Ausbreitung der Kontaktzone: Dunkelziffer-Bewegungen in Zeiten der Quarantäne

Am 13.03. hat der Schriftsteller und Berliner Gazette-Autor Lars Popp – während sein Alter Ego Steffen Popp, statt partizipative Performances zu veranstalten, in die Corona-Pause gezwungen ist – eine lose “Chronik der Coronatage” begonnen. Hier veröffentlichen wir ausgewählte Passagen aus den bisherigen Einträgen.

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Das passiert jetzt wirklich: Freitag, 13.03.2020

Das Gefühl: “Passiert das jetzt wirklich? Das passiert jetzt nicht wirklich, oder? Doch, das passiert jetzt wirklich!”, lernte ich das erste Mal bei einem Autounfall vor knapp zwanzig Jahren kennen. Während mein Toyota aus Unachtsamkeit von der Straße abkam und sich in den Graben auf der Gegenfahrbahn wie eine Schraube hineinbohrte, schien die Zeit sich extrem zu verlangsamen, die Wahrnehmung außerordentlich geschärft zu werden. Sekunden vergingen wie Minuten, alles war klar, scharf, hell. Aber dennoch unwirklich, wie ein direkt in mein Gehirn projizierter Kinofilm, außerhalb meiner Kontrolle, während zugleich irgendwelche Hormonausschüttungen irritierendes Lebendigkeitsgefühl durch meinen Körper spülten; ein paar Tage fühlte ich mich geradezu angefixt und zugleich aus der Bahn geworfen davon.

Das zweite Mal überfiel mich etwas Ähnliches, wenn auch nur als Zuschauer, am Elften September. Dann in zunehmender Frequenz, in Abwechslung von direkter Beteiligung und Nichtbeteiligung, bei gleichzeitiger Abstumpfung: 2008 (Immobilienblase), 2011 (Fukushima), 2015 (sogenannte Flüchtlingskrise), 2016 (Trump, Brexit), mit jeder weiteren Grenzüberschreitung der Rechtspopulisten. Kürzlich überfiel mich dieses Gefühl ähnlich intensiv wie 2001: Beim Anschlag in meiner Nachbarstadt Hanau.

Jetzt ist es voll und ganz wieder da wie in meinem Toyota.

Doch, das passiert jetzt wirklich. Der Unfall ereignet sich wirklich. Die kinetische Energie des Ereignisses trifft dich wirklich. Du fährst in den Graben. Wir fahren in den Graben. Ich, du und wir: Keiner schaut jetzt mehr nur zur. Wir sind jetzt alle beteiligt, mittendrin, statt nur dabei.

Zu gerne möchte man jetzt, würde die Welt wie ein analoger Kassettenrekorder funktionieren, auf Vorspulen drücken, um einen Blick auf die Post-Corona-Welt werfen zu können. Auf das kulturelle soziale politische Umfeld. Fest steht: Es wird einiges zwangsweise auf Reset gesetzt werden.

Aktuell bleibt nur das Mitschreiben. Während die Welt dabei zusieht, wie Corona als Super-Influenza/er unfreiwillige Follower einsammelt und zu unser aller zentralem YouTube-Kanal, zum Master-Control-Programm wird, schneller als alle unsere Bewertungen und Kommentare dazu.

Krisen kehren das Schlechteste und Beste im Menschen hervor, heißt es. Jetzt wird sich zeigen, wie die Menschen wirklich sind. Hinterher wird sich niemand herausreden können.

Unser Gesellschaftssystem, in dem die Ökonomie als letzte und einzige große Erzählung alle übrigen geschluckt hat, nährte sich bisher von dem Bild, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Diese Kampfhaltung über einen “Markt” auszutragen, der zugleich mit unsichtbarer Hand als Schiedsrichter agiert, ermögliche erst die Hervorbringung des Besten für alle; Moral davon ein sekundäres Abfallprodukt.

Die Wissenschaft hingegen geht zunehmend vom Umgekehrten aus: Einfühlungsvermögen, selbstloses Handeln ohne direkte Gegenleistung und das Streben nach Gleichheit hätte dem Menschen einen Großteil seiner evolutionären Vorteile gegenüber anderen Spezies erst ermöglicht. Dieses Programm sei der Wesenskern.

Hat also bloß ein bescheuert-falsches Bild vom Menschen, das wir uns selbst eingeredet haben, uns alle an den Rand des ökologischen Zusammenbruchs geführt? Oder sind wir doch gnadenlos zum Massenselbstmord verdammt? Ist das Virus gekommen, um uns dabei etwas Arbeit abzunehmen? Ist es eine Abstoßungsreaktion der Erde?

Konkurrenz oder Kooperation. Jetzt wird gewissermaßen der globale empirische Nachweis über den stärkeren Urinstinkt geführt. Schon feiern manche voreilig den Sieg des Letzteren. Hoffen wir nicht nur, sondern arbeiten mit daran, dass dies auch dann noch stimmt, wenn wir am Gipfelpunkt der Krise sind. Und die persönliche Betroffenheit – sei es gesundheitlich oder ökonomisch – nochmal eine andere.

In jedem Fall, wenn wir uns dann nachher die Protokolle des weltweiten Experiments ansehen, wird über deren Deutung zu reden sein. Und die Konsequenzen für unser Zusammenleben in der Zukunft.

Vorerst sind wir mittendrin. Die Krone vs. Corona der Schöpfung.

Vorherträumen und Hinterhersein: Samstag, 14.03.2020

Auch dies, wie den elften September, die Terroranschläge, haben wir bereits vorhergeträumt: Im Kino.

Contagion. Outbreak. Pandemie. 12 Monkeys. 28 Days Later. Dallas Byers Club. Zoomania. Planet der Affen. World War Z. The Walking Dead …

Wie verliefe die Krise ohne diese kollektiv unbewusste Vorübung?

Und was würden wir jetzt ohne das Internet machen? Mit ihm im Tal der Enttäuschung angekommen, bekommen die sogenannten “Sozialen Medien” unverhofft eine zweite Chance. Sich diesen Namen nun wirklich zu verdienen.

Schon schießen über die Messenger die ersten Selbstorganisationsnetzwerke #NachbarschaftsChallenge #SoliCorona usw. aus dem Boden. Sie drucken Plakate, richten Verteilstellen ein, organisieren Nachschub. Mittels der Software Folding@home können die freien Rechenkapazitäten von Heimcomputern bei der Erforschung des Virus und möglichen Wirkung von Impfstoffen mithelfen. (Nachtrag: Aktuell ergibt das den schnellsten Supercomputer der Welt.)

Doch es muss sich erst erweisen, ob diese Fraktion langfristig die Mehrheit behält. Auch die Verschwörungstheorien schießen natürlich wieder ins Kraut.

Mithelfen bei der Rückkehr von Vernunft und Aufklärung. Sich auf das Positive konzentrieren, es damit verstärken helfen, dabei das Negative aber nicht verschweigen. An den kategorischen Imperativ als brauchbare Handlungsmaxime erinnern.

Vom Ungewissen: Sonntag, 15.03.2020

Werden Populisten es erneut verstehen, Gewinn aus der Lage zu ziehen? Starker Staat, Notstandsgesetze, Freiheit einschränken, Grenzen dichtmachen, jeder für sich, autark statt global, Durchgreifen! Wie geschaffen für die braunen Brüder. Andererseits zerplatzt jede Sprechblase an den molekularen Stacheln des Virus, am konkreten Greifen oder Nichtgreifen von Maßnahmen dagegen.

Und was wird mit den Geflüchteten an den Außengrenzen?

Und was wird mit den Geflüchteten an den Außengrenzen?

Und was wird mit den Geflüchteten an den Außengrenzen?

Kurvendiskussion: Montag, 16.03.2020

“Die Kurve kriegen” in Zeiten von Corona:

Die letzten Bücher für die Kinder kriegen. Das letzte Toilettenpapier kriegen. Den letzten Flieger nach Hause kriegen. Erstmal keine Quarantäne, aber die Nachrichtenkrankheit kriegen. Andere Kriege nicht mehr gezeigt kriegen. Die letzten Hamster kriegen. Ansagen von oben kriegen. Böse Vorahnungen immer schneller bestätigt kriegen. Sich dennoch wieder einkriegen. Dennoch keine Panik kriegen. Dafür sicher bald Lagerkoller kriegen. 9 Monate später erste Pandemie-Kinder kriegen.

Al Gores berühmte Kohlendioxid-Exponentialkurve aus Eine unbequeme Wahrheit. Die legte sich so ins Zeug, dass es aussah, als müsste man schnell handeln. Das war 2006; 34 Jahre brauchte es von Die Grenzen des Wachstums bis dahin und 13 von dort bis Fridays for Future.

Nun hat #Flattenthecurve die #climatechallenge während der letzten Rechtskurve auf der inneren Spur mal eben schnell überholt.

Das Wachstum der einen bremst das der anderen, liest man jetzt – beide Kurven werden wir dennoch zu spüren kriegen. Abgesehen von denen an den Börsen natürlich, die sind noch schneller: Zweiter schwarzer Montag in Folge, schlimmster Exponentialabstieg seit 1987, schon wieder – historisch! – aus der Kurve getragen.

Geht die Corona-Kurve aber irgendwann wieder nach unten, werden wir wieder Wachstumssteigerung brauchen. Damit wird auch die Klimakurve wieder wachsen; evtl. sogar noch ein bisschen exponentieller.

Quadratur des Kreises: Wie kommen wir raus aus den Kurven?

Psychochoreografie: Mittwoch, 18.03.2020

Gestern dann auch mal wieder im Supermarkt gewesen. Risikobewertung des Robert Koch-Instituts ja jetzt auf “hoch”. Auf dem Weg dorthin festgestellt, dass wir alle Teil eines Musicals geworden sind – nur ohne den Musikschmalz. Dafür gibt es permanent Tanzeinlagen. Anderthalb Meter Abstand führt auf den engen Bürgersteigen hier zu beständigen Ausweichbewegungen, über die zunächst irritierte, dann dankbare Blicke erwidert werden. Oder die Situation, wo zwei sich begegnen und nicht wissen, wer zuerst wo herum, also andeuten, zurückziehen, andeuten, zurückziehen … Es scheint, als hätten wir uns in unsere hippen Staubsaugroboter verwandelt, die per Ultraschall jedes Hindernis um 2cm zu umgehen versuchen, was zu hilflos-possierlich wirkenden Moves führt.

Nur: Der Roboter spult dabei nur ein Programm ab. In uns, die wir umeinandertänzeln, laufen noch andere Prozesse. Jetzt wird in die Augen geguckt, gemutmaßt, gehofft, genickt. Jetzt treten wir, uns distanzierend, in Kontakt. Und sehen über unseren Köpfen die Gedankenblasen schweben.

All diese Verlaufslinien von oben nachgezeichnet, ergäbe sich womöglich ein Bewegungsmuster, das man auch dem Kunstmarkt andienen könnte.

Interessanterweise schossen just heute Artikel über Handy-Bewegungsdaten positiver Getesteter als eine zeitgemäße Rettungsstrategie ins Kraut. China ist hier mit einer Tracking-App Vorreiter, natürlich – aber auch Korea und Israel wenden Ähnliches an. Dann würde mein Handy Alarm schlagen, wenn ein Infizierter vorbeiläuft, wie die gruseligen Blink-Blink-Bewegungsmelder in den Alien-Filmen. Das RKI erhielt von der Telekom gestern schon ein anonymisiertes 5GB-Datenpaket mit Bewegungsdaten von den Sendemasten; weitere werden folgen.

Wer wollte jetzt so kleinlich sein, an Datenschutzproblematiken zu erinnern …?

Bewegung kontrollieren und einschränken, keine Massenbewegung mehr zulassen, alles im “Krieg” gegen das Virus.

Schon richtig, aber auch Vorsicht: Dialektik, Alter!

Anm.d.Red.: Lesen Sie mehr aus der Chronik der Coronatage auf complifiction.net

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