In den letzten Jahren haben wir eine Renaissance der politischen Bewegungen erlebt: Occupy, arabischer Frühling, #15m, Stuttgart 21 und viele mehr. Was unterscheidet diese neue Generation von Aktivisten von den 68ern? Die Journalistin Fanny Steyer geht der Frage nach.
*
Borka Pavićević, die kürzlich in Berlin war, ist eine lebenslang engagierte Bürgerin. Als serbische Avantgarde-Regisseurin und -Dramaturgin hat sie an der Entwicklung der Kultur- und Theaterszene Jugoslawiens mitgewirkt und gegen das Regime von Slobodan Milošević gekämpft. Seit 1991 gehört sie zu den engagiertesten Persönlichkeiten, die die Anti-Kriegsbewegung im ehemaligen Jugoslawien geprägt haben.
Aktivismus statt Widerstand
In den 1990ern gründete sie das Zentrum für kulturelle Dekontamination. Das erklärte Ziel: die während des Bürgerkriegs sich ausbreitende Kontamination der serbischen Gesellschaft mit Xenophobie und Nationalismus zu bekämpfen. Heute werden in dem Zentrum Veranstaltungen zu Themen wie Menschenrechte, Gender und Kultur organisiert. Für ihr Engagement hat Borka Pavićević zahlreiche Auszeichnungen bekommen, darunter den Preis der Hiroshima Foundation für Frieden und Kultur.
Die lebenslange Aktivistin gehört zur 68er-Generation. Sie weiß, dass sich die Zeiten geändert haben, umso wichtiger ist es ihr, sich zu engagieren. „Wir leben in einer Welt, in der es unmenschlich ist, sich nicht politisch zu engagieren“, betont sie. Wenn man sie nach den heutigen Aktivisten fragt, stört sich Borka Pavićević bereits an dem Begriff „Aktivismus“, der eine Kreation unserer modernen Gesellschaft sei. Sie findet, die Grundperspektive auf politisches Engagement habe sich gewandelt: „Es gibt zu viel Passivität in unserer zeitgenössischen Welt. Das ist der Grund, warum wir Widerstand ‘Aktivismus’ nennen.“
Zu dieser Grundperspektive zählt für die Aktivistin auch eine gewisse Einstellung der jüngeren – also meiner – Generation: Herumlungern und Spaß haben spielen eine große Rolle. Nichts für Pavićević. Die 66-jährige gönnt sich keine Pausen im Alltag: „Ich entspanne mich nie. Wenn ich aufwache, stehe ich auf, um sofort arbeiten zu gehen.“ Mehr noch: Borka Pavićević behauptet, sie habe kein Privatleben. Bei dieser Provokation geht es ihr aber nicht um den Wortlaut, sondern um die Einstellung. „Ich bin gegen die Attitüde der jetzigen Generation, die immer alles genießen will.“, fügt sie hinzu. „Aktivismus ist ein Engagement, um frei zu sein und Freiheit ist nicht immer mit Glück verbunden.“
Langer Atem der Klicker
In den Statements von Borka Pavićević finde ich mich persönlich nicht wieder. Sie hat zwar Recht, wenn sie sagt, dass es in meiner Generation kaum noch Menschen ihrer Art gibt. Ich glaube aber, dass das dem Aktivismus keinen Abbruch tut, weil dieser heutzutage auch andere Facetten hat.
Aktuelle Formen des Aktivismus können beispielsweise nach dem Crowdfunding-Prinzip funktionieren: Eine Bewegung kann von vielen kleinen Beiträgen leben, die zusammengenommen einen starken politischen Willen artikulieren. Eine solche Bewegung lebt nicht in erster Linie von Vollzeitaktivisten – wie noch vor 50 Jahren. Sie lebt von Menschen, die sich nebenbei engagieren.
Bei diesen Zeitgenossen darf es sich natürlich nicht nur um sogenannte Slacktivisten handeln, die nur ein paar Klicks „für gute Zwecke“ leisten, um ihr Gewissen zu beruhigen. Sonst ist eine Bewegung tatsächlich, der „Kurzatmigkeit der neuen Kommunikationsmittel“ (Michal) ausgeliefert. Nein, nicht Knöpfe und Programme, sondern Menschen tragen eine politische Bewegung. Menschen, die ein besseres Leben wollen.
Ist das nicht ein Wunsch, den man ein Leben lang hegt? Selbst wenn man sich nicht permanent mit der Erfüllung dieses Wunsches beschäftigt?
Anm. d. Red.: Mehr zum Thema in unserem Dossier Raumschiff Erde. Der Artikel basiert auf ein Interview, das mit Borka Pavićević im Rahmen der “Mobilize”-Konferenz der Heinrich Böll Stiftung stattfand. Ein Video ihres Auftritts ist auf YouTube zu sehen. Das Foto stammt von Mario Sixtus und steht unter einer Creative Commons Lizenz.
“Ist das nicht ein Wunsch, den man ein Leben lang hegt? Selbst wenn man sich nicht permanent mit der Erfüllung dieses Wunsches beschäftigt?”
guter punkt! nur… also wer ist bereit für ein besseres leben sich einzusetzen, das nicht nur sein eigenes leben ist? also wer ist bereit gemeinsam mit anderen für ein besseres leben zu kämpfen?
wollen nicht alle immer nur für sich selbst etwas erreichen? gerade wenn es um ein besseres leben geht? gerade wenn es um genuss und solche dinge geht?
@r2d2
Dies ist kein Aufruf zum Nichtstun, im Gegenteil!
Meiner Meinung nach jedoch ist der Mensch grundsätzlich erst einmal damit beschäftigt etwas für sich selbst zu tun, denn er ist primär an seinem eigenen Wohlbefinden interessiert.
Sei es nun die Beschaffung von Ressourcen, oder die Verbesserung eigener oder allgemeiner Bedingungen, das umtriebige menschliche Verhalten lässt keine andere Deutung zu. (Gut sein ist dabei wohl die intensivste Form eigenes Wohlbefindenden zu steigern)
Die Beschreibung skurrilster Formen, die diese Art der Selbstbefriedigung annehmen kann, ist zu vielschichtig und würde den Rahmen eines Kommentars sprengen.
Bleibt noch zu sagen, die Protagonisten jedweder Zeit orientierter Bewegungen (auf gesellschaftliche und soziale Zusammenhänge, positiver od. negativer Art, bezogen) sind zumeist starke Persönlichkeiten mit Führungsqualitäten, deren Ideen und Ansprüche jedoch nicht ohne Verfallsdatum wirksam sind. Anspruchsvolle Dinge tun ist mühsamer, als einen button mit dem nichts sagenden Text: “Gefällt mir” zu betätigen.
H.-J. stumm