Medien-Dossier: Die Welt nach Cablegate

Unser Medien-Dossier “Die Welt nach Cablegate” versammelt erste Versuche einer kritischen Auseinandersetzung mit der Serie von WikiLeaks-Enthüllungen, genauer gesagt: mit ihrem bisherigen Höhepunkt, dem so genannten Cablegate-Skandal. Es geht an dieser Stelle nicht darum, die 251.287 internen Berichte und Lagebeurteilungen der US-Botschaften auszuwerten. Vielmehr wollen wir analysieren, was für Folgen deren Veröffentlichung hat. Ganz wichtig: Das Dossier ist an dieser Stelle nicht abgeschlossen. Kommentare nehmen wir wie immer ernst. Hinweise auf andere Artikel begreifen wir als Denkanstöße. Updates werden eingearbeitet, entsprechend markiert und bekanntgegeben.

Durch die Brille diverser Berliner Gazette-Autoren, darunter Clemens Apprich, Christoph Bieber, David Pachali, Fabian Pittroff, Pit Schultz, Andi Weiland und Krystian Woznicki, wird eine breit gefächerte Annäherung an das Thema möglich. Wir haben wichtige Stichworte ihrer Beiträge fett markiert und den Namen des Autors (immer in Klammern) mit dem jeweiligen Text verlinkt.

AM ANFANG STEHEN AHNUNGEN

Dieses Dossier lässt ein vielschichtiges Gesamtbild entstehen. Wir gestehen: Keiner der hier versammelten Beiträge ist mit diesem Ziel vor Augen entstanden. Vielmehr haben sich die Texte mehr oder weniger selbst geschrieben. Der gemeinsame Nenner ist wohl der Eindruck aller AutorInnen, dass etwas wichtiges passiert ist. Rop Gonggrijp hat diesen Eindruck gut auf den Punkt gebracht: “Recent events will impact the world, and our corner of it, for some time to come”.  Oder auch der US-Radiomoderator Christopher Lydon: “a completely new information regime is being born in this whole WikiLeaks story” (Radio Open Source).

Die weitreichenden Verschiebungen können zu diesem Zeitpunkt nur erahnt werden. Entsprechend beschreibt jeder Text eine Suchbewegung – und findet dafür sein individuelles Format. Bei dem reflexartigen Graben im Mülleimer der Internet-Geschichte etwa tritt die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace zu Tage (Pachali). Bei nachdenklichen Rückblicken auf das Jahr 2010 werden wiederum Worte für Verschiebungen gesucht: eine kritische Grenze ist überschritten worden, was den Zugang zu Informationen anbetrifft (Weiland) und eine neue Unsicherheit greift um sich: wo sind welche Informationen schon vorhanden? (Pittroff).

MECHANISMEN WERDEN SICHTBAR

Selten zuvor hat eine Veröffentlichung so viele unterschiedliche Mechanismen unserer Gesellschaft auf einmal sichtbar gemacht. An dieser Stelle sei nur einige wichtige genannt: Die schnelle Erhitzung der Medien führt zu einem emotionalem Rausch der Massen (Schultz); die jähe Verschränkung von Politik und Unterhaltung torpediert einen Military-Entertainment Complex (Woznicki)  – demnächst in einem Kino in Ihrer Nähe (Pachali); der ideologische Rückzug global agierender Unternehmen wie Mastercard auf nationales Terrain (bei uns rückt das legendäre Magazin Wired ins Blickfeld), sobald eine Krise größeren Ausmaßes “ins Haus” steht (Woznicki).

Die Ordnugsbegriffe des 20. Jahrhunderts versagen offensichtlicher denn je (Bieber). Die voranschreitende Digitalisierung hat eine neue Situation geschaffen, die im Zuge des Cablegate-Skandals wie unter einem Vergrößerungsglas erkennbar wird. Verschiedene Phänomene und Prozesse müssen einer erneuten Prüfung unterzogen werden: die Prekarisierung der Institutionen (Apprich), das Monopol des Staates auf Transparenz und das damit verknüpfte Ringen um eine neue Rechtsordnung (Woznicki).

AUSBLICKE AUF EINEN EPOCHALEN WANDEL?

Die Zeit ist reif für etwas möglicherweise epochal Neues. Das Potenzial dazu ist gegeben. Immerhin: Eine neue Kommunikationssituation ist entstanden (Schultz); eine neue Kontrollinstanz im System der Herrschaft hat Gestalt angenommen (Apprich); ein neuer Journalismus-Typus kommt in die Welt (Matzat): viele Debatten, die die Gesellschaft in den letzten Jahren beschäftigt haben werden auf einen neuen Boden gestellt. Etwa Gatekeeper vs. Gateopener,  Journalismus und Öffentlichkeit, die Rolle des Intellektuellen (Bieber).

Das Internet könnte im Zuge dessen zu einem neuartigen Ort der Mobilisierung werden. Am Horizont der kollektiven Utopien zeichnet sich jedenfalls eine Verschiebung ab: von sozialen Bewegungen, die das Internet für ihre revolutionären Ziele nutzen, hin zu sozialen Bewegungen, die das Internet selbst revolutionieren (Woznicki). Es gilt jedenfalls ein neues Verhältnis zu Technologie und zum Programmieren zu verhandeln (Bieber).

DENKANSTÖSSE FÜR DEBATTEN

Die hier zusammengetragenen Beiträge liefern nicht zuletzt Denkanstöße für Debatten – etwa im Kommentarbereich der Berliner Gazette, wo bereits einige denkwürdige Stimmen laut geworden sind, unter anderem im Hinblick auf die Qualitätsschere zwischen der WikiLeaks-Berichterstattung in den USA und Großbritannien im Vergleich zur hiesigen Auseinandersetzung.

In diesem Sinne freuen wir uns auf weitere Beiträge (zum Beispiel im Rahmen unseres Jahresschwerpunkts WAS BLEIBT?) und auf weitere Diskussionen in der Berliner Gazette. Also: Kommentieren Sie! Und: Schreiben Sie uns (info/at/berlinergazette.de)!

Wir hoffen darüber hinaus, dass dieses Dossier auch an anderen (publizistischen) Orten wahrgenommen wird. Wir möchten damit jedenfalls einen Beitrag dazu leisten, dass das Potenzial des Ereignisses für die Gesellschaft von möglichst Vielen ausgeschöpft wird.

33 Kommentare zu “Medien-Dossier: Die Welt nach Cablegate

  1. Hier ein Hinweis zu einer Veranstaltung der Böll-Stiftung zum Thema:

    “WHISTLEBLOWING, WIKILEAKS UND DIE NEUE TRANSPARENZ
    Gespräche zur Netzpolitik”

    Datum: Dienstag, 8.02. 2011, 20 Uhr
    Ort: Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin
    Eintritt frei

    Mit: Daniel Domscheit-Berg, OpenLeaks.org / Ex-WikiLeaks-Sprecher, Constanze Kurz, Informatikerin und Sprecherin des Chaos Computer Clubs (angefragt) Konstantin von Notz, MdB, Bündnis 90/Die Grünen Moderation: Daniel Schulz, Ressortleiter taz2/Medien, die tageszeitung

    Spätestens seit der Veröffentlichung der US-Botschaftsdepeschen durch WikiLeaks ist Whistleblowing in aller Munde. Dabei ist das Leaken von geheimen Informationen nicht erst seit WikiLeaks ein
    wirksames Mittel zur Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz.

    Der wohl berühmteste Fall ist die Watergate-Affäre in den
    frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts.

    Durch die Digitalisierung ist die Veröffentlichung geheimer Informationen einfacher geworden: während in den 70ern noch nächtelang Dokumente abfotografiert oder fotokopiert werden mussten, reicht heute ein USB-Stick, um tausende von Dokumenten zu vervielfältigen. Whistleblowing-Plattformen ermöglichen dann die anonyme Verbreitung dieser Informationen.

    Welche Auswirkungen hat die neue Transparenz auf die Gesellschaft? Wie muss eine ideale Whistleblowing-Plattform aussehen, die nicht die Fehler von WikiLeaks wiederholt? Wie verändert sich der investigative
    Journalismus durch diese Plattformen? Wie kann zur Förderung öffentlicher Transparenz eine sinnvolle Zusammenarbeit der politischen, gesellschaftlichen und medialen Akteure aussehen?

    Live im Internet unter http://www.boell.de/stream

  2. Tolles Dossier und wenn man bedenkt, dass die Artikel erst innerhalb der letzten zwei Monate geschrieben worden, hoffe ich dass es über das Jahr noch viel mehr werden.

  3. apropos: “der ideologische Rückzug global agierender Unternehmen auf nationales Terrain”:

    Visa Inc. is a global payments technology company headquartered in San Francisco, California. It facilitates electronic funds transfers throughout the world, most commonly through Visa-branded credit card and debit cards.

    VISA blockiert Spenden an Wikileaks seit gut 2 Monaten.

    Die von VISA mit der Prüfung von Wikileaks beauftragte Firma Teller AS kam bereits Ende Dezember zu dem Ergebnis, dass die Wikileaks Finanzabteilung weder gegen das isländische Gesetz, noch gegen die AGBs von VISA verstößt.

    “Bei Wikileaks ist alles legal”

    Visa sperrt weiter.

    http://www.netzpolitik.org/2011/von-visa-beauftragte-prufer-bei-wikileaks-ist-alles-legalvisa-sperrt-weiter/

  4. die Flut von Büchern über die Folgen der WikiLeaks-Enthüllungen aus dem Jahr 2010 wird durch ein e-book ergänzt:

    “Open Secrets: WikiLeaks, War and American Diplomacy: Complete and Updated Coverage from The New York Times”

    ( http://www.nytimes.com/opensecrets )

    die Einleitung zu dem Buch, geschrieben von NYT-Redakteur Bill Keller, findet sich hier:

    ( http://www.nytimes.com/2011/01/30/magazine/30Wikileaks-t.html?_r=1 )

    Keller:

    “I suspect we have not reached a state of information anarchy.”

    “At least not yet.”

  5. BART SIMPSON als BRADLEY MANNING: in der aktuellen Folge der Simpsons “Homer the Father” (ausgestrahlt am 23.1.), stiehlt Bart mit einem USB Flash Drive Geheimnisse aus dem Atomkraftwerk, um sie an die Chinesen zu geben. Im Gegenzug soll er ein Fahrrad bekommen, dass er sich wünscht.
    http://en.wikipedia.org/wiki/Homer_the_Father

  6. wir sind da auf ein neues kontrollorgan gestossen, das die demokratie um einiges direkter machen kann. leaking ins grundgesetz! aber natürlich nur was den öfffentlichen/politischen raum betrifft… privatsphäre muss bleiben. so mancher vermischt beides miteinander in heissen wikileaks/facebook debatten.

  7. @KW: man sollte zu der NYT Veröffentlichung vielleicht noch sagen, dass Assangesich seit geraumer Zeit eine handfeste Auseinandersetzung mit dem Chefredakteur der “New York Times”, Bill Keller liefert.

    Wie bei SPiegel Online zu lesen ist:

    “Assange wirft der Zeitung vor, das Material nur unvollständig veröffentlicht zu haben. Außerdem kritisiert er, die Zeitung habe dem Weißen Haus vor Veröffentlichung zu viele Mitspracherechte eingeräumt.”

    ( http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,741992,00.html )

  8. eine neue Webseite von WikiLeaks heißt “WikiLeaks Roundtable” und was sie eigentlich genau will, wird auch gesagt, nur so richtig superklar, ist das in meinen Augen nicht, denn das was die Webseite in Aussicht stellt, leistet im Grunde schon der “Twitter-Auftritt” von WikiLeaks, oder?

    “The WikiLeaks Roundtable is a new forum for WikiLeaks to talk to everyone around the world. In the past we have often spoken to the public through the press, but we are dedicated to bringing important news directly into the public domain, with the full record available to all and not filtered by intermediaries.”

    http://www.wikileaksroundtable.org/

  9. The Doha Debates are a forum for free speech in Qatar and tackle the region’s most controversial and topical issues. They are sponsored by Qatar Foundation and their broadcasting rights are sold to BBC World News where they are aired monthly, eight times a year.

    A recent show is dedicated to Wikileaks:

    http://www.thedohadebates.com/debates/player.asp?d=90

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.