Im Berliner Stadtteil Friedrichshain singen die Balkone und grölen die Touris. Das Viertel erstickt an seiner eigenen Angesagtheit und an den Folgen der Gentrifizierung. Berliner Gazette-Autor Patrick von Krienke tut das geschundene Friedrichshain Leid. Ein besseres Konzept muss her, findet er. Eine teilnehmende Beobachtung.
*
Die Idee ist einfach wie sympathisch. Menschen, die singen können oder wollen, tun dies von ihren Balkonen aus und das Publikum zieht dafür von Balkon zu Balkon. Menschen lernen sich kennen und es macht einen guten Eindruck. Klassik, Bluegrass, Rock, Folklore, Cover-Pop. Was sich halt so in F’hain die Mieten noch leisten kann.
Unter einem Balkon in der Marchlewski stehen die Massen und oben singt ein schwachbrüstiger Jüngling klassische Liebeslieder. Ein bisschen Romeo Revisited. Montague hat nun seinen eigenen Balkon. Die irritierten Nachbarn sind das witzigste an der Aktion. Verstörte Blicke und ungläubiges Erstaunen schlecht toupierter Menschen im Morgenmantel oder Lümmelshirt über bald 500, 600 Schaulustige im eigenen Hinterhof, während ein Mädchen mit schriller Perücke in bester Punk Allüre verzweifelt im dritten Versuch das Mikrophon bearbeitet.
In der Libauer, wo zwei sympathische Schießbudenfiguren massentauglichen Rockabilly Pop von einem winzigen Seitbalkon aus über die Kreuzung schallen lassen, nehmen die üblichen Verdächtigen überhand. Gegelte Karohemdträger mit Kaschmirschal, die ihren Kollegen in Stuttgart oder Emden gleich lautstark per Funktelefon mitteilen müssen, wie brutal krass Berlin doch ist. Stell Dir vor, die machen hier im Herbst draußen Musik. Krass. Brutal. Zwischen zwei Laufbieren ist für die Simon-Dach-Touris der Auflauf „fucking amazing“.
Genau das ist das Problem von Friedrichshain. Während Prenzlauer Berg verhältnismäßig langsam durch den sozialen Aufstieg von vielen Zugezogenen gentrifiziert wurde, erstickt vor allem der Südkiez in einem Quadrat zwischen Ostkreuz, Ring Center, Frankfurter Tor und Warschauer Brücke an der eigenen Angesagtheit. Ferienwohnungen – halblegal oder geduldet illegal – sind nur eines der vielen Probleme.
Nur ein Späti, bitte!
Wer als EasyJetSetter nur drei Tage auf Party in der Stadt ist, braucht keinen Blumen- oder Schreibwarenladen. Nur einen Späti und die nächste Bar. So ziehen sich entlang der nächtlichen Runways Alkoholverkaufsstellen, Callshops, billige oder überteuerte Pizzerien und Cocktailbars. Nur die Lokale für Erwachsenenunterhaltung halten sich im Gegensatz zum Hamburger Kiez (noch) dezent zurück.
Inzwischen gibt es Wohnhäuser im Boxi-Kiez, in denen drei oder vier reguläre Mietparteien der dreifachen Anzahl von Ferienwohnungen und Turbo-WGs gegenüberstehen. Dazu kommen der offene Drogenhandel (u.a.) am RAW-Gelände und die nicht endenden Flaschenbiergelage in den Grünanlagen, die kaum einen Buddelkasten und kaum eine Rasenfläche verschonen.
All die jungen, erlebnishungrigen Menschen, die vor allem in der warmen Jahreszeit ein Stückchen der Berliner Verheißung von relativer Freiheit und Kreativität kosten wollen, müssen irgendwo unterkommen – sicher. Aber ein besseres Konzept tut Not. Die Eröffnung des nächsten 400-Betten-Hostels direkt hintern Ostkreuz in Rummelsburg ist sicherlich nicht der richtige Weg. Armes, geschundenes Friedrichshain denke ich mir, bevor es zu Klassik und Janis Joplin in den nächsten Hinterhof geht.
Anm.d.Red.: Das Foto stammt von Mario Sixtus und stehen unter einer Creative Commons Lizenz.
Was ist denn eine Turbo-WG?
Turbo-WG: Wohngemeinschaft mit häufig,oftmals sogar im Vierteljahrestakt wechselnden Bewohner-Belegungen. Dabei werden den Neueinmietern meist jeweils höhere Mieten abverlangt. Je nach “Geschäftsmodell” bleibt das Geld beim Hauptmieter oder wird häufiger zwischen Huptmieter und Vermieter in unterschiedlichen Proportionen aufgeteilt. Turbo- oder auch Durchlauf-WGs sind eine der Gründe für die enormen Preise auf dem grauen Wohnraummarkt.