WikiLeaks, und jetzt? “Eine neue Kommunikationssituation ist entstanden.”

Müssen wir uns damit abfinden, dass der Fall WikiLeaks/Cablegate zu einem weiteren Medienmonster wird, das wir bald ins Museum stellen können? Oder werden hier auch produktive Energien freigesetzt, die allen Mitgliedern der Gesellschaft nützlich sein können? Der Medientheoretiker und Internetaktivist Pit Schultz hat sich ein paar Gedanken gemacht.

WikiLeaks ist inzwischen zu einem erschreckend scheinheiligen Produkt des globalen Medientheaters geworden. Doch zugleich wächst, sozusagen in dessen Hinterhof, etwas wirklich Nützliches heran. Die Dummheit und die Hässlichkeit liegt hier gleich neben der Klugheit und der Schönheit. Man muss selbst entscheiden, welchem dieser beiden “Bilder” man folgen will.

Wer hat die Kontrolle?

Alle Daten zugänglich zu machen, könnte sich als ein nützlicher Ansatz erweisen – Wolfram Alpha etwa arbeitet daran. Man könnte die Diplomatenkabel mit Data-Mining-Techniken durchforsten, Tausende Openleaks-Redakteure könnten die Daten durcharbeiten. Für einige könnte sich das als Goldgrube erweisen, einzelne Geschichten könnten dann an traditionelle Medien weiterverkauft werden.

Doch die Vorstellung, dass hier eine investigative Wahrheit offenbart wird, ist zu einfach. Die dahinterliegende Idee von Geschichte ist selbst ein Produkt der alten Medien. Denn wie Wahrheit erzählt und zum Ereignis wird, hängt selbst von den Mitteln ab, durch die erzählt wird – auch davon, wer diese Mittel kontrolliert.

Mit der WikiLeaks-Debatte ist in den alten Medien ein Phantom entstanden: Cyberpunk-Romantik. Wie schon bei Second-Life, bei der Kinderporno-Hysterie oder beim Narrativ von den Digital Natives haben wir es mit einer Mischung aus Missverständnissen und systemischer Differenzierung zu tun. Viele Medienkünstler, Berater und IT-Journalisten leben davon.

Über die Event-Logik hinausdenken

Ich bin einen Stapel Artikel zum Thema WikiLeaks durchgegangen und neun von zehn kann man, wie üblich, als irrelevant oder redundant aussortieren. Eine Wahrheit wird erzählt, indem die gleiche Meldung immer wieder wiederholt und moduliert wird, schließlich wird sie zum Ereignis ernannt. Am nützlichsten waren wahrscheinlich die Artikelsammlungen von Alexis Madrigal im Atlantic Monthly.

Was bei WikiLeaks einen Unterschied markiert, ist nicht das singuläre Ereignis, das es produziert. Es ist eine neue Kommunikationssituation entstanden, in der sich das Blatt wendet. Konzerne, Private Equity Fonds, Hinterzimmer-Politik und ihre Absprachen werden exponiert. Der Lackmus-Test dafür wird sein, ob das Gebaren von Investmentbankern oder Softwareentwicklern für High-Frequency-Trading bald ebenso transparent sein wird wie der normale Facebook-Nutzer.

Politische Verbrechen liegen heute vielleicht nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert, im Missbrauch der Körper (und den Bildern im Gefolge), sondern sind simple Spiele auf dem Aktienmarkt.

Massenpsychologie und vernetzte Wahrheiten

Wenn sich aufgrund der WikiLeaks-Daten etwas am Lauf der Geschichte ändert, dann nicht wegen des einen Faktums, das aufgedeckt wird. Vielmehr ereignen sich die Veränderungen im Modus einer “choreographierten Konstruktion”. Doch das Netz ist nicht immun gegen Massenpsychologie.

Medienereignisse führen nur zu einem kurzen emotionalen Rausch, mit der heutigen Informationsverarbeitung und der experimentellen oder inkrementellen Konstruktionen vernetzter Wahrheiten haben sie jedoch nichts zu schaffen. Es ist der Lemming-Effekt des Modernismus. Mit den Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari hat es vermutlich so viel zu tun wie das Umgehen der palästinensischen Flüchtlingslager mit einer Militärstrategie des gekerbten Raums.

Das Potenzial dieses Moments urbar machen

WikiLeaks kann nur dann ein produktives Moment entwickeln, wenn jeder versteht, dass alle die Möglichkeit haben, selbst zum Whistleblower zu werden – und das dieser Schritt in der individuellen Verantwortung liegt. Es müssen nicht die großen Geheimnisse sein, unerwünschte Informationen wird es viele geben.

Während der Diskurs schal wird, zeigt sich: zu viele Menschen lesen immer noch New York Times, schauen Fernsehen und bleiben in den Verdauungsmustern der alten Medien verhaftet – Mailinglisten fungieren derweil fast nur als Orte, an denen über die ins Netz gestellten Artikel der Printmedien geplappert werden kann.

Wenn es um die in Software eingelassenen Machtbeziehungen geht, wissen einige Leute allerdings genau, was zu tun ist: Daniel Domscheit-Berg etwa, ehemaliger Mitarbeiter von WikiLeaks und Mitgründer von Openleaks. Sein als Podcast verfügbarer Vortrag gibt einen Überblick über den Stand der Icelandic Modern Media Initiative, die als “Gummireifen auf dem Weg in die von Rop Gonggrijp ausgemalte Zukunft” angesehen wird. Ein Workshop wird sich damit auf dem CCC-Camp im Sommer beschäftigen.

24 Kommentare zu “WikiLeaks, und jetzt? “Eine neue Kommunikationssituation ist entstanden.”

  1. Sehr interessante These und besonders das mit dem kurzen emotionalen Medienrausch hat mir gefallen. Für mich bleibt aber eine Frage offen: Wann kann der Geheimnisverrat zu weit gehen (Privatsphäre) und gegen wen oder was soll sich der Geheimnisverrat richten? Also was ist das Ziel. Das ist mir bisher auch bei Wikileaks noch nicht so schlüssig, sondern ich habe nur ein paar Vermutungen.

  2. Ich kann diese Analogie nicht richtig nachvollziehen, die Links haben zwar schon mal geholfen, aber vielleicht kann das jemand nochmal ausführen?: “Mit den Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari hat es vermutlich so viel zu tun wie das Umgehen der palästinensischen Flüchtlingslager mit einer Militärstrategie des gekerbten Raums.”

  3. neulich waren gerüchte im umlauf, assange werde in das europäische guantanamo in belmarsh versetzt, jetzt die sache kein gerücht mehr zu sein, heute ein artikel im guardian, der darüber berichtet:

    ( http://www.guardian.co.uk/media/2011/jan/11/julian-assange-wikileaks-execution-gantanamo )

    ich frage mich:

    was für folgen hat eine exekution, ein mord oder eine lebenslängliche haftstrafe?

    wird assange zum märtyrer?

    wird es die in diesem artikel angesprochene “wahrheit von wikileaks” noch besser zur tage förder?

    oder werden die meisten menschen davon abgeschreckt?

  4. ein wichtiger Beitrag, der daran appelliert, sich von dem existierenden und wahrscheinlich noch wachsenden Medienmonster namens WikiLeaks oder Cablegate nicht fressen zu lassen; nicht den Kopf im Dauerstrom von Daten hängen zu lassen – und dabei ganz erregt oder schon wieder gelangweilt zu vergessen, dass hier vor uns sich etwas aufgetan hat: eine Möglichkeit, eine Herausforderung, vielleicht so etwas wie eine historische Chance und Verantwortung.

    Neben diesem Appell gibt es Handlungsvorschläge, die nicht von reinem Aktionismus getrieben sind, sondern schon etwas weiter blicken.

    Eben auch über die allgegenwärtige Rede von der Informationsüberflutung hinaus:

    “unerwünschte Informationen wird es viele geben.”

    Hierin liegt ein Versprechen auf Befreiung, das wir ernst nehmen sollten.

  5. ‎”Medienereignisse führen nur zu einem kurzen emotionalen Rausch, mit der heutigen Informationsverarbeitung und der experimentellen oder inkrementellen Konstruktionen vernetzter Wahrheiten haben sie jedoch nichts zu schaffen.”
    http://alturl.com/5t9mx

  6. “…zugleich wächst, sozusagen in dessen Hinterhof, etwas wirklich Nützliches heran.”

    soll es tatsächlich als so etwas revolutionär-großes gedacht sein wie galileos bahnbrechende entdeckungen? oder sollte man es kleiner denken?

    ich beziehe mich auf eine aussage die gerade die runde macht (siehe unten) und frage mich ob das auch nicht eher teil des medienmonstertheaters ist…:

    ”The Catholic Church shut down Galileo for a hundred years. I think we can shut down Julian Assange.”

    http://www.nationaltimes.com.au/opinion/politics/cant-hide-love-for-wikileaks-20110112-19o1w.html

  7. @johanna: denke, es geht hier um selbstbezüglichkeit der medien, der eine bezieht sich auf eine instanz, die sich wiederum auch schon auf den einen bezogen hatte, man schreibt gegenseitig ab sozusagen, damit entsteht nichts neues und auch nichts, das eine neue wahrheit hervorbringen könnte, weil keiner über den tellerrand der selbstbezüglichkeit schaut.

  8. @Johanna T.: Mein Kommentar ist eine Kritik. Ich halte das, was ich zitiert habe, für eindeutig falsch; Wikipedia ist das beste Beispiel. Medienereignisse gehen sehr wohl in das kollektive Gedächtnis ein und sorgen da natürlich und selbstverständlich auch für Tendenzen bei der Beurteilung von Wahrheit und Falschheit dargestellter Sachverhalte.
    Nenn es die soziale Dimension der Wissenschaften, wenn du willst. Als ob der Punkt, von dem aus du oder die Medien zu denken vermögen, ein Nullpunkt sei… ist doch Quatsch!

  9. @André Lawiak: wir dürfen den Ton dieses Beitrags nicht vergessen: es ist in weiten Teilen eine Polemik. Die Zuspitzungen, wie die betreffende Passage, sind natürlich sehr angreifbar, aber wir müssen auch fragen, was daran richtig ist:

    1. das globale Medienereigniss als “kurzer emotionaler Rausch”. Ich würde von der massenpsychologischen Wirkung des Blockbusters (“wörtlich bedeutet Blockbuster „Wohnblock-Knacker“, was sich auf Fliegerbomben gleichen Namens bezieht, die im Zweiten Weltkrieg verwendet wurden.” (Wikipedia)) sprechen, die natürlich auch immer mit dem kollektiven Gedächtnis kurzgeschlossen ist.

    2. Wahrheit als “vernetzte Konstruktion” oder “Konstruktion einer Vernetzung” oder “Vernetztheit von Konstruktionen”. Hier fragt sich wovon sprechen wir? Sprechen wir über die allgemeine Wahrnehmung der Massen? Das Imagineering-Programm der War Rooms? oder die soziologisch-philosophische Sicht auf die Dinge? Sicher ist, dass letztere Begriffe und Zugänge zu Phänomenen erschafft, die uns über den besagten “Rausch” erheben können und auch das Verständnis für das Bleibende und die Nachwirkungen eines solchen Erlebnisses ermöglichen: kurz, Zugang zum kollektiven Gedächtnis eröffnen, jener Kammer der “vernetzten Wahrheiten”.

    Also: was hier als unvereinbar präsentiert wird (“hat nichts zu tun mit”), lese ich als polemische Entrüstung (z.B.) gegenüber der brutalen massenpsychologischen Wucht des Medienereignisses und als ebenso polemischen Appell daran, über den emotionalen Rausch hinaus- und die in die vernetzten Wahrheiten des Ereignisses hineinzudenken.

    Entscheidende Hinweise zur Intention des Autor gibt meines Erachtens der erste Absatz.

  10. man sollte sich die betreffenden medienereignisse genauer anschauen. bereits der erste golfkrieg wurde ausgiebig als medienereignis kritisiert und thematisiert. der letzte golfkrieg, die rolle von blair und powell, oder die david kelly / bbc affaere hinterlaesst ein noch fragwuerdigeres bild, was die manipulierbarkeit der oeffentlichkeit betrifft.
    heute finden debatten um medienereignisse um das thema twitter revolution oder eben wikileaks statt, man weiss das ein medienwechsel stattfindet, hat jedoch noch kein geeignetes selbstverstaendnis dafuer entwickelt. das vorwiegende rezeptionsschema wurde eingeuebt in den alten medien und das spektakel setzt sich fort.

    viele scheinenen noch davon auszugehen dass eine kantsche kritik und ein habermascher diskurs weiterhin den standard definieren. dabei hat sich de fakto meiner ansicht nach zumindest eher der zynismus von baudrillard als zutreffender erwiesen, wenn auch nicht als wuenschenswerter, so muss man von den naiven vereinfachungen abstand nehmen, bei denen das internet als allheilmittel der buergerlichen freiheiten gefeiert wird, es bietet offenkundig ebenso viel moeglichkeiten diese freiheiten empfindlich einzuschraenken. vor allem aber entwickeln sich an den schnittstellen der medien, metadiskurse die von den medien und die wahrheitskonstruktion selbst handeln und fuer die andere regeln gelten wie fuer die validierung von fakten. (bei wikileaks oder wikipedia uebrigens grundverschieden)

    natuerlich gibt es ausnahmen:
    wichtig ist zu differenzieren, zwischen dem ruecktritt Horst Koehlers hervorgerufen durch crossmedialen medienverbund radio/blogs/tv/print und der polischen wirksamkeit von twitter beim widerstand auf den strassen im iran oder tunesien, liegt der grosse bereich eines narzistischen echo-chambers, dem glauben von meist westlichen nutzern dass sie durch redundanzproduktion eines me-too-klick-impulses politisch bereits aktiv waeren, und durch schaffung homogener “sehe ich genauso” zonen politische ereignisse schaffen wuerden, oder gar den demokratischen dissens vorantreiben wuerden.

    im originaltext hiess es “the event media can construct can only lead to some kind of “collective emotional rush”, but has nothing to do with todays information processing or experimental and incremental constructions of interconnected truths, its the lemming effect of modernism.”

    Evgeny Morozov schreibt:

    The point here is that while the Internet could make the next revolution more effective, it could also make it less likely.

    http://neteffect.foreignpolicy.com/posts/2011/01/14/first_thoughts_on_tunisia_and_the_role_of_the_internet

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