System-Fehler des Kapitalismus als “Katastrophe” und Chance für globale Arbeiter*innenkämpfe

In der ‘Corona-Krise’ kommen Arbeiter*innenkämpfen eine besondere Rolle zu. Sie zeigen, dass die Überwindung der Krise nicht zuletzt davon abhängt, wie den System-Fehlern des Kapitalismus begegnet wird. Werden sie lediglich behoben oder provozieren sie, dass sich Grundsätzliches ändert? Sozialwissenschaftler, Filmemacher und Aktivist Dario Azzellini unternimmt eine Bestandsaufnahme. Ein Interview.

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Sie beschäftigen sich als Wissenschaftler und Aktivist seit rund 15 Jahren mit Arbeiter*innenkämpfen. Ihre Arbeit scheint in der aktuellen Pandemie eine dramatische Wende zu nehmen – angesichts einer scheinbar beispiellosen Mobilisierung, die sich etwa daran ablesen lässt, dass Sie jüngst an einer Online-Konferenz mit 170 Gewerkschafter*innen weltweit teilgenommen haben. Was war Gegenstand der Online-Konferenz und welche Anliegen haben die Gewerkschafter*innen vorgebracht?

Die Online-Konferenz war organisiert von dem globalen Netzwerk Trade Unions for Energy Democracy (TUED). Das ist ein globales Netzwerk von Gewerkschafter*innen und Gewerkschaften für Klimagerechtigkeit und nachhaltige Transformation. Das Netzwerk wird nun genutzt für den globalen Austausch zu der Situation bezüglich der Covid-19-Pandemie. Beteiligt waren Gewerkschafter*innen aus sehr vielen Ländern. Es gab Berichte aus den USA, Südkorea, den Philippinen, Indien, Australien (andere Länder der Asien-Pazifik-Region eingeschlossen) und Südafrika. Es wurde gesprochen über Arbeiter*innenkämpfe und Angriffe auf Arbeitsrechte und die Gesundheit und Sicherheit von Arbeiter*innen. Dabei wurde von allen unterstrichen, dass die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, die vielen Toten, keineswegs eine „natürliche“ Folge der Pandemie sind, sondern die Folgen jahrzehntelanger Kürzungen und der neoliberalen Politiken, die öffentliche Gesundheitssysteme und Dienstleistungen privatisiert und verschlechtert haben, sowie Arbeiter*innenrechte abgebaut und Beschäftigungsverhältnisse prekarisiert haben.

Es waren dramatische Darstellungen zu hören, etwa von der Vorsitzenden der Krankenpfleger*innengewerkschaft von New York City, die vom Zusammenbruch des Gesundheitssystems berichtete oder aus Indien, wo hunderte von Millionen von Menschen keine Mittel haben, um eine lange Isolation zu überleben. Ich habe als Interessierter teilgenommen, nicht als Gewerkschafter (auch wenn ich seit meinem Masterabschluss gewerkschaftlich organisiert bin, das ist für mich eine Selbstverständlichkeit). Ich bin Wissenschaftler und Aktivist. Ich kann in dieser Situation meine Kenntnisse und Kontakte anbieten aus 15 Jahren globaler Beschäftigung mit Betriebsbesetzungen zur Übernahme unter Arbeiter*innenkontrolle.

Gibt es grenzübergreifend gemeinsame Anliegen – etwa im Angesicht des aktuell weltweit erstarkenden Autoritarismus?

Ja. Trotz aller dramatischen Berichte wurden von allen die Chancen hervorgehoben, die bestehen, die Konjunktur zu nutzen, um die internationale Solidarität zu stärken und Kämpfe um radikale Veränderungen zu führen. Das Bewusstsein darüber, dass nichts wieder so werden wird wie vorher, ist klar vorhanden. Die Covid-19-Pandemie ist ja nur ein Auslöser und Verstärker der offensichtlichen Krise. Die Wucht ist immens. Der globale Norden hat noch nie so viele staatliche Mittel zur Unterstützung der Wirtschaft aufgebracht und ich wage vorauszusagen, dass sobald die Mittel aufgebraucht sind, es dennoch zu weiteren Massenentlassungen und unzähligen Betriebsschließungen kommt. Die USA haben sich als failed state entpuppt, nicht nur bezüglich des Gesundheitssystems. In den ersten vier Wochen seit dem 18. März haben 22 Millionen Menschen ihren Job verloren – und viele damit auch ihre Krankenversicherung. Die Toten und die Arbeitslosen sind überwiegend Schwarze und Latinxs – in NYC sind 72% der Toten Schwarze und Latinxs. Das in einem der reichsten Länder der Welt.

Welche Konsequenzen für gemeinsames, transnational vernetztes Handeln zeichnen sich ab?

In den USA und vielen anderen Ländern kommt es zu spontanen Arbeitskämpfen und Streiks. Die Reaktion des Kapitals auf die Pandemie – und den „Unsicherheitsfaktor Mensch“ – ist eine beschleunigte Automatisierung. Das Verhältnis Arbeit/ Kapital befindet sich in einem Prozess der völligen Veränderung und das wird weitreichende Folgen haben. Auch für den Kapitalismus und seine Überlebensfähigkeit. Mehrwert kann nur aus lebendiger Arbeit geschöpft werden. Nichts wird sein wie vorher. Es gibt zwei mögliche Entwicklungen. Einerseits die absolut autoritäre und letztlich militärisch gewaltförmige Durchsetzung der Kapitalinteressen oder starke strukturelle Veränderungen, die Herausbildung von neuen politischen und ökonomischen Systemen. Wahrscheinlich ist, dass beides geschehen wird. Die Kämpfe jetzt und in den nächsten Jahren gehen darum in welche Richtung es geht. Da spielen Arbeiter*innen eine grundlegende Rolle. Vor etwas mehr als einem halben Jahr wurde eine große Studie veröffentlicht, die nach der Untersuchung von über 150 Jahren sozialer Kämpfe weltweit zu dem Schluss kam, dass die Beteiligung von Arbeiter*innen an den sozialen Kämpfen entscheidend für Demokratisierung ist. Ich finde das nicht sonderlich überraschend.

Aber es gibt doch sehr viele, die das in den vergangenen Jahrzehnten aus den Augen verloren haben. Einfach wird es nicht werden. Die Krise und der Angriff treffen die Gewerkschaften und die Bewegungen in einer schwierigen Phase. Es hat in den vergangenen zehn Jahren zwar massive Mobilisierungen gegeben, eine allgemein überzeugende Alternative mit großer Ausstrahlungskraft konnte aber nicht entwickelt werden. Die Linke – im weitesten Sinne, d.h. inklusive aller Bewegungen und Organisationen, die eine Überwindung der Ungleichheit und Ausbeutung sowie eine nachhaltige Perspektive für die Zukunft vertreten – ist in einem Prozess der Reorganisierung und Reformulierung begriffen.

Die Arbeiter*innen und Bürger*innen zu Patient*innen zu machen und damit der politischen Teilhabe zu berauben – das ist ein zentrales Merkmal aktueller Quarantäne-Politik. Welchen Einfluss hat diese Politik in Lateinamerika?

Das lässt sich nicht so einfach verallgemeinern. Die Ausbreitung, die Gegenmaßnahmen und allgemeine Situation sind sehr unterschiedlich in den verschiedenen Ländern. Die Diktatur in Bolivien nutzt die Pandemie, um ihre Position zu festigen, die militärische und polizeiliche Repression gegen Angehörige der ehemaligen Regierungspartei von Evo Morales, der MAS, und gegen linke Bewegungen, hat stark zugenommen, Bolivianer*innen aus dem Ausland werden mit Gewalt an der Einreise gehindert und die Präsidentschaftswahlen wurden verschoben. In Chile nutzt das Regime die Pandemie ebenfalls zur Niederschlagung des seit Monaten anhaltenden Aufstands und hat das Verfassungsreferendum abgesagt.

In El Salvador hat der erst kürzlich gewählte rechte Bukele, bevor es auch nur einen bekannten Covid-19-Fall gab, eine komplette Ausgangssperre angeordnet und – in Absprache mit den kriminellen Banden der Maras – eine Art Militärrecht verhängt. Die rechtsgewendete Regierung von Lenin Moreno in Ecuador, die sich vor wenigen Monaten durch einen Volksaufstand, der das Land lahmlegte, gezwungen sah diverse neoliberale Maßnahmen zurückzuziehen, hat ebenfalls im gesamten Land eine Ausgangssperre verhängt, auch in den Regionen, die von der Pandemie kaum betroffen sind – die aber führend in den Protesten waren. In Kolumbien ist es zu einer beängstigenden Zunahme paramilitärischer Morde an Aktivist*innen und Ex-Guerillas gekommen.

Autoritarismus gilt als typisches Merkmal einer Krise. Doch obwohl die jeweilige Krise immer nur die Gegenwart als Zeithorizont kennt, treten aktuelle Formen des Autoritarismus schon seit einigen Jahren deutlich zu Tage. Sie haben sich in Filmen und Publikationen mit dem Fall Venezuelas beschäftigt, darunter in der gemeinsam mit Oliver Ressler gedrehten Doku “5 Fabriken – Arbeiterkontrolle in Venezuela” (2006) und in dem Buch “Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune. Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuela” (2010). Venezuela galt in der Mainstream-Berichterstattung schon vor der Corona-Krise als “Krisenstaat” und “Versuchslabor des Autoritarismus”. Wie schätzen Sie diese Einordnung Venezuelas seit Hugo Chávez Tod ein?

Seit 2013 hat sich für Venezuela viel verändert. Die meisten Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika wurden abgewählt, weggeputscht oder verkehrten sich ins Gegenteil wie im Falle Ecuadors. Das alles mit tatkräftiger Unterstützung der USA und der EU. Die Erdölpreise sind ab 2016 völlig zusammengebrochen und die internationale Unterstützung für die rechtsextreme Opposition hochgefahren worden. Venezuela wurde mit Blockaden belegt, die wichtigsten Einnahmequellen, acht Raffinerien und ein riesiges Tankstellennetz wurde von der US-Regierung beschlagnahmt und der Opposition übergeben, zweistellige Milliardenbeträge von Venezuela wurden in Banken in den USA und der EU eingefroren, das Land wurde mit Wirtschafts- und Finanzblockaden belegt und ein selbsternannter „Präsident“ von den USA, den EU-Ländern und den rechtsradikalen Regierungen in Lateinamerika als einziger legitimer Präsident anerkannt.

Ein derartiges Vorgehen gegen ein Land hat es nie zuvor gegeben. In Venezuela selbst hat dies zu einer sehr schwierigen ökonomischen Situation geführt und politisch hat sich das negativ ausgewirkt. Die Linke wurde größtenteils aus der Regierung heraus gedrängt, Entscheidungen wurden stark zentralisiert, es herrscht Misstrauen gegenüber kritischen Meinungen, Ansätze von Arbeiter*innenkontrolle in Staatsbetrieben sind verschwunden. Vom Sozialismus ist nicht viel übriggeblieben. Die hohe Inflation und schlechte Versorgungslage führen zu massiver Spekulation, einer Parallelwirtschaft in der fast alles mit dem Dollarkurs berechnet wird. Gut leben kann eigentlich nur noch wer von Verwandten aus dem Ausland Devisen geschickt bekommt. Wer genug Geld hat, kann nach wie vor alles kaufen. Die Regierung versucht durch die massive Verteilung von subventionierten Lebensmitteln eine Mindestversorgung aufrechtzuerhalten. Die Situation ist nun seit gut fünf bis sechs Jahren sehr schwer. Die Maduro-Regierung ist nicht sehr beliebt. Allerdings ist es auch Unsinn zu behaupten sie halte sich nur durch Repression an der Macht.

Die meisten Venezolaner*innen halten alle anderen Optionen für noch viel schlimmer. Eine linke Alternative entwickelt sich nur von unten, von den Strukturen der territorialen Selbstregierung, den Consejos Comunales (Kommunale Räte), etwa 47.000 im gesamten Land, und der übergeordneten Ebene der Comunas, etwa 1.700. Die haben sich, dort wo sie gut funktionieren, als beste Strukturen erwiesen, den Krisenauswirkungen entgegenzuwirken. Waren sie unter Chávez noch zentral für die anvisierte Transformation zum Sozialismus, sind sie heute stark aus dem Regierungsdiskurs gedrängt worden. In einem Verhältnis von Konflikt und Kooperation mit der Regierung standen sie schon immer. Zugleich sehen sie aber auch nur unter der jetzigen Regierung die Möglichkeit ihre Arbeit fortzusetzen.

Hat die Quarantäne-Politik nun einen neuartigen ‘Corona-Autoritarismus’ in Venezuela befördert?

Venezuela hat als erstes Land alle Vorgaben der WHO befolgt, alle nicht „systemrelevante“ Arbeit eingestellt, die Grenzen dicht gemacht und den internationalen Flugverkehr weitgehend eingestellt. Gerade aufgrund des Krisen- und Blockadebedingt stark geschwächten Gesundheitssystems blieb Venezuela wenig anderes übrig, als möglichst stark auf Prävention zu setzen. Tatsächlich hat Venezuela die niedrigste Infektionsrate von ganz Lateineramerika und auch die wenigsten Toten zu beklagen. Am 15. April waren es 204 Fälle, davon 111 genesen, und neun Tote. Die Maßnahmen werden von der Bevölkerung – bis auf vereinzelte Stimmen aus der Opposition – auch nicht als ‘Corona-Autoritarismus’ empfunden. Ganz im Gegenteil.

Meine Bekannten berichten mir davon, wie selbst eingefleischte Oppositionelle beim Schlange stehen für den Einkauf einerseits über die Regierung lamentieren, aber dann selbst ganz froh sind, wie die Regierung mit der Situation umgeht, und dass sie in Venezuela sind und nicht woanders. Venezuela hat die meisten Tests pro Kopf in Lateinamerika durchgeführt und immer noch mehr Testgeräte für Labors als z.B. Kolumbien. Deswegen hat es Kolumbien angeboten zwei Testgeräte zu schenken – Kolumbien hat nur eine einzige Labortestmaschine im gesamten Land! Zudem fliegen venezolanische Maschinen die kubanischen Ärzte in der Karibik herum und Venezuela hat Tausende Test-Kits an verschiedene Karibikstaaten gespendet und hingeflogen.

Das ändert nichts an der prekären Lage, in der sich das venezolanische Gesundheitssystem befindet. Doch daran allein lässt sich die gesamte Krise nicht bemessen. Vielleicht lässt sich die Situation mit Griechenland vergleichen. Bekanntlich hat Griechenland – Dank der von der Troika aufgezwungenen Austerität – ein völlig marodes Gesundheitssystem, aber viel weniger Infizierte und Tote als fast alle anderen europäischen Staaten. In Venezuela lässt sich Letzteres nicht nur auf die ergriffenen Sicherheitsvorkehrungen zurückführen, sondern auch auf die Organisierung der Bevölkerung sowie auf das Bewusstsein der Leute. Ein venezolanischer Freund, Musiker und linkradikaler HipHop- und Reggaekulturaktivist schrieb mir vor wenigen Tagen: „Wir leben seit sechs Jahren im Ausnahmezustand. Da haben wir schon gelernt mit einer solchen Situation besser umzugehen.“

In Venezuela gründen die Maßnahmen zur Vorsorge und zur Bekämpfung der Pandemie auf der breiten Selbstorganisierung der Bevölkerung, mit denen die Regierung zusammenarbeitet. Dazu gehören beispielsweise die lokalen Strukturen der Selbstregierung, die Kommunalen Räte (Consejos Comunales). Diese informiert die Haushalte (ein Buch mit Berichten der Bevölkerung Wuhans zum Umgang mit der Quarantäne und dem Virus wurde an alle 47.000 Kommunale Räte verteilt), unterstützt Bedürftige und koordiniert sich mit den Strukturen der Gesundheitsversorgung. Die bereits zuvor existierende Versorgung mit Paketen mit Grundnahrungsmitteln (CLAP) über lokale Komitees ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des Krisenmanagements.

Medienberichten zur Folge sehen sich viele Menschen aus Venezuela gegenwärtig gezwungen das Nachbarland Kolumbien wieder zu verlassen, weil sie aus ihren Unterkünften und Wohnungen vertrieben werden. Sie haben kein Geld mehr, um ihre Miete zu zahlen, denn ihre Niedriglohnjobs sind zusammen mit dem informellen Wirtschaftssektor verschwunden. All das sei “ein Opfer der präventiven Isolation”, die Kolumbiens Präsident Ivan Duque verordnet hat, wie etwa die Deutsche Welle meldet.

Es kommen ja nicht nur Tausende aus Kolumbien zurück, auch aus anderen Ländern Lateinamerikas, vor allem Ecuador, aber auch aus Chile, gibt es Rückkehrer. Die venezolanische Regierung unterstützt Rückkehrwillige mit Sonderflügen. Selbst aus den USA haben sich Venezolaner*innen mit Sonderflügen Venezuelas zurückfliegen lassen, weil sie sich dort trotz allem sicherer fühlen als in den USA (aufgrund der US-Blockade mussten sie erst nach Mexiko fliegen und von dort aus nach Venezuela).

Wenn nun die ‘System-Relevanz’ des Sektors offen zu Tage tritt, in dem Grundversorgungs- und soziale Reproduktionsarbeit geleistet wird, dann wird auch der ‘System-Fehler’ offenkundig: In vielen Ländern ist dieser Sektor schon vor der ‘Corona-Krise’ unterfinanziert und strukturell schwach gewesen. In New York kämpfen Arbeiter*innen gegen das Gesundheitssystem im ‘Krieg gegen Corona’ – also einen doppelter Kampf. Finden solche Kämpfe in Lateinamerika ebenfalls statt?

Zunächst einmal möchte ich davor warnen Begrifflichkeiten wie „Krieg gegen Corona“ und ähnliche zu verwenden. Das leistet dem Autoritarismus Vorschub. Ein Krieg wird gegen einen externen Feind geführt, er rechtfertigt den Ausnahmezustand, beruht auf dem ‘Freund oder Feind’-Schema und fördert ein Denken in falschen Blockbildungen. Doch der einzige „Krieg“ in dem wir uns hier befinden ist ein Klassenkrieg und er wird wesentlich von oben geführt.

In Venezuela gibt es Proteste in verschiedenen Sektoren, die richten sich in der Regel nicht gegen die Regierung, um sie zu stürzen, sondern fordern bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne usw. Die erfolgreichsten Kämpfe sind aber meiner Ansicht nach seit Jahren mit den Comunas verknüpft: Die organisierte Bevölkerung besetzt verlassene und ineffiziente staatliche Betriebe und Ländereien, in manchen Fällen auch private, um sie in Eigenregie und kollektiver Verwaltung der Comunas zu übernehmen.

Vergleichbare Proteste und Kämpfe finden auch in anderen Ländern Lateinamerikas statt. In den meisten Ländern Lateinamerikas ist ein bedeutender Teil, manchmal die Mehrheit, der Arbeitenden im informellen Sektor tätig. Für sie ist ihre unmittelbare Lebensgrundlage weggebrochen. Sie wissen nicht, ob sie den Covid-19-Tod oder den Tod durch Hunger mehr fürchten sollen. In Kolumbien kommt es zu Straßenprotesten und Plünderungen in verschiedenen Regionen. Die Demonstrationen sind häufig nur klein, werden aber von Tausenden von Menschen unterstützt, die von ihren Balkonen und Fenstern auf Töpfe schlagen, Hungernde versuchen Lastwagen mit Lebensmitteln zu stoppen und zu plündern.

Die Cacerolazos gibt es auch in Brasilien und Chile. In Bolivien kommt es ebenfalls zu Demonstrationen. Der Gesundheitssektor und andere „systemrelevante“ Beschäftigungsverhältnisse stehen unter großem Druck. Radikale Forderungen kommen auf. Diese hat es ja auch vorher gegeben. Sie werden sich sicher nach Abflauen der Pandemie in enormen Protestwellen äußern. Aufstände und Proteste, sowie eine „Rückkehr der Linken“, haben Lateinamerika schon in den vergangenen 12 Monaten vor Covid-19 maßgeblich geprägt. Aber jetzt spüren alle eine enorme Verantwortung die Versorgung für die Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Eine direkte Verwandte von mir arbeitet in einem Krankenhaus in Buenos Aires 24-Stunden-Schichten. Dabei gehört Argentinien noch zu den Ländern mit dem besseren Umgang mit der Krise.

Wie schätzten Sie den Appell an die Arbeiter*innen ein, sich zu opfern? Können Arbeiter*innen in einem ‘reichen nordamerikanischen Land’ wie den USA anders entgegentreten als in einem ‘armen südamerikanischen Land’, wo die Bevölkerung auf die ohnehin schon prekäre Grundversorgung noch existentieller angewiesen ist?

Die USA sind in vielerlei Hinsicht ein „Dritte-Welt-Land“. Das hat vor wenigen Jahren selbst ein Sonderberichterstatter der UNO in einem umfassenden Rapport so festgestellt. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist schlechter als in vielen Schwellenländern. Bereits vor der Pandemie hatten 30-40% der US-Bevölkerung keine Krankenversicherung. Nachdem in vier Wochen 22 Millionen ihre Arbeit verloren haben, ist der Anteil noch einmal massiv angestiegen. Und selbst viele Menschen mit Krankenversicherung können sich die hohe Selbstbeteiligung an Behandlungen und Medikamenten nicht leisten. Die USA hat auch den höchsten Anteil an Gefängnisinsassen der Welt. Fast zwei Prozent der US-Bevölkerung sind inhaftiert. In den Gefängnissen ist die Zahl der Infizierten mit Covid-19 erschreckend hoch und eine ausreichende medizinische Behandlung nicht gegeben. Die öffentlichen Dienstleistungen sind defizitär, viele Wohnsituationen hygienisch untragbar und die Zahl der Obdachlosen sehr hoch. Zugleich sind die Arbeitsrechte schlechter als in allen anderen 35 OECD-Staaten und sogar schlechter als in einigen Ländern des globalen Südens.

In den vergangenen Jahren hat es aber eine starke Zunahme an gewerkschaftlicher Organisierung und Arbeitskämpfen gegeben. Auch jetzt gibt es zahlreiche Arbeitskämpfe in den USA. Arbeiter*innen in verschiedenen Industriebetrieben haben für die Umstellung der Produktion auf medizinische Geräte plädiert und gestreikt. Es kam zu Protesten und Arbeitsniederlegungen bei Amazon und anderen Versandhändlern. Das Krankenpflegepersonal in den USA ist vergleichsweise gut gewerkschaftlich organisiert und auch ziemlich links. Mehr finanzielle Mittel, eine allgemeine Krankenversicherung für alle, mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen und Ausbau der gesundheitlichen Versorgung sind da schon Allgemeinplätze. In Folge der Pandemie werden immer mehr Stimmen laut, die eine Sozialisierung der Gesundheitsversorgung unter Kontrolle der Arbeitenden fordern.

Da stehen noch große Kämpfe aus. Ebenso in der staatlichen Post, US Postal Services (USPS), denn die Regierung hat bereits angekündigt diese nicht mit finanzieller Unterstützung zu retten. In den vergangenen Jahren haben auch Lehrer*innen in vielen US-Bundesstaaten bedeutende Arbeitskämpfe geführt. Ihre Arbeitsbedingungen und Bezahlung sind miserabel. Viele Lehrer*innen können ihr Leben nur durch einen weiteren Nebenjob finanzieren. Kurz vor der Pandemie habe ich einen Wagen bei einem Beförderungsdienst bestellt, die Fahrerin war Grundschullehrerin und fuhr zusätzlich mehrere Stunden täglich mit ihrem Privatauto, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Wie können in einer solchen Krise Arbeiter*innenkämpfe aussehen, die nicht als ‘eigennützig’ gebrandmarkt werden und Unterstützung von größeren Teilen der Bevölkerung bekommen?

Im Grunde geht es darum Arbeitskämpfe zu entwickeln, die sich dem kapitalistischen „weiter so“ widersetzen, den Schutz der Arbeitenden – die ja auch Teil der Bevölkerung sind und Familien und Freunde haben – sicherzustellen und damit auch die Versorgung und Sicherheit der Gesamtbevölkerung zu verbessern und besonders der am stärksten von der Pandemie und ihren Folgen Betroffenen. Die Möglichkeiten sind vielfältig. In den USA haben Arbeiter*innen und Gewerkschaften in der Automobil- und Flugzeugproduktion die Umstellung auf die Herstellung medizinischer Geräte gefordert; in Frankreich haben die Angestellten einer McDonalds-Filiale beschlossen, diese zu besetzen und kostenlos Lebensmittel an Bedürftige zu Verteilen. Während der Pandemie geht es vorwiegend darum, die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitenden zu garantieren und damit auch der Gesamtbevölkerung einen Dienst zu erweisen.

Es ist eine schwierige Situation. In dieser Phase ließe sich die Herausforderung so zusammenfassen: „wie diene ich am besten denen, die es brauchen, nicht meinem Chef oder meinem Unternehmen?“ Für die Zeit danach, wie es diese Krise deutlich zeigt, wird die zentrale Frage sein „Kapitalismus oder Leben?“. Dabei sollte allen klar sein, dass sich diese Frage im Kapitalismus immer stellt. Wir nehmen sie sonst nur nicht mit dieser Deutlichkeit und Wucht wahr. Deutlich zu sehen ist das beim Klimawandel: Mit ihm gehen wir um, wie der Hummer im sich allmählich erhitzenden Topf; wir wissen, dass für unsere Mobiltelefone, Benzin und billigen Bananen Menschen im globalen Süden sterben und es bleibt doch fern; die Klassenunterschiede in der Lebenserwartung sind bekannt usw.

Sie sind Gründungsmitglied und Redakteur des 2011 gegründeten Internetarchivs workerscontrol.net, das wissenschaftliche und journalistische Texte zu den Themen Kollektive Selbstverwaltung und Arbeiter*innenselbstverwaltung sammelt. Wie ließen sich die Beobachtungen der aktuellen Entwicklungen im größeren Bild dieses Diskurses einordnen?

Solo el pueblo salva al pueblo, heißt es in den Bewegungen in Venezuela. Das ist schwer zu übersetzen, denn „pueblo“ ist nicht „Volk“, sondern hat eine klare Klassendimension, bedeutet aber in etwa „nur die von Unten retten die von Unten.“ Die Frage der kollektiven demokratischen Kontrolle und Selbstverwaltung der Produktionsmittel (das schließt Dienstleistungen mit ein) ist aktueller denn je. Nur die Kontrolle der Produktion durch die Arbeitenden und die organisierte Bevölkerung wird eine Wirtschaft im Dienst der Gesellschaft garantieren können, anstatt einer Gesellschaft im Dienst der Wirtschaft. Es geht um die Aufhebung der künstlichen Trennung von Politik, Wirtschaft und Sozialem. Darin liegt nicht nur die Emanzipation der Menschheit, sondern mittlerweile auch ihr Überleben. Die Forderungen nach direkter Kontrolle der Produktionsmittel durch die Arbeitenden kommt jetzt wieder verstärkt auf. Ich hoffe und erwarte, dass diese Kämpfe zunehmen. Das geht viel weiter als bloße „Verstaatlichung“, von der jetzt manchmal die Rede ist. Der Staat hat sich in der Vergangenheit nicht als zuverlässiger Vertreter der Interessen der Bevölkerungsmehrheiten erwiesen. Es geht um Sozialisierung.

Ich bezweifle die Gesundheitssysteme weltweit wären in ihrem heutigen defizitären Zustand, wenn es die Beschäftigten und Bevölkerung gewesen wären, die darüber entschieden hätten. Ich bezweifle, dass die meisten Arbeiter*innen bei Rheinmetall unbedingt Waffen für Kriege produzieren wollen und ich wette sie würden in Zusammenarbeit mit organisierter Bevölkerung schnell viele andere Notwendigkeiten feststellen. Eine Transformation der Produktion, eine Übergabe bankrotter Firmen an die Arbeiter*innen und die Einführung von demokratischen Entscheidungsstrukturen von Beschäftigten und Betroffenen in Dienstleistungen jeder Art, werden nicht von Regierungen eingeführt werden. Die Arbeiter*innen der seit vielen Jahren besetzen Fabrik RiMaflow in Mailand formulierten das so: „Wir haben diskutiert wie Verbesserungen zu Gunsten der arbeitenden Bevölkerung stattfinden und sind zu dem Schluss gekommen: Wenn wir wollen, dass uns die Betriebe übergeben werden, dann müssen wir eben so viele Betriebe wie nur möglich besetzen, dann wird der Staat schon kommen und das mit Gesetzen regulieren wollen“.

Anm.d.Red.: Dario Azzellini wird im Mai ein dreiteiliges Online-Seminar (Webinar) für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu ‘Betriebsbesetzungen und Arbeiterkontrolle’ organisieren. Termine: 13.,20.,27. Mai. Das Webinar soll praktische Erfahrungen vermitteln, um Ansätze der Arbeiter*innenkontrolle und Betriebsübernahmen auch in Deutschland anzubringen. Hier zur Anmeldung. Sein Online-Vortrag Jetzt übernehmen wir! Betriebsbesetzungen und selbstverwaltete Produktion findet am 5. Mai 2020, 18:00 – 20:00 Uhr, statt. Die Fragen stellte die Berliner Gazette Redaktion. Das Foto oben stammt von Mark Spearman und steht unter einer Creative Commons Lizenz (CC BY 2.0).

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