs an Literatur über Arbeit jene Publikationen, die z.B. der Frage nachgehen, inwieweit der neoliberale Arbeitsprozess mit Phänomenen wie dem historischen Aufstieg des Rechtspopulismus oder der gesellschaftlichen Verdrängung der Ökologieproblematik zusammenhängen?
Zweitens: wenn der Arbeitsprozess Geschichte macht, dann behauptet das Konzept der industriellen Leidarbeit, dass er dies vor allem dadurch tut, dass er Menschen prägt. Und das meint vor allem: wenn Arbeiter*innen in ihrem Arbeitsleben bis ins 21. Jahrhundert hinein Leid zu durchleben haben, so unterstellt das Konzept der industriellen Leidarbeit, dass diese Erfahrung von Arbeitsleid bei der Subjektprägung von Arbeiter*innen entscheidend ist. Zwar soll damit nicht behauptet werden, dass dieses Leid alle Arbeiter*innen gleichermaßen trifft, denn allein schon, weil sie Individuen sind, sind Arbeiter*innen unterschiedlich resilient. Vergegenwärtigen wir uns also folgendes: Der kapitalistische Produktionsprozess als Ausbeutungsprozess versucht tendenziell immer ein Maximum an Arbeitskraft für möglichst wenig Arbeitslohn herauszupressen. Daraus folgt, dass Arbeitsleid jene sozialepidemische Dimension hat, die wir oben bereits angerissen haben. Mehr noch: Arbeitsleid wird zu einem geschichtsrelevanten Faktor, weil es massenhaft Subjekte prägt.
Drittens: Karl Marx hat betont, dass es gilt, Arbeiter*innen nicht nur als passive Wesen zu sehen, die ihrem Elend ausgeliefert sind. Das Konzept der industriellen Leidarbeit nimmt diesen Hinweis auf, indem es Arbeitsleid als Prozess betrachtet, in dem Arbeiter*innen ebenso aktiv sind wie ihre sogenannten Arbeitgeber*innen. Um also zu unterstreichen, dass Arbeiter*innen auch in ihrer Lohnarbeit und dem Leid, dass sie in ihr erfahren, Subjekte bleiben, spreche ich von industrieller Leidarbeit, d.h. jedes Arbeitssubjekt macht eigenständige Leiderfahrungen, indem es beständig Formen des Umgangs mit diesem Leid schafft, es also mit dem Leid psychodynamisch „arbeitet“. Und diese industrielle Leidarbeit kann sehr verschieden daherkommen: Gespräche unter Kolleg*innen, situative Fluchten im Arbeitsalltag, anonyme Sabotageakte, spontane Arbeitsniederlegungen, gewerkschaftliche Aktivitäten usw.
Viertens: das Konzept der industriellen Leidarbeit geht davon aus, dass es keine Arbeit ohne sprachliche Sinnzuschreibungen gibt, d.h. in jeder menschlichen Gesellschaft etabliert sich ein Arbeit-Sprache-Nexus. Dieser Nexus ist von entscheidender Bedeutung. Auf der einen Seite stabilisiert er herrschende Produktionsverhältnisse, indem er den Arbeiter*innen „erklärt“, warum sie arbeiten müssen wie sie arbeiten. Solange die Arbeiter*innen im herrschenden Arbeit-Sprache-Nexus gefangen bleiben und damit dessen Begriffe und Narrative kritiklos verinnerlichen, solange leisten sie kaum Widerstand, vielmehr empfinden sie ihr Arbeitsleid vor allem als ihr individuelles Versagen. Allein: industrielle Leidarbeit kann sich durchaus gegen den herrschenden Arbeit-Sprache-Nexus kehren.
In kleinen Gesprächen gelingt es Arbeiter*innen untereinander Empathie zu zeigen und sich Mut zu machen. Diese Gespräche werden intensiver und Arbeiter*innen beginnen den herrschenden Arbeit-Sprache-Nexus direkt zu hinterfragen. Auftretende gesellschaftliche Krisen können diese subversiven Sprechakte zusätzlich befeuern und vor allem verallgemeinern. In Akten der Selbstaufklärung beginnen Arbeiter*innengruppen womöglich alternative Sinnzuschreibungen für ihre gesellschaftliche Stellung zu formulieren. Und je mehr Kontinuität diese Sprechakte haben und je erfolgreicher die Arbeiter*innen mit ihnen Widerstand leisten, umso deutlicher treten sie als autonomer, sozialer Akteur geschichtlich in Erscheinung.
Für einen Kommunismus des Körpers
Es würde hier nun zu weit führen, alle Implikationen dieses Konzepts auszuführen. Aber eines der wesentlichen Ergebnisse meines Buchs zum Thema, in dem ich das Konzept der industriellen Leidarbeit ausführlich entwickle, besteht in dem Hinweis, dass eine der großen Niederlagen der Linken im 20. Jahrhundert fast unbemerkt in der von Taylor und Ford etablierten wissenschaftlichen Fabrik stattgefunden hat. Genauer formuliert: Obgleich die Linke gerade nach 1945 einen weitreichenden Einfluss in vielen Gesellschaften erlangte, so hatte sie sich schon nach dem Ersten Weltkrieg in den Betrieben der technokratischen Logik der unablässigen Produktivkraftentwicklung unterworfen. Diese Unterwerfung, die fast alle linken Strömungen kennzeichnete, unterdrückte die industrielle Leidarbeit, also die Wortergreifung der Arbeiter*innen systematisch, so dass die Arbeiter*innen nach und nach zur Kenntnis nahmen, dass ihre Kampf-Organisationen im Kernbereich ihres Arbeiter*innen-Lebens, dem alltäglichen Arbeitsprozess, keine grundlegende Veränderung suchten und sich damit nur rhetorisch von vielen bürgerlichen Akteuren unterschieden. Nach einem letzten, vergeblichen Versuch in den 1970er Jahren eine „Humanisierung der Arbeit“ herbeizuführen, sorgte der Angriff des „autoritären Liberalismus“ (Chamayou) für ein Verstummen der Arbeiter*innen – zur Auflösung ihres Widerstands jedoch nicht.
Diese Niederlage der Linken in der Fabrik ist jedoch keine Geschichte von gestern, sie hat anhaltende Folgen. Denn: wenn Menschen die Überausbeutung der unmittelbaren Natur ihres eigenen Körpers und ihrer eigenen Gesundheit schweigend hinnehmen und für unabänderlich halten, und lediglich für bessere Löhne, aber nicht für eine grundlegende Änderung der Produktionsverhältnisse kämpfen, warum sollten sie sich gegen die Überausbeutung der sie und uns alle umgebenden Natur engagieren? Das meint aber auch: Gelänge es der Linken dieses unsagbare Leid in der Arbeitswelt aufzubrechen und durch neue Wortergreifungspraxen gegen die Verhältnisse zu kehren, dann stiegen die Chancen, Arbeitskämpfe mit Umweltkämpfen zu verbinden. Pointiert gesprochen: wir brauchen einen Kommunismus des Körpers.
Dieser Kommunismus versteht sich als Ende der blindwütigen (Selbst-) Ausbeutungsgeschichte der menschlichen und nicht-menschlichen Naturressourcen, also als leibhaftige Balance zwischen Mensch und Natur. Dieser Kommunismus würde die Arbeiter*innen für den Kampf gegen die ökologischen Kipppunkte zu gewinnen suchen, indem er mit ihnen den Kampf gegen die Kipppunkte des Arbeitsleids aufnimmt. Anschließend an die Erfahrungen der Arbeiter*innenmedizin in Italien wüsste dieser Kommunismus, dass der Kampf der Arbeiter*innen für eine gesunde Arbeit und Arbeitsumwelt die Produktion eines allgemeinen Umweltbewusstseins bei den Arbeiter*innen erleichtert.
In diesem Kommunismus verlieren die landläufigen Arbeiter*innen-Organisationen zugunsten einer Mischung aus Arbeiter*innenräten und Soli-Kliniken an Bedeutung. Ähnlich wie in der Gesundheitszentren-Bewegung würden sich kommunale Anlauf- und Koordinationspunkte weniger die Heilung von Krankheit als vielmehr die nachhaltige Produktion von Gesundheit zur Aufgabe machen. Nicht zuletzt wären diese kommunalen Zentren wichtige Orte, an denen die Organisation von kollektivem Widerstand gegen krankmachende Herrschafts- und Naturverhältnisse stattfinden würde – sozusagen Medizin als kollektives empowerment begriffen.
Die Linke müsste den Erfolg ihrer Bemühungen nicht mehr an volkswirtschaftlichen Kennzahlen festmachen, sondern sie würde neben ökologischen Messwerten anhand der Statistiken der Sozialepidemiologie ihre Erfolge abschätzen können. Also beispielsweise ob es zu einer Angleichung der Lebensdauer innerhalb der gesellschaftlichen Klassen nach oben kommt. So wäre in diesem Kommunismus des Körpers radikale Demokratie nicht nur eine Frage deliberativer Prozesse. Vielmehr könnte radikale Demokratie in der humanen Arbeit möglichst aller Menschen als tagtägliche, sinnliche Erfahrung dekommodifizierter Arbeitsprozesse im Bereich der Produktion und Reproduktion zum Tragen kommen.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist ein Beitrag zur “Allied Grounds”-Textreihe der Berliner Gazette; die englische Fassung finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der “Allied Grounds”-Website. Schauen Sie mal hier https://berlinergazette.de/de/projects/allied-grounds.