Lehrerbashing ist zum Volkssport geworden, die Unis stehen sowieso vor dem Abgrund und die überqualifizierte Massenelite muss für Dumping-Löhne arbeiten. Solch düstere Szenarien finden sich in der Bildungsdebatte häufig. Der Philosoph Jens Badura regt an, sich endlich mit der Tiefengrammatik dieser Debatte zu beschäftigen – anstatt zu lamentieren.
Kontakt mit Philosophie, die trotz diverser verführerischer Alternativfächer zum roten Faden meiner Bildungsorientierung werden sollte, hatte ich erstmals in der Schule, als das Fach ab der Mittelstufe zur Wahl stand. Damals gerade dieses Fach (und nicht zum Beispiel “Wirtschaftskunde“) zu wählen, war allerdings wohl keiner meinem Wesen entspringenden Weisheisheitsliebe geschuldet, sondern eher eine Mischung aus ganz profanen Motivlagen: Besser- und Bescheidwissenmüssen war die dominante familiäre Habitusform, der man sich effizient zu stellen hatte.
Spezialisierung zum Generalisten
Das Label „Philosophie“ umwehte ein zur Selbstbesonderung nutzbares auratisches Flair. Und schließlich, voller frankophiler Klischeebilder, ließ sich das Lebensformmodell alterstypischer Intellektuellenvorbilder ganz praktisch orientierend nachahmen. Abgesehen davon gab es aber auch praktische Gründe: mir fiel das großzügige Operieren mit explorativen Verknüpfungen zwischen scheinbar heterogenen Feldern immer schon leichter als das methodisch präzise, systematische Erarbeiten von isolierten Fragestellungen. Das alles führte dann zu einem fortwährenden Eloquenztraining und einer Breitbandbildung mit dem Ziel, mittelfristig überall irgendwie mitreden zu können.
Dass die hakenschlagende Tendenz, die meine weiteren Ausbildungsphasen wie auch die diversen Jobs in diversen Ländern im Anschluss nahm, professionsbiographisch irgendwann durchaus Probleme machen könnte, weil man eben für nichts Spezialist ist, war mir damals nicht mal das Bedenken wert. Immerhin: einmal bekam ich eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch bei einer Beratungsfirma aufgrund des Anschreiben-Satzes “Ich habe mich zum Generalisten spezialisiert”.
Mittlerweile allerdings habe ich so meine Zweifel, ob das zur Lebensform deklarierte andauernde Surfen in den Möglichkeiten des Denkens und Tuns sinnvoll war – führt es doch zu einer Uneingelassenheit, die die pragmatischen Aspekte der Daseinserhaltung mit zunehmendem Alter und familiären Verbindlichkeiten nicht eben mühelos händelbar sein lässt.
Macht der Lehrer und Lehrerbashing
Meine eigene Schulzeit habe ich – mit Ausnahme der ersten beiden Volksschuljahre – als nicht sonderlich beglückend in Erinnerung. Beeindruckt hat mich aber schon früher (und das wiederholt sich derzeit mit Blick auf den Schulalltag meiner Kinder und im Rahmen meiner eigenen Lehre), wieviel ein (un)engagierte( e) Lehrer(in) bewirken kann im Leben von jungen Menschen. Wie viele Weichenstellungen davon abhängen, ob hier Einsatz, Routine, Zynismus, Psychose und/oder weiteres ins Werk gelangen – und wie viel Kontingenz hier im Spiel ist.
Vielleicht liegt in diesen Erfahrungen auch irgendein Keimteil meines theoretischen Interesses am Kontingenzthema, das mich seit langem auf den unterschiedlichsten Daseinsführungsebenen antreibt. Sicher gibt es Dispositionen, Vorlieben wie auch Aversionen, sozialen Druck beziehungsweise soziokontextuelle Muster usw., mit denen man im Leben und als Schüler in der Schule antritt. Aber die Möglichkeiten und Mächte von Lehrern, für etwas (nicht) zu stehen, für etwas (nicht) zu begeistern und Relevanzen (nicht) in den Blick zu bringen und dadurch solche präfigurativen Faktor zu relativieren ist schon enorm.
Und damit das Potential, mögliche Welten (nicht) in die Leben zu säen, Andersmöglichkeiten (nicht) erfahrbar zu machen. Und die positive Variante dieser Prägung lässt sich kaum, wie es tendenziell gern versucht wird, über gefinkelte Curricula oder pädagogischer all-inclusive-Konzepte herstellen. Sondern bedarf entsprechender Persönlichkeiten, die für ihre jeweilige Wirklichkeit stehen und zugleich vermitteln können, dass dies zwar nur eine verwirklichte Möglichkeit neben anderen ist, sie aber davon überzeugt sind, dass es gute Gründe dafür gibt, für ebendiese zu stehen. Aber wer, der so denkt, tut sich das denn freiwillig an – wenn der Anreiz ein selbstverständlich gewordenes, selbstzufriedenes Lehrerbashing ist, das fast schon auf dem kollektivierten Lamentolevel desjenigen rangiert, welches mit Blick auf die „die Bahn“ fest installiert wurde?
Höchstqualifiziertes Humankapital
Was mich heute mit Blick auf die Bildungsdebatte am meisten erzürnt – gerade auch bezüglich der Bologna-Debatte, deren Argumente mittlerweile ja über jeden Campus getrieben worden sind – ist die gerne praktizierte Marginalisierung einer strukturellen Problematik in zeitgenössischen massendemokratischer Wohlstandsgesellschaften. Hier wird nämlich die mittlerweile normalisierte Konkurrenzorientierung der kollektiven Daseinsführungsgrammatik („up or out“ – „grow or go“) sehr effizient mit der ostentativen Schaffung von hochqualifizierender Bildungpflicht für alle biographietechnisch in das frühkindliche Alter implantiert. Resultat: Massenbildung – und damit Bildung von Humankapitalmasse, in der die Konkurrenzorientierung immer stärker wird, weil es eben für alles immer schon (zu) viele hochqualifizierte Interessenten gibt.
Schlussendlich ist dieses Simulakrum der sozialen Inklusion aller durch Bildung eine Maschine zur Produktion von Exklusionserfahrungen, die das Konkurrenzmodell und die Selbstauferlegung von Motivations- bzw. Leistungsdisziplin noch tiefer ins Bewusstsein einschreiben, als es ohnehin schon eingeschrieben ist durch den fortwährenden Drohverweis auf den bevorstehenden sozialen Abstieg bzw. angetrieben von einer Versprechung auf Zugang zur (noch) besseren Gesellschaft.
Abgesehen davon, dass in dieser Logik eine “schlechte” Gesellschaft als Kontrastfolie zwingend benötigt und daher konzeptionell konserviert wird, ist das Versprechen selbst falsch, das mit der großen Aufstiegsheilerzählung gegeben wird: weder kann den Heerscharen von Grauiertenkollegs- und Kunsthochschulabsolventen der Job in der Wissenschaft oder dem Kunstbetrieb angeboten werden, für den sie sich aufwendig qualifizieren (Exzellenz! Elite!), noch sind in anderen Berufsfeldern genug Kapazitäten für das viele strategisch hochqualifizierte Humankapital vorhanden. Zwar gibt es gerade wieder mal Jobs – aber wer aus der jüngeren Generation arbeitet denn wirklich auf dem Niveau seiner Qualifikation?
Billiglohn-Bohème – auch im Wissenschaftsbetrieb
Daher rührt die arbeitnehmerseitige Eigenwert-Unterbietungslogik, also genau das, was den konkurrenzbewußten Arbeitgeber von heute befriedigt: immer wird es für eine zu erbringende Leistung einen qualifizierten Akteur finden, der in Ermangelung von Alternativen noch weniger verlangt als ein anderer Leistungsbieter. Da, so zumindest meine persönliche Erfahrung, mit dem in terms of cash realisierbaren Marktwert auch früher oder später der Selbstwert sinkt, ist diese Dynamik wunderbar geeignet, um via Demoralisierung eine generalisierte Devotheit zu ausbilden. Die Generation Praktikum ist nur ein sichtbarer Effekt dieser Entwicklung.
Das ist natürlich keineswegs auf den Bereich der klassischen privatwirtschaftlichen Sektoren beschränkt, wo sich traditionell immerhin Gewerkschaften für Mindestlöhne etc. starkmachen. Gerade im Wissenschafts- und Kulturbetrieb, diesen scheinbaren Refugien alternativ-wesentlichkeitsorientierter Lebensformen, finden sich erschreckende Beispiele dafür, was eine auf falschen Versprechungen und Klischeebildern der „creative class“ aufruhende Billiglohn-Bohème an realen, daseinserhaltenden “Chancen” vorfindet.
Ganz nebenbei werden in diesen Bereichen auch noch Kooperation und Austausch aufgrund imaginierter strategischer Nachteile zurückgeschraubt; man spricht nur über publizierte Ergebnisse, man tauscht sich im Kunstproduktionsprozess nicht mehr aus. Denn es kann ja immer nur einen geben…
Widerstand im Hamsterrad
Das wabernde Mantra “Bildung und Qualifizierung führt zum besseren Leben” wird mit der aktuell etablierten institutionellen Qualifikationslogik des Bildungswesens („konkurrenzfähig werden, also in Standards, nicht aber in Individualitäten denken“) und dessen Planbarkeitsmetaphysik kurzgeschlossen – und hier liegt das Problem. Da wird insinuiert, dass man strategisches Biographiemanagement durch den Faktor Bildung individuell wie kollektiv in den Griff bekommen und eine Gesellschaft der Tüchtigen formen könnte – so wie man durch Rauchverbot und Sportpflicht ja auch schon an jener der Gesunden und Schönen bastelt.
Dabei ist der lebenspraktische Wert des Ausbildungserfolgs lebenspraktisch allzu oft ein Einbildungseffekt. Ich würde mir wünschen, dass die Bildungsdebatte etwas explorativer und tiefengrammatischer würde und sich endlich freimacht von solchen kontrollgesellschaftlich-technischen Konzeptualisierungen der Lebensgestaltung. Es gälte, darauf hinzuwirken, Begriffe und Begreifen zu etablieren und wach zu halten, die möglichkeitssinnlich die Frage immer neu stellbar machen, worum es uns eigentlich geht im Leben, wofür wir uns eigentlich mit was bilden wollen – und wofür nicht.
Statt ständig wie hypnotisiert mit irgendwelchen nach italienischen Städten benannten Studien oder Prozesse das Blickfeld zu vernebeln. Damit zusammen hängt freilich die Verteidigung und Schaffung geeigneter Suchräume, in denen dieses Fragen ohne die Legitimationszwänge eines efficency-based business-as-usual möglich ist. Eine solche Art von aktivem und kreativem Widerstand gegenüber der hamsterrädlichen Gegenwart zu bilden wäre ein zeitgemäßer Bildungsauftrag.
Hallo, ein sehr anspruchsvoller und interessanter Text. Ich frage mich, bezogen auf den letzten Absatz, wie so ein Widerstand in der Praxis dann tatsächlich aussehen würde? Ihr Yossi
Vielen Dank für den anregenden Beitrag! Da weiß man auch mal wieder, warum es Philosophen gibt :) Dieses Prinzip, stets einen Schritt zurückzugehen, inne zu halten, tiefer zu bohren, und immer tiefer, ich meine, wir brauchen das, wenn das alles heute so schnell und oberflächlich verhandelt wird, dass man ja kaum davon sprechen kann, dass etwas “verhandelt” wird. Na ja, danke jedenfalls!
wie aber geht es von der Tiefengrammatik der Bildungskrise wieder zurück an die Oberflächen der Kommunikation und Pragmatik der Maßnahmen?
gut beobachtet! aber warum so formuliert, das man sich erst durch eine dicke schicht von fremdwörtern quälen muss, wozu einer, der beschlossen hat, sich nicht dem massenbildungswahn anzuschliessen, sicher niemals die lust hätte. leider bleibt ihm dann dieser text verwehrt.
Bin sehr beeindruckt. Aber was soll man machen. Die eigenen Kinder können sowieso schon besser an der Tastatur als ich. Und aucb sonst können sie alles viel besser, viel biegsamer, je “höher” gebildet, desto mehr übrigens. Symbole und Haltungen legt sich da wer an und ab. Es gibt kein Halten mehr.
Tiefengrammatik, dafür ist es bei mir wenigstens zu spät.
Und im Detail: “Worum es uns geht” ist sowas von verschieden von dem, worum es mir und worum es dem anderen geht. Vielleicht gibt es da noch Schnittstellen zwischen Jens und mir. Aber was liegt an uns? Sind es nicht auch wir gewesen und unsere Onkels und Tanten, die den Zustand wider besseres Wissen herbeigeführt haben.
Auch hier, wie im Beitrag von Krystian zuvor, muss man sich fragen, warum lassen wir uns immer wieder immer mehr entmündigen und verkaufen es an uns selbst als Zugewinn von Freiheit und von Toleranz?
Das Geschrei um die Ursachen langweilt auf die Dauer… gab es im Text vielleicht Lösungsansätze, die ich als solche nicht verstanden habe?
Ein Problem, das zur aktuellen Situation wesentlich beiträgt, ist m.E. die Fixierung auf konstruktive Lösungen und das vergleichsweise geringe Engagement im Bereich der NICHT durch Lösungsermittlung finalisierten Problematisierungen. Vielleicht lässt sich dies als Unterschied zwischen “konstruktiver” und “dekonstruktiver” Kritik am ehesten fassen: nur wer “konstruktiv” kritisiert, so scheint ausgemacht zu sein, leistet einen Beitrag….ist dieses Prinzip aber nicht ganz wesentlich hindernd für substantielle Klärungsprozesse? Und könnte “Lösung” vor diesem Hintergrund nicht auch heißen, dass etwas in einer selbstreferentiellen Rationalität festgefahrenes gelöst und damit wieder für eine explorative Betrachtung beweglich gemacht wird…ich habe und will kein Patentrezept an(zu)bieten, mit dem man global sanieren kann (denn anhand welcher Maßstäbe könnte man das in einer Kontingenzkultur tun?), glaube aber, dass Widerstand im oben angedeuteten Sinne sehr wohl heißen kann, ein Denken in Patentrezepten und der Nötigung zum “konstruktiv” sein zu verweigern bzw. zu unterlaufen und genau dadurch jene Aufmerksamkeit zu provozieren, die Nach- und Weiterdenken katalysiert und Andersmöglichkeiten in den Horizont des Verwirklichbaren rückt. Und ich denke, dass das Aufzeigen von entsprechenden Widersprüchen durchaus eine pragmatische Maßnahme sein kann, die nicht nur in Elfenbeintürmen oder Tiefengrammatiken taugt.
Unterlaufen finde ich gut. Möglichkeiten als Kultur finde ich auch gut. Widersprüche finden, finde ich auch gut. Zum anderen, es setzt sich durch, was sich durchsetzt. Der Horizont des Verwirklichbaren ist mir allerdings ein viel zu geringes und dafür viel zu weit entferntes Ziel. Wenn es das Einzige bliebe? Okay.
Ich bin sehr erfreut nicht nur den Artikel, sondern auch die Kommentar zu lesen.
Genau das notorische “Konstruktiv-Sein-Müssen” ist der Grund für vieles was wir hinterher bereuen.
Denn diese Übermotiviert-Konstruktive Haltung die bestenfalls dem Gewissen gut tut, übereilt leider viel zu oft den kritischen Reflexionsprozess, der nach dem Feststellen eines Missstandes eintreten müsste. Wir merken, dass etwas “irgendwie nicht stimmt” und verfallen dann hilflos einem Stellschrauben-Aktionismus, der hier und da versucht etwas zu drehen, die festgefahrenen Selbstverständlichkeiten aber außer Acht lässt.
Verschärfend kommt die Tendenz hinzu liebend gerne an anderen Schrauben zu drehen, und der Blick auf sich selbst als eine nicht endgültig von außen determinierte Variable vergessen wird. Die Schuld wird in der Nahrungskette weitergegeben und kommt am Ende beim “System” an. Dies musste ich oft genug in Bezug auf Schule, Curricula und Diskussionen über Schulsysteme feststellen.
Es sollte mehr Leute geben die bestehende unreflektierte Kontinuitäten aufbrechen und damit ein Feld freilegen, dass wiederum andere explorativ begehen können. Ersteres erscheint nur dann unkonstruktiv, wenn sich niemand findet, der den Mut hat das freigelegte Feld zu beschreiten. Gerade auf dem Bildungssektor ist das aber bitter nötig.