Als sie Ende der 1970er vorschlug, dass SchülerInnen im Sprachunterricht auch untereinander kommunizieren könnten, löste Maddalena de Carlo heftige Abwehrreaktionen bei ihren Kollegen aus. Heute, mehr als dreißig Jahre später, bildet sie selbst angehende LehrerInnen an einer italienischen Uni aus, an der Engstirnigkeit hat sich jedoch nicht soviel geändert.
Ich bilde Lehrer in Französisch und Fachdidaktik an einer öffentlichen Universität aus. Begonnen habe ich meine Lehrerkarriere als Englischlehrerin. Damals in den 80ern war ich Teil experimenteller Projekte mit dem Ziel, Fremdsprachen zum Teil des Rahmenplans an Grundschulen zu machen. Danach unterrichtete ich viele Jahre lang Französisch an einer Oberschule. Durch ein Stipendium konnte ich Italien für ein paar Jahre verlassen und studierte an der Sorbonne in Paris. Nach meiner Rückkehr arbeitete ich weiter an einer Oberschule.
Mein Entschluss, Lehrerin zu werden, hängt direkt mit meinen schlechten Erfahrungen als Schülerin zusammen. Ich hatte das Gefühl, dass Schule, anstatt junge Leute anzuregen und ihnen dabei zu helfen, ihre Persönlichkeit und ihre Kreativität zu entwickeln, für das alles eher hinderlich ist.
Als ich anti-institutionelle Bildungssysteme dank Ivan Illich oder John Holt (Instead of Education: Ways to Help People Do Things Better, 1976) kennenlernte, dachte ich, ich hätte die Antwort. In seinem Buch erklärt Holt, wie brillante Kinder, denen es zuhause sehr leicht fiel, allein und frei zu lernen, in der Schule plötzlich untergehen, weil das System sie unterdrückt.
Schule ist immer noch wichtig…
Ich finde, das ist immer noch ein interessantes Problem, aber ich würde nicht so weit gehen, deswegen für eine “entschulte” Gesellschaft einzutreten. Im Gegenteil: Das ist vielleicht ein Traum der Aufklärung, aber ich bin überzeugt, dass Schule einen Hauptanteil an der Bildung einer demokratischen, freiheitlichen und offenen Gesellschaft trägt.
Kann man sich vorstellen, wie das Schicksal vieler Mädchen aussähe, hätten sie keinen Zugang zu Schulen? Wie soziale Unterschiede überbrückt werden würden? In unserer gegenwärtigen Gesellschaft kann Schule eine abweichende Position einnehmen gegenüber den Trends wie Erfolgsdenken, Geldstreben, Körperkult und so weiter.
… und sie muss sich ständig ändern
In meiner gesamten Laufbahn habe ich immer versucht, neue Arten des Unterrichtens in institutionelle Situationen einzuführen. Als ich Ende der 1970er anfing als Sprachlehrerin zu arbeiten und versuchte, den kommunikativen Sprachlernansatz anzuwenden, stieß ich auf viel Widerstand. Der größte war: Engstirnigkeit.
Meine Kollegen konnten sich nicht damit abfinden, dass Grammatik auf einmal nicht mehr im Fokus war. Sie hatten ein Problem damit, dass die Schülerinnen und Schüler und ihr Lernprozess plötzlich im Mittelpunkt stehen sollten und nicht mehr der Lehrer oder der Lehrplan. Was ihnen auch nicht schmeckte: Auf einmal sollten die Schülerinnen und Schüler viel mehr Zeit aufwenden, um untereinander zu kommunizieren, für peer to peer-teaching oder selbstorganisierte Aktivitäten – und das alles ohne die Kontrolle des Lehrers.
Schülerinnen und Schüler sollten ihre Leistungen selbst einschätzen. Und die wichtigste Neuerung, die auf wenig Gegenliebe stieß: Es sollte ein neues Raumgefühl im Klassenraum geben. Die Tische sollten weg, so dass die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit hatten, sich zu sehen und miteinander zu interagieren.
Geglücktes Lernexperiment
Ich kann mich noch ziemlich genau daran erinnern, wie ich anfing, Englisch an einer Grundschule zu unterrichten. Das war im Rahmen eines experimentellen Projekts, das ich zusammen mit Freunden entwickelt hatte. Damals sprach noch niemand von frühkindlicher Sprachförderung. Wir hatten im Klassenzimmer eine Leseecke eingerichtet. Das volle Programm: Teppiche, Kuschelkissen und englische Kinderbücher (keine Schulbücher).
Einmal pro Woche sollten die Kinder sich für 15 Minuten in die Ecke begeben, es sich dort gemütlich machen und sich die Bilder in einem der Bücher anschauen. Mehr nicht. Dann, wenn sie Lust hatten, konnten sie anderen Kindern oder den Lehrern erzählen, worum es ihrer Meinung nach in dem Buch ging. Natürlich entsprang das meiste ihrer eigenen Vorstellungskraft. Keine Übersetzung, keine Zusammenfassung, nur die Freude daran, ein schönes Buch in der Hand zu halten.
Die Sprache war für die Kinder sehr unzugänglich – immerhin waren die Bücher für englischsprachige Kinder geschrieben worden. Die Schule war am Stadtrand von Rom – einer sehr armen Gegend. Viele Eltern saßen im Gefängnis, Kinder nahmen Essen aus der Schulkantine mit nach Hause. Dennoch erinnere ich mich immer noch sehr gut daran, wie aufnahmefähig die Kinder waren. Es war eine der erfüllendsten Lehr-Erfahrungen in meiner Karriere. Jahre später hat Daniel Pennac dann Wie ein Roman geschrieben – dort beschreibt er, dass Lesen nicht immer bilden muss, sondern auch reines Vergnügen sein kann. Eine Tatsache, die wir schon viel früher herausgefunden hatten.
Die größten Traditionalisten: Studenten!
Ein Leitmotiv hat sich durch meine ganze Karriere gezogen: Im Grunde machte ich mit den Schülerinnen und Schülern das, was ich selbst gern als Schülerin gemacht hätte. Um mittelalterliche Literatur zu vermitteln zeigte ich meinen Schülern beispielsweise einen Film über die Artus-Sage von Bresson oder spielte ihnen Wagners Tristan und Isolde vor.
Heute versuche ich angehenden Lehrerinnen und Lehrern etwas beizubringen. Auch hier stoße ich auf Widerstand, wenn ich versuche, “experimentelle Methoden“ anzuwenden. Erwachsene Studenten sind die wahren Traditionalisten, wenn es um Bildung geht. Sie denken, dass außer Grammatik nichts zählt, ein Lehrer, der seine Autorität nicht einsetzt, nichts wert ist und dass, wenn man ihnen nahe legt, sich Dinge selbst anzueignen, der Lehrer einen schlechten Job macht. Ich musste immer hart kämpfen, um diese Vorurteile abzubauen, manchmal hat es auch einfach nicht funktioniert.
Was Schule kann
Auf der Grundlage all meiner Erfahrungen kann ich heute über die Schule sagen: Schule muss in Beziehung zum Rest der Welt stehen und sich nicht nur auf sich selbst beziehen. Gleichzeitig besteht ihre Aufgabe auch nicht darin, kulturellen Trends hinterherzulaufen. Es gibt Dinge, die man nur in der Schule lernen kann, es macht also keinen Sinn, Schülern Dinge vorzuschlagen, die sie schon von alleine machen. Was Schule machen sollte, ist den Menschen beizubringen, mit der Kultur autonom und kritisch umzugehen.
Ich glaube immer noch, dass Schule ein ethischer Auftrag zufällt: Allen Menschen die Chance zu geben, frei das Leben zu führen, das sie sich wünschen.
Den letzten Satz kann ich besonders unterstreichen. Danke.
sehr interessanter und spannender artikel. all das beschriebene kann ich gut nachvollziehen und bin gleichzeitig wiedermal überrascht wie langsam sich der sektor der bildung in unserer “schnelllebigen zeit” verändert.
Die Prägung durch 12-13 Jahre eigene Schulerfahrung ist sehr nachhaltig und holt selbst die Lehrer nach ein paar Jahren Schulpraxis wieder ein, die in ihrem Studium moderne Lernmethoden kennen gelernt hatten.
Ich kenne diesen Kampf auch aus der Erwachsenenbildung. Hier sind oft die Auftraggeber neueren Methoden gegenüber nicht hinreichend aufgeschlossen.
Ihre Ansätze sind ganz hervorragend und ich möchte Sie ermutigen, diese Kämpfe nicht aufzugeben.