Kybernetische Proletarisierung: Wie in der Pandemie existierende Konflikte verschärft werden

Die Covid-19-Pandemie hat Unternehmen wie Amazon oder Deliveroo Gewinne beschert, geht aber auch mit einer Zunahme von Konflikten am Arbeitsplatz einher. Der Techniksoziologe Simon Schaupp argumentiert, dass die Pandemie Konflikte verschärft hat, die auf die Degradierung von Arbeitnehmer*innen durch digitale Technologien zurückzuführen sind – ein Prozess, der als “kybernetische Proletarisierung” beschreibbar ist. Ein Interview.

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Im Zuge der aktuellen Corona-Krise kommen auch Digital-Unternehmen wie Lieferando und Amazon verstärkt in den Blick. Wie wirkt sich diese Krise denn auf die Plattform-Ökonomie aus?

Es gibt insgesamt einen ganz klaren Boom der Digitalökonomie. Das geht auch über die Plattform-Ökonomie hinaus. Lieferdienste verzeichnen natürlich einen Aufschwung, die großen Plattformen profitieren. Auch traditionelle Internet-Dienstleistungen, eigentlich alles was man so unter dem Begriff der Silicon-Valley-Konzerne fassen würde, ziehen Vorteile aus dieser Situation. Aber auch in der Industrie ist diese Entwicklung beobachtbar. Sofort nach Ausbruch der Pandemie hat das deutsche Wirtschaftsministerium einen Interventionsschub Richtung Digitalisierung verkündet.

Schon vor der Pandemie gab es den Plan einer „neuen Industriestrategie“, sozusagen die Fortführung von Industrie 4.0. Dabei soll die Industriestärke Deutschlands genutzt werden, um einen alternativen Digitalisierungspfad jenseits des Silicon Valley zu etablieren. Wirtschaftsminister Altmaier sagt jetzt ganz programmatisch, dass diese Umstrukturierung die Lehre aus der Pandemie sein muss. Es wird das Argument gemacht, dass diese Strategie resilienter sei und die einzige Hoffnung, eine Stagnation des Wachstums zu überwinden. Insgesamt kann man klar sagen, dass die digitale Ökonomie einer der Profiteure der Krise ist.

Was bedeutet diese Entwicklung denn für Arbeiter*innen, die in der digitalen Ökonomie arbeiten?

Ich glaube dabei ist es wichtig zu unterscheiden zwischen Arbeiten die an einen Ort gebunden sind, und denen die das nicht sind. Viele Formen der Büroarbeit sind natürlich mit einem Aufschwung des Home Office verbunden. Das geht mit dem Vorteil einher, dass diese Jobs sicherer sind in der Krise. Aber auch mit den bekannten Problemen der Entgrenzung: das neoliberale Diktum von der Arbeit als Leben und dem Leben als Arbeit wird nochmal eine Stufe weiter getrieben.

Wesentlich schwerer sind jedoch Jobs betroffen, die an einen bestimmten Ort gebunden sind. Dabei ist das drastischste in der Lieferlogistik zu beobachten. Essenslieferdienste erleben einerseits einen Boom, aber sind andererseits ein Bereich, in dem die stärksten Abwertungsprozesse für Arbeiter*innen stattfinden. Das spitzt sich gerade noch einmal zu: Personen die bei Lieferdiensten arbeiten haben schlechte Schutzausrüstung und fühlen sich dadurch sehr gefährdet. Vielleicht noch schlimmer trifft es die Lagerlogistik-Sektionen der digitalen Ökonomie, insbesondere Amazon, aber auch Zalando: die Arbeit dort beinhaltet unter anderem, dass man auf relativ engem Raum mit anderen Menschen ist. Es ist immer wieder zu hören, dass in diesen Lagern das Virus ausgebrochen ist und sich viele Menschen angesteckt haben.

Das hat aber auch zu massiven Konflikten rund um die Welt geführt. Besonders in den USA gibt es immer wieder Nachrichten von großen Streiks. Das ist eine der wichtigen Konsequenzen: die Gegenwehr, die in vielen Fällen auf die Abwertung resultiert. Wir hatten es bereits vorher mit einem wesentlich konflikthaften Prozess zu tun, und das verstärkt sich jetzt noch einmal.

Diese Abwertungsprozesse beschreibst du in deiner Arbeit als ‘kybernetische Proletarisierung’. Was ist damit genau gemeint?

Der Begriff der Proletarisierung klingt vielleicht etwas angestaubt, ich halte ihn aber für wichtig, weil er ein anderer Begriff ist als der der Arbeiter*innen. Bei Marx bezeichnet das Proletariat diejenigen, die abhängig von Lohneinkommen sind. Arbeitslose, aber auch Scheinselbstständige in der Plattformökonomie wären mit diesem Begriff besser beschrieben als mit dem Begriff der Arbeiter*innen. Und der Begriff der Proletarisierung als Prozess bezeichnet eine Intensivierung dieses Abhängigkeitsverhältnisses.

Meine These ist, dass wir es aktuell mit einer verschärften Form der Proletarisierung zu tun haben, weil der digitalisierte Arbeitsprozess selbst mit dafür sorgt, dass die Arbeit aus den Produktionsprozessen verdrängt wird. Bei den Logistik-Arbeiter*innen in den Amazon Warehouses besteht die digitale Komponente vor allem in der algorithmischen Arbeitssteuerung, die sie durch die Lager dirigiert. Sie ist aber nicht nur dazu da, den direkten Arbeitsprozess zu kontrollieren. Sondern auch, um Daten zu akkumulieren, die dann genutzt werden um die Aufgaben letztlich zu automatisieren. Dann gibt es Transportroboter, welche die Aufgaben der ‚Picker‘ vollziehen können. Das heißt das Bewegen durch die Lagerhalle selbst wird zur Grundlage für die Abschaffung dieser Arbeit.

Und ähnliches kann man auch in vielen anderen Jobs beobachten. Ich habe in einer Fabrik eine teilnehmende Beobachtung gemacht wo es Aufgabe der Facharbeiter*innen war, während der Arbeit ihr Wissen über die Produktion in ein Computersystem einzugeben. Daraus wurde dann ein digitales Assistenzsystem entwickelt. Das wurde später genutzt, um keine Facharbeiter*innen mehr anstellen zu müssen und laut Management “jeden von der Straße nehmen zu können”, natürlich zu geringerem Lohn.

Eine besondere Rolle in diesem Zusammenhang spielt auch migrantische Arbeit. Kannst du erklären, wie es dazu kommt?

Migrantische Arbeit spielt in zweifacher Hinsicht eine Rolle für digitale Arbeit. Einerseits durch migrantische IT-Spezialist*innen, die in Deutschland durch das im März in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz nochmal gezielt angeworben werden. Andererseits durch eine weniger bekannte Tendenz, die symmetrisch dazu stattfindet: die Integration von niedrigbezahlter migrantischer Arbeit, spezifisch in der digitalen Ökonomie.

Das sehen wir bei der Versandlogistik, im Online-Versand, wo bei den großen Logistikzentren teilweise bis zu 70 Prozent migrantische Arbeiter*innen eingesetzt werden, insbesondere sogar Geflüchtete. Wir sehen es aber auch bei den Lieferdiensten, wo gut ausgebildete Migrant*innen eingesetzt werden, die keinen Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt finden. Das hat viel damit zu tun, dass keine sozialen Beziehungen notwendig sind um in diesen Arbeitsmarkt einzusteigen. Ich kann mich online bewerben, es ist ein automatisierter Bewerbungsprozess, und man muss kein Deutsch sprechen um das machen zu können. Die digitale Arbeitssteuerung ermöglicht es, Menschen jenseits von sprachlichen Fähigkeiten in bestimmte Produktionsprozesse einzubinden.

Das gilt für die Essenslieferdienste, wo mir das Handy genau sagt wo ich jetzt hinfahren muss, ohne dass dazu spezielle Sprachkenntnisse notwendig sind. Das gilt aber auch für andere Arbeitsprozesse. In den Industriebetrieben, die ich beobachtet habe, konnte ich das auf identische Weise beobachten. Die Manager die ich interviewt habe, sagen dezidiert dass sie neue, billige Arbeitskraft dadurch besorgen wollen, indem sie algorithmische Arbeitssteuerung jenseits von Sprache zur Anwendung bringen. Dadurch können sie migrantische Arbeit und insbesondere Flüchtlinge, deren Arbeitskraft sie besonders günstig kaufen, in den Arbeitsprozess einbinden.

Für diese Arbeit ist also nicht einmal mehr die Beherrschung der Sprache notwendig, weil Kontrolle über digitale Technologie stattfindet?

Genau. Aber da ist eben nicht nur der Aspekt der Kontrolle, sondern auch die Steuerung notwendig. Es braucht eben auch keine Einarbeitung mehr. Ich habe mit Vorarbeitern in der Logistik geredet, aber auch im Industriebereich. Die sagen, dass durch die algorithmische Steuerung die Einarbeitung quasi entfällt oder auf einen Tag on-the-job Training reduziert wird, auch für deutschsprachige Beschäftigte. Und dass die Einbindung von migrantischer Arbeit dadurch möglich wird, dass niemand ihnen mehr Anweisungen geben muss. Keiner muss ihnen genau erklären was sie machen müssen und zu welcher Zeit sie das machen müssen. Das sagt das Gerät in einstellbarer Sprache oder sogar einfach nur mit Piktogrammen.

Du beschreibst, dass sich auch branchenübergreifend Arbeitsprozesse angleichen, und sehr ähnlich werden. Wie funktioniert diese Angleichung?

Das Arbeitserleben gleicht sich insofern an, als dass die Arbeit von Beschäftigten zunehmend darin besteht, Anweisungen von algorithmischen Kontrollsystemen abzuarbeiten. Das steht in der Arbeitserfahrung der von mir befragten Beschäftigten im Vordergrund. Demgegenüber tritt dann das eigentliche Arbeitshandeln, z.B. das Essenausfahren oder das Zusammenschrauben von irgendwelchen Steckdosen, in den Hintergrund.

Aus der Sicht des Unternehmens ermöglicht das zunächst Einsparungen. Aber für die Beschäftigten ermöglicht es auch eine Solidarisierung, die bis auf eine internationale Ebene reicht. Anders als sonst in globalen Konzernen üblich gibt es nicht mehr eine globale Arbeitsteilung im Sinne einer Diversifizierung von Tätigkeiten. Stattdessen hat der Deliveroo-Fahrer in Oslo und in Spanien exakt denselben Arbeitsablauf. Es bedarf deswegen auch wenig Interpretation um zu sehen, dass man sich in derselben Situation befindet und sich daher auch einfacher zusammenschließen kann. Und das passiert auch, es gibt gerade in diesen Bereichen eine Explosion von international koordinierten Arbeitskämpfen. Das hat man in anderen Bereichen nicht und ist unter anderem darauf zurück zu führen, dass die Arbeitsprozesse global identisch verlaufen.

Eine Angleichung der Arbeitsprozesse gab es ja in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder. Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich auch daraus die Industrie-Arbeiterschaft entwickelt. Könnte aktuell ein ähnlicher Prozess absehbar sein?

Ja, das würde ich sagen. Nicht nur durch die Angleichung von Arbeitsprozessen, sondern auch durch die Konflikthaftigkeit dieser Prozesse. Ich habe ja vorhin diese Entwicklungen mit dem Schlagwort der kybernetischen Proletarisierung beschrieben. Man kann natürlich davon ausgehen, dass diese Abwertungsprozesse nicht auf große Freude treffen und konflikthafte Reaktionen auslösen. Das ist tatsächlich auch empirisch so: es gibt eine starke Zunahme von Arbeitskämpfen in genau den Bereichen die am stärksten von dieser algorithmischen Arbeitssteuerung betroffen sind. Vor kurzem wurde eine Studie für den englischen Arbeitsmarkt veröffentlicht, die zeigt dass im Bereich der Essenslieferdienste 42 Prozent mehr Arbeitstage an Streiks verloren werden im Jahr als in der sonstigen Ökonomie. Das heißt, es gibt eine wesentliche höhere Streik-Intensität und auch gesteigerte Häufigkeit von informellen Arbeitskämpfen.

Betonenswert dabei finde ich, dass es zwar die Tendenzen zu Überwachung und Atomisierung der Arbeiter*innen gibt, von denen man überall zu diesem Thema lesen kann. Vor allem Forscher*innen, die dazu keine empirische Arbeit machen, sehen vor allem immer diese Tendenzen. Und folgern daraus, dass eine Organisierung quasi unmöglich sei. Lustigerweise wurde ja genau dasselbe von den Automobilarbeiter*innen behauptet, bevor die Hochzeit der Organisierung in dieser Branche begann. Da wurde gesagt, die stehen da nur am Fließband, das ist alles technisch vorgegeben, die kann man nicht organisieren. Und danach sind genau diese Beschäftigten zum Rückgrat der Arbeiter*innenbewegung geworden. Etwas ähnliches könnte man sich durchaus auch für das kybernetische Proletariat vorstellen, also für die Personen, die eben dieser algorithmischen Arbeitssteuerung unterworfen sind und unter diesen dequalifizierten Arbeitsprozessen arbeiten.

Insgesamt ist die digitale Ökonomie ja ohne Krisen wie die Dotcom Bubble und die Finanzkrise 2008 gar nicht denkbar. Welche Re-Strukturierungen könnte denn die derzeitige Krise in Gang setzen?

Generell gibt es einen sehr engen Zusammenhang von technologischer Entwicklung und ökonomischer Krise. Ich glaube das ist ein fruchtbarer Ansatz, aus dem sich viel erklären lässt. Dabei ist meines Erachtens nach aber ein Krisenverständnis angezeigt, das nicht nur auf die Kapitallogik schaut, sondern auch auf die Reaktionsweisen von Arbeiter*innen auf die jeweiligen Restrukturierungen. Und da kann man aktuell beobachten, dass es zu Konflikten und Arbeitskämpfen kommt, auch in den neu entstandenen Bereichen der digitalen Ökonomie. Spannend wird sein, welche Formen der Konfliktkultur sich dort etablieren.

Für Deutschland kann man sagen, dass sich das etablierte Modell der Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmen und Gewerkschaften schwer tut in der digitalen Ökonomie. Teilweise wird versucht, die hier üblichen Institutionen wie Betriebsräte und Gewerkschaften als Sozialpartner zu etablieren. Generell zeichnet sich aber eine antagonistischere Form der industriellen Beziehungen ab. Dabei stellt sich die Frage, ob das zu einer Zuspitzung von Klassenkonflikten führen könnte. Das scheint mir keine unwahrscheinliche Option zu sein, wenn es nicht eine präventive Reaktion der Unternehmensseite gibt, sich auf sozialpartnerschaftliche Lösungen einzulassen.

Anm. d. Red.: Das Interview führte Valentin Niebler im Rahmen des Projekts “Platform Labour in Urban Spaces“.

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