Dinosaurier des 21. Jahrhunderts? Zur Zukunft von Gemeingut, Staat und Markt

Ist das Gemeingut ein Dinosaurier des 21. Jahrhunderts? Oder unsere Zukunft? Die Antwort hängt davon ab, ob unsere Gesellschaften sich so umstellen, dass dieser Sektor florieren kann. Medientheoretiker und Berliner Gazette-Autor Felix Stalder hinterfragt am Beispiel der öffentlichen Bibliothek die Beziehung von Staat, Markt und Gemeingut.

*

Wie steht das Gemeingut zum Markt und zum Staat, also zu öffentlichen Institutionen? Und im Hinblick auf Archive und Bibliotheken: In welcher Beziehung stehen sie als öffentliche Institutionen zum Gemeingut? Eins ist klar: Das Gemeingut steht nicht jenseits von Markt und Staat, es ergänzt beide.

Gehen wir einen Schritt zurück. Staat und Markt sind keine Gegensätze, sie ermöglichen einander. Der Markt könnte ohne Staat nicht existieren. Selbst die radikalsten Mittel der Deregulation sind immer noch Regulation. Oftmals reduzieren sie nicht den Umfang der Regulation. Sie sind eher eine Reorganisation von Möglichkeiten, Kosten und Vorteilen. Auf die gleiche Weise funktioniert der moderne Staat zu großen Teilen, um einen “freien Markt“ überhaupt erst möglich zu machen.

Seine grundlegendste Funktion ist der Schutz von Eigentum, die Durchsetzung von Verträgen und die Bereitstellung einer stabilen Währung. Wir könnten bald herausfinden, was mit den Märkten passiert, wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, diese letzte Funktion zu erfüllen. Über die Jahre gab es eine Menge Diskussionen darüber, ob bestimmte Funktionen vom Staat zum Markt hin verschoben werden sollten. Insgesamt sind die beiden aber Teile eines ganzheitlichen Systems, das zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Logiken der Produktion von Gesellschaft verbindet.

Diskutieren, überdenken, entwickeln, umstellen

Was die Debatte über die Commons jetzt suggeriert, ist, dass es ein drittes produktives System gibt: das Gemeingut. Bisher entwickelten sich diese quasi unbeachtet und im wesentlichen in einem Umfeld, das sie weder verstand noch fördern konnte. In dieser Situation stoßen sie an enge Grenzen. Wollen wir ihren Wachstum fördern, müssen wir unsere Gesellschaften, das heißt sowohl Elemente des Staates wie auch des Marktes, so umstellen, dass dieses dritte System erfolgreich funktionieren kann.

Das könnte einfach sein, ist es aber nicht. Denn wir müssen das in einem Kontext tun, in dem der Staat und der Markt nicht nur in enger Beziehung zueinander stehen, sondern in dem beide Systeme sich immer mehr angleichen. Selbst öffentliche Institutionen haben heutzutage die Aufgabe, als Teilnehmer des Marktes zu agieren und Gewinn zu erwirtschaften. Und der Markt wird in großem Umfang subventioniert. Das ist nirgendswo deutlicher als im Kultursektor der Fall, aber keineswegs nur dort.

Das ist eine sehr problematische Entwicklung – besonders für die öffentlichen Institutionen, die ihre charakteristischen Fähigkeiten verlieren, im öffentlichen Interesse zu agieren. Sie werden gezwungen, sich als Marktteilnehmer zu verhalten. Eine Rolle, die sie meistens eher schlecht erfüllen. Die Debatte über das Gemeingut ermöglicht uns auch, öffentliche Institutionen und Marktakteure zu überdenken und zu überlegen, welchen Beitrag sie für die Entwicklung des Gemeinguts leisten können.

Produktive Dreiecksbeziehung

Wir müssen fragen, welche Ressourcen und Dienste durch die öffentlichen Institutionen bereitgestellt werden sollten, welche durch den Markt und was als Gemeingut produziert werden kann. In dieser Diskussion müssen wir darauf bedacht sein, nicht die Stärke und Rolle öffentlicher Institutionen herunterzuspielen. Ich meine jene Rolle, die sie als Dienstleister für jeden ohne Interesse an Gewinnerwirtschaftung haben. Wenn wir diesen Aspekt unterschätzen, wird die Diskussion über das Gemeingut ein weiterer Vorwand, öffentliche Institutionen zu schwächen und die Möglichkeiten für jene zu erweitern, die bereits eine Menge besitzen.

Eine produktive Beziehung zwischen Staat, Markt und Gemeingut könnte – zumindest im Bereich der Kultur – so aussehen: Öffentliche Institutionen wie Archive und Museen stellen Ressourcen bereit. Sagen wir, sie generieren ein Potential. Erst die aktive Nutzung des Gemeinguts schafft eine Nachfrage. Hier kommt der Markt ins Spiel. Er kann bestimmte Dienste hinzufügen und erfinden. Schließlich ist jene Nachfrage, die durch das Gemeingut gesättigt werden kann, immer auch begrenzt.

Vermisst: Google-Suchergebnis Nummer 1001

Nehmen wir das Beispiel öffentliche Archive. Sie müssen ihr Material so organisieren, dass ihre Nutzung in der Eigenschaft als Gemeingut einfach gemacht wird. Das schafft Nachfrage. Gleichzeitig müssen sie es für Marktakteure so gestalten, dass diese zusätzliche Dienste erstellen können. Solange die darunterliegende Ressource frei bleibt, ist ihre kommerzielle Nutzung kein Problem, ganz im Gegenteil. Wir kennen das aus dem Bereich der Freien Software.

Zurück zu den Archiven: Etwas einfach zu machen für die Nutzung, heißt, es wirklich einfach zu machen. Wir leben in einer Welt des Informationsüberflusses. Jede Google-Suche generiert mehr Ergebnisse, als wir jemals nutzen können. Wenn etwas schwer zu finden ist, wird niemand es nutzen. Einen eigenen Speicher zu schaffen, ist keine Option. Denn User bemerken im Angesicht des Informationsüberflusses nicht, dass sie etwas vermissen. Das selbe gilt für Beschränkungen der Wiederverwendung. Wenn man 100 Bilder finden kann – warum würde man etwas benutzen, das mit Kosten oder Einschränkungen daherkommt? Vielleicht ist das Bild besser. Was aber, wenn die anderen für den eigenen Zweck ausreichend sind?

Blühendes Gemeingut im Dienste der Öffentlichkeit

Freier Zugang und Wiederverwendung sind Voraussetzungen, damit das Gemeingut die Nachfrage an den Materialien in Archiven entstehen lassen kann. Wer das nicht zur Verfügung stellt, wird nicht erfolgreich sein. Ohne diese Nachfrage wird die öffentliche Unterstützung für Archive und Bibliotheken geschwächt, bis zu dem Punkt an dem Budgetkürzungen ohne Widerstand hingenommen werden.

Nehmen wir eine Studentin von mir als Beispiel. Sie ist eine aufstrebende junge Künstlerin, gewissermaßen ist sie Expertin auf dem Gebiet der Information. Eines Tages beschwerte sie sich über den Onlinekatalog der Bibliothek. Sie konnte dort keine Bücher finden. Ich konnte das Problem nicht nachvollziehen, weil die Bibliotheken in Zürich, wo ich unterrichte, hervorragend sind. Die meisten Bücher sind frei verfügbar und können einfach ausgeliehen werden. Aber sie beschwerte sich, dass die Bücher nie vorhanden seien – und sie kannte sich offensichtlich mit dem Onlinekatalog aus.

Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich verstand, dass sie nicht zwischen Katalog und Bestand unterschied. Ihr Problem war, dass die Bücher selbst nicht Teil des Katalogs waren. Das Modell, demgegenüber die Bibliothek als unzureichend dastand, war eindeutig Google Books. Und dieser so wahrgenommene Makel war so fundamental, dass Qualitätsunterschiede gar keine Rolle spielten.

Wir könnten sagen, das sei dumm. Aber das sind die Erfahrungen der Menschen, die in ein paar Jahren über die öffentlichen Gelder entscheiden. Deshalb sollte es im eigenen Interesse der öffentlichen Archive liegen, ein blühendes Gemeingut entstehen zu lassen. Das verlangen und legitimieren ihre Dienste als öffentliche Dienste. Archive müssen das aber anhand der Bedingungen des Gemeinguts tun, nicht umgekehrt.

Archive sind nur ein Beispiel. Ähnliche Überlegungen sollten auch auf anderen Gebieten angestellt werden, denn Gemeingüter brauchen öffentliche Institutionen – und umgekehrt.

3 Kommentare zu “Dinosaurier des 21. Jahrhunderts? Zur Zukunft von Gemeingut, Staat und Markt

  1. Das Beispiel mit der Studentin finde ich sehr anschaulich, eine typische Vertreterin der “Digital Natives” denke ich. Und wie Felix richtig sagt, man könnte sich darüber lustig machen, dass sie denkt, dass Bücher nicht existieren, weil sie digital nicht verfügbar sind, aber wenn man kurz innehält, dann erkennt man, dass der Gedankengang wirklich nur logisch ist.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.