Interessen zu haben, die man mit anderen teilt, ist keine notwendige Bedingung fuer Freundschaften. Vielmehr ist es ein kaum definitionssprachlich fassbares Vorhandensein jener wunderhaften Anziehungskraft, die vertrauensbildende Konnexe etabliert. Und hilfreich dabei scheint mir gerade zu sein, dass man nicht die gleichen Interessen sondern Interesse am Je-Anderen hat. Zweck- oder Interessensgemeinschaften sind eher keine Formel, mittels derer ich das Signifikat von Freundschaften dechiffrieren wollen wuerde – deformiert sie das Phaenomen doch in jene heute so beliebte kalkulatorische Dimension hinein, der sich Freundschaften so herrlich entziehen koennen.
Wenn ich dennoch versuche, das Gemeinsame vieler meiner Freundschaften auf den Begriff zu bringen – insbesondere jener, die ihren Ausgangspunkt im professionellen Milieu derer hatten, die das Abstrakte ausschreiten -, dann waere es so etwas wie die geteilte Wertschaetzung eines spezifisch experimentellen Weltzugangs. Dieser aeussert sich darin, dass gemeinte Leute sich im Denken gehen lassen. Und zwar ohne vorauseilend auf die versichernde Evidenz vorgeblicher Anstandsgrenzen bezogen zu sein. Das heisst nun nicht, dass ich ruecksichtlose Menschen mag, sondern dass ich mich jenen nahe und tendenziell verbunden fuehle, die die Gedanken frei sein lassen, die Andersmoeglichkeit jedes Ausdenkens durcharbeiten und gerade deshalb darauf achten, dass auf der Ebene des Pragmatischen die Vielmoeglichkeit des Handelns angemessene, das heisst hinreichend komplex verantwortete Beachtung findet.
Ein Beispiel: Mit dieserart Freunden war ich einig, dass die breitangelegte emphatische Entruestung anlaesslich des Stockhausenschen 9/11-Befunds [groesstes Kunstwerk] daneben lag, weil sie experimentelles Denken aus vorgeblicher moralischer Pflicht zur Betroffenheit fuer verboten hielt. Natuerlich war man betroffen. Aber doch nicht auf eine Weise, die das mannigfaltige Betrachten des Ereignisses verbot oder es als Inspirationsquelle fuer das Denken von Kultur erschloss! Diese Sympathie ist fuer das Experimentelle allerdings auch nicht mehr als eine beguenstigende Bedingung fuer das Entstehen meiner Freundschaften, weder ist sie im strengen Sinne notwendig noch hinreichend.
Ich glaube nicht, dass es eine Logik der Schicksalsgemeinschaft gibt, in deren Rahmen freundschaftliche Kohaesion aus einem Problemloesungsbedarf oder einer analogen Situation heraus entwickelt wird. Auch wenn das als Kollateraleffekt von Begegnungsrastern des Typs >Du auch, also wir beide [zusammen]!?< schon mal der Fall sein mag, wittere ich hinter dieser Rekonstruktion der Grammatik des Befreundens eine Strategie des corporate-culture-managements, mit dessen Hilfe in Unternehmen Menschen zu Teams verschmolzen werden. Ein gemeinsam zu loesendes Problem soll on-the-job, also en passant eine Gemeinschaft erzeugen, gezielt provozierte gemeinsame Erlebnisse sollen gemeinschaftskonstitutive Ereignisse werden. So kann man denn glauben, auch das Ereignis der moegenden Mitmenschlichkeit managen zu koennen. Vielleicht ist das ja unironisch romantisch, aber die Qualifikation einer Beziehung als Freundschaft greift gerade auf dasjenige aus, was man als Unbedingtheit in der Wertschaetzung des Anderen und als Unverfuegbarkeit entscheidender Dimensionen personaler Interaktionen bezeichnen kann.
Einmal abgesehen von dem Spezialfall Freundschaft denke ich, dass die Wir-Welten, in denen wir ueberhaupt erst Ich werden, nicht durch solch abstrakte Dinge wie gemeinsame Werte zusammengehalten oder gar gebildet werden, auch wenn darueber heute staendig geredet oder auch lamentiert wird. Vielmehr sind es kulturelle Infrastrukturen, mit Foucault koennte man diese Dispositive nennen [muesste dann aber klarer als Foucault dies tat sagen, was damit genau gemeint ist], die uns eine gemeinsame Wirklichkeit immer schon zur Normalitaet machen. Die Mauern, Takte und Preise, die unsere Welt raeumlich, zeitlich und wertlich konstituieren, die mein Ich, Dein Du, unser Wir und Euer Ihr erst als jeweilige Konstellation sein und werden lassen. Natuerlich ist das ambivalent, denn der liebe Gott, der angesichts unserer hocheffizienten, immanenten Weltorganisation abhanden bleiben darf, findet auch in der Welt seine Nachahmer und allzu leicht machen wir Kultur zu Natur und werden die Mythen nicht mehr los, die wir gerufen haben.
Der Gemeinschaftsdiskurs heute leidet vor allem daran, dass er immer tendenziell moralisiert gefuehrt wird. Der manische Fokus auf die Begruendung der vorgeblich verbindlichen Normen, die eine Gemeinschaft tragen und leiten sollen, verkennt die Art und Weise, in der sich Vergemeinschaftung und Orientierung in modernen Kulturen vollzieht. Aber es gibt keinen letzten Grund, auf den man die Menschheit stellen und von dem aus man sie orientieren kann. Es gibt nur stets kontingente Konstellationen, in denen sich jeweilige Wir-Welten bilden. Und es sind WIR, die dies bewerkstelligen koennen und muessen. Sich anzusehen, wie sich diese Welten bilden und wie sie funktionieren [denn sie funktionieren!], wie wir UNS als WIR vernehmen und ins Vernehmen setzen, scheint mir intellektuell viel reizvoller als das leidige Moral-Gesudere dazu, wie wir es tun sollen.
Am gegenwaertigen Gemeinschaftsdiskurs interessiert mich vor allem die Transformation der Bedeutung von Lokalitaet und realer Begegnung, von WIR-Ereignissen. Im Zentrum steht dabei die neue Rolle eines real public space als Moeglichkeitsbedingung von echter Gemeinschaftsbildung. denn das Lokal-Oeffentliche gewinnt in dem Masse an Bedeutung, wie das abstrakte, auf virtuellen oder theoretischen Raeumen fussende Global-AllGemeine an lebensweltlicher Zielschaerfe und pragmatischer Relevanz verliert. Offenbar bedarf es des unmittelbaren Miteinanders, das sich in realen Orten kristallisieren kann. Um WIR zu werden, muss ein realer Austausch, ein AUS-handeln stattfinden, das offenbar nicht so einfach virtuell ueberbrueckt [wohl aber angezettelt] werden kann. Es zeigt sich heute in besonderer Eindruecklichkeit, dass die Rahmen- und Zugangsbedingungen dieses Aushandelns nicht mehr durch Ethnie, Religion, soziale Schicht oder Staatsangehoerigkeit vorgegeben sind, sondern zu prinzipell offenen Kohaesions- und Tansformationszonen werden, in denen sich Gemeinschaft als kontingente Konstellation immer neu bilden muss – aber eben auch bilden kann. Tansformationszonen, in denen man mit dem/n Anderen anders wird.
Damit verbunden ist eine neue Bedeutung des Aktualen, Erlebten, das nicht mehr im Rausch der letztlich doch nur von fiktiver Tragkraft gehaltenen Echtzeitbegeisterung vergeht, sondern eine neue Achtung des Momentanen einleitet. Und das waere eine Weise, den Ausgang aus der selbstverschuldeten Heteronomie durch die Fixierung auf eine bessere Zukunft hin anzuzielen und die grobe Erzaehlung vom generalisierten Prekariat umzuruesten zu einer Produktivenergie fuer die Realisierung des Andersmoeglichen in und durch unsere[n] jeweiligen WIR-Welten. Dazu braucht es keine grossen Theorien, Vernunftgesetze oder absoluten Geister. Es reichen die mannigfaltigen Miniaturen, die sich in einer taetigen Gegenwart als schlagkraeftige Provokationen in die Triebraeder des business as usual klemmen und dort zu Unserer, Eurer, Ihrer Freude immer neues Wir gebaeren.