Die Möglichkeiten, die das Internet heute bereithält, sind für Wolfgang Neuhaus vor allem ein riesengroßer Spaß. Der Mediendidakt befindet in der BILDUNGS-Reihe: Das Internet selbst ist Resultat kollektiver Bildung. Mit dem Begriff “E-Learning”, der im Zusammenhang mit Bildung und Internet immer wieder auftaucht, räumt er auf.
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Unter Bildung verstehe ich die Entwicklungsprozesse des in der Gemeinschaft agierenden Individuums, sowie die zur Förderung dieser Prozesse entstandenen Institutionen und Infrastrukturen, die Produkte von Bildung (explizites Wissen, kulturelle Errungenschaften, Forschungsergebnisse usw.) über Generationen hinweg weitergeben.
Tatsächlich stellt das individuelle Lernen für mich nur einen Teil solcher Weitergabe-Prozesse dar. Bildung aus dieser Perspektive betrachtet, ist per Definition Veränderung und insofern hat das Internet genauso wie alle Bildung Anteil an der Veränderung unserer Welt.
Starre Strukturen überwinden
Das besondere an der Entwicklung des Internet ist, dass diesen Veränderungsprozess sehr viele Menschen gleichzeitig erleben und die Entwicklung sehr schnell verläuft. Am Grundverständnis von Bildung ändert sich dadurch aus meiner Sicht nichts. Allerdings erscheinen mir die Strukturen heutiger Bildungsinstitutionen generell zu starr, um innovative Bildungsangebote für einzelne Mitglieder unserer Gesellschaft gleichberechtigt und gewinnbringend fruchtbar zu machen.
Zur Überwindung dieser Starre gibt es sicherlich keine einfachen Lösungen. Der aus der E-Learning-Community häufig zu hörende Ruf nach mehr Medieneinsatz und mehr Medienqualifikation für Lehrende greift hier deutlich zu kurz.
Ganzheitliche Betrachtungsweisen
Bezogen auf konkrete didaktische Ansätze besteht das Problem vor allem darin, dass die heute dominierende Output-Orientierung in der Didaktik, wie auch in der Bildung allgemein, ganzheitliche Entwicklungsprozesse eher bremst als fördert.
Um eine Bildung zu ermöglichen, die durch Flexibilität, Kreativität, Produktorientierung und Nachhaltigkeit geprägt ist, benötigen wir vor allem hochqualifiziertes pädagogisches Personal, das in der Lage ist, ganzheitliche Prozesse anzuregen, die ihrer jeweils eigenen Dynamik folgen. Die Zerlegung derartiger Prozesse in empirisch nachprüfbare Items mag für die Diagnose der Wirkungen von Unterricht interessant sein, ist aber als Input für die Planung entsprechender Lehr-Lernsituationen gänzlich ungeeignet.
Hierzu bedarf es der Reflexion der Ergebnisse solcher Untersuchungen und die Orientierung an jeweils aktuellen Bildungsdiskursen. Damit ist nicht gemeint, auf Evaluation und Qualitätssicherung in der Bildung zu verzichten, es geht lediglich darum, Unterricht an den ganzheitlichen Erfahrungen der daran beteiligten Akteure zu orientieren und dabei die Ergebnisse empirischer Forschung im Hinterkopf zu behalten.
Der vorherrschende Diskurs in der Didaktik, der die Output-Orientierung gegen Input-Orientierung ausspielt, sollte aus meiner Sicht durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise überwunden werden.
Didaktisches Design und Medienwahl
E-Learning hat aus dieser Perspektive nicht das Potenzial, um auf die grundlegenden Fragen der Didaktik adäquate Antworten geben zu können. Hilfreich erscheint mir vielmehr ein professionelles didaktisches Design, das sich sowohl am Bildungsdiskurs orientiert, wie auch an den psychologischen und biologischen Bedingungen menschlichen Lernens.
Die internationale Reformpädagogik hat in dieser Hinsicht zahlreiche Beispiele hervorgebracht, die Hinweise geben können, wie nachhaltiges, kollektives Lernen und entsprechende Bildungsprozesse angeregt werden können. Aktuelle empirische Untersuchungen bestätigen die Stärke dieser Ansätze.
Auch und gerade in einer Zeit der Allgegenwart von Computern bietet für mich die internationale Reformpädagogik ein solides Fundament für innovatives didaktisches Design. Vor diesem Hintergrund gilt es zu entscheiden, welche konkreten Medien in einem didaktischen Szenario nutzbar gemacht werden können. In der Regel liegt es nahe, jeweils solche Medien auszuwählen, die im konkreten inhaltlichen Kontext am besten den jeweils angestrebten Zweck erfüllen. In dieser Hinsicht ist das Internet natürlich ein Paradies und eröffnet bezüglich Kommunikation und Gestaltung schier endlose Möglichkeiten.
Abschied vom E-Learning-Begriff
Der E-Learning-Begriff als Überbleibsel des vergangenen Jahrhunderts, war immer eng angebunden an das in angelsächsischen Ländern weit verbreitete Konzept des Instruktionsdesigns und konnte bei uns im Grunde nur im Kontext beruflicher Bildung begrenzte Akzeptanz finden. Das Instruktionsdesign ist aus meiner Sicht wissenschaftlich nicht anschlussfähig an die fortschrittlichen Bildungsdiskurse im deutschsprachigen Raum.
E-Learning, basierend auf dem Instruktionsdesign, unterfordert die Lernenden, weil mit Struktur gebenden digitalen Lernumgebungen herkömmlicher Art (Learning Management Systeme, Web Based Trainings, Testumgebungen, 3D-Welten, usw.) nur ein geringer Bruchteil menschlicher Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten angesprochen wird.
Die Komplexität des menschlichen Gehirns erfordert offene, flexible und anregende Lernumgebungen. Gemeint sind damit Räume, Menschen, Objekte, Orte im realen wie im virtuellen Raum, die sich nicht auf das Geschehen an einem Computer-Monitor einengen lassen.
E-Learning – in der Mehrzahl seiner Erscheinungsformen – ist aber eben durch diese Einengung gekennzeichnet. Deshalb habe ich mich vom E-Learning-Begriff – so weit es eben geht – verabschiedet und verwende lieber den Ausdruck “Mediengestütztes Lernen“ oder in der europäischen Tradition “Technology Enhanced Learning“ für Lernformen, in denen das Potenzial jeweils aktueller Technologien für anspruchsvolle, reformpädagogisch orientierte Bildungskonzepte nutzbar gemacht wird.
Lernen in der Community mit webgestützten Werkzeugen
Für mich war und ist der Umgang mit dem Netz immer ein “learning by doing”. Wobei sich die weltweite Online-Community beim Ausprobieren neuer Ideen von Anfang an als hilfreich erwies. Das Highlight meiner Anfänge im Internet zu Beginn der 90er Jahre war die Kommunikation in unzähligen Chat-Chanels über mIRC. Hier konnte ich Leute aus allen Regionen der Welt kennen lernen.
Mit Unterstützung des Chaos Computer Clubs entwickelten wir 1994 ein System, mit dem wir auf einem von uns organisierten Rave über das Internet Sounds zwischen Tanzflächen in London und Berlin via Midi antriggern und zirkulieren lassen konnten. In einer vorbereitenden Workshop-Reihe produzierten Lernende das akustische Material für diesen Rave. Mit dem World Tune Projekt bauten wir ab 1997 eine Community auf, die in produktorientierten Lernarrangements eine weltweite Klangskulptur realisierte.
Heute bringe ich derartige handlungsorientierte Konzepte auch an der Hochschule in der Lehre ein. Zentrales Online-Werkzeug meiner Lehrveranstaltungen ist ein Wiki (pro Veranstaltung), in dem Studierende und Lehrende flexibel und übersichtlich, an jedem Ort zugänglich, Inhalte strukturieren und an jeweils aktuelle Planungen und Diskussionen anpassen können.
Mit dem Learners’ Garden Projekt beginnen wir jetzt den Aufbau einer Community, die webgestützte Werkzeuge online verfügbar macht, um selbstorganisierte Formen des Lernens zu unterstützen. MitmacherInnen sind herzlich willkommen.
Hallo, haben Sie auch schon mal Facebook oder Twitter für die Lehre benutzt? Das würde mich interessieren. Danke!
Das spricht mir aus der Seele. E-learning ist am Ende. Google mit seinen kollaborativen Werkzeugen gehört die Zukunft. Wir machen mit Bpb zusammen ein Projekt, dass sich genau dem hier beschriebenen Ductus verschrieben hat. Zu finden unter pb21.de
Vielen Dank für den Artikel. Der Begriff “Instruktionsdesign” war mir neu und beschreibt für mich die Funktion “klassischen” eLearnings sehr gut: Instruktion als Belehrungsmethode. Was wir brauchen ist allerdings einen Wandel zur Lernmethode. Gute Frage: Wie organisiert man selbstorganisierte Lernprozesse? Wie gestalte ich Lernen so, dass Raum für Neues bleibt, für offene Prozesse, in denen ich selbst Lernpartner, Mitlernender bleibe?
Wie reduziere ich Lernen nicht auf kognitive Vorgänge, sondern fördere das Gehirn als “Sozialorgan”? Wir sollten möglichst Methoden nutzen, die gleichzeitig soziale Kompetenzen fördern, insbesondere die konstruktive Gesprächsführung und die Kollaborationsfähigkeit und -bereitschaft (virtuell, aber auch im realen Raum). Der Learners’ Garden sollte ab und zu ein echter Garten sein (oder eine Piazza, ein Forum, ein Lernraum, eine Vernissage, eine Hirn-Gymnastikhalle …). “Die beste Droge für den Menschen ist der andere Mensch” (Joachim Bauer). Ideal ist es, wenn wir gleichzeitig die Qualität der Beziehungen verbessern. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Learners’ Garden Projekt dazu einen wichtigen Beitrag leisten kann.
Genau so. Nicht den Frontalunterricht aus dem Klassenzimmer in Lern-Management-System wie Moodle verlagern, sondern an die Stelle der Instruktion die Konstruktion setzen. Es wird zwar immer auch instruktive Teile im Lernprozess geben, diese gehören aber in ein Gesamtkonzept, in dem eine nachhaltige Wissenkonstruktion in den Blick genommen wird, die den handelnden Umgang mit Wissen ermöglicht, ohne auf de Anspruch des Wissens und der Allgemeinbildung zu verzichten.
Über E-Learning-Konzepte habe ich hier schon einmal nachgedacht und erlaube mir, diesen Beitrag zu verlinken (statt alles nochmal zu schreiben).
http://herrlarbig.de/2008/12/15/diskussion-ueber-lern-management-systeme-lms/
Grüße,
T. Larbig
Link im letzen Kommentar führt ins Leere. Hier sollte es jetzt klappen.
http://herrlarbig.de/2008/12/15/diskussion-ueber-lern-management-systeme-lms/
Anregender Artikel, auch wenn ich denke, dass es wie im Präsenzunterricht auch im Endeffekt auf Mischformen herauslaufen wird, einige Formen des inzwischen traditionellen E-Learning werden sicher erhalten bleiben – so wie es ja auch immernoch Phasen mit Frontalunterricht gibt – gleichzeitig müssen die vorhandenen LMS und die in Ihnen eingestellten Lerninhalte und -aktivitäten sozialer werden, um eine Zukunft zu haben.
Wenn man eLearning mit WBT und CBT gleich setzt, dann kann ich da teilweise zustimmen. Ich habe den Begriff allerdings immer weiter gefasst. So gehörte das kollaborative Lernen für mich immer schon zu “elearning = Online Lernen”. Es sollte bei aller kritikwürdigkeit nicht unterschätzt werden wie viele WBTs in den Unternehmen erfolgreich eingesetzt werden, z. B. bei Banken und Versicherungen, die damit ihre Mitarbeiter auf neue Produkte trainieren.
Die aktuellen Werkzeuge des Web2.0 / Social Media eröffnen natürlich ganz andere Möglichkeiten. Hierüber können Anreize zur Vernetzung und damit zum informellen Lernen gegeben werden. Der Versuch informelles Lernen zu organisieren wird sicher fehlschlagen. Den Lernern sollte dagegen der Einsatz der Tools, die Vor- und Nachteile sprich die notwendige Medienkompetenz vermittelt werden.
@Lore Reß
Das tragische am E-Learning-Begriff ist genau das: dass anspruchvolle Bildung in Schulen und Hochschulen zu oft in einem Atemzug diskutiert wird mit trivialen, meist bildungsfernen Trainings in der Wirtschaft.
Bei aller Zustimmung zu den Grundsätzen des E-Learnings, ich frage mich, wer verantwortlich sein wird für die Auswahl dessen, was gelernt werden kann und sollte? Ich denke da z.B. an eine ordentlich geführte Bibliothek, die deshalb so gut zu gebrauchen ist, weil Verantwortliche die Bücher ausgesucht haben. Wer aber beurteilt das, was das Netz zeit (all is possible) und trifft die Vorauswahl, trennt also den unendlichen Spreu von dem raren Weizen, der es sinnvoll macht, zu lernen?
Ich bin/war Praktiker an einer Uni und nicht pädagogischer Theoretiker, deshalb meine Zweifel an der Realität des E-Lernens, das so oft in die Irre und ins Irrelevante führen kann, ganz anders als eine gut geführte Bibliothek z.B.
Ich habe den interessanten Artikel nur mit einem “ja, aber…” lesen können. Das Internet mit all seinen Möglichkeiten durch Web 2.0-Plattformen, diversen Communities und mehr oder weniger offenen Ressourcen bietet ein unheimliches Potential – und “unheimlich” ist dabei durchaus doppeldeutig gemeint. Die Menge an Informationen ist sehr gut für ganzheitliche Betrachtungen und selbstgesteuertes Lernen: Ich habe heute viel mehr Möglichkeiten, im und mit dem Internet Dinge zu lernen, die ich will oder brauch. JA, ABER was ist, wenn die Lernzeit begrenzt, die Lernziele klar von oben (z.B. die Unternehmensleitung) gesteckt und die benötigten Ressourcen firmeninterne Informationen beherbergen. Dann kommt man bei einer flexiblem und kostengünstigen Wissensvermittlung (d.h. ohne feste Seminartermine und -orte) häufig nicht um WBTs/CBTs/sonstige “starre” Vermittlungsformen herum, zumindest zum Vermitteln der Grundlagen. Dass diese dennoch oft Verbesserungspotential haben, das will ich aber bestimmt nicht abstreiten…
Ich sehe ein völlig anderes problem.
Da in dieser Kultur alles Gewinn abwerfen soll, ist lernen im Sozialverband nicht erwünscht.
Es wird sich vermutlich die eine oder andere juristische Spitzfindigkeit finden, um das zu unterbinden.
E-Learning ist wie alle anderen Formen mit möglicher Zugangsrestriktion verkaufbar.
und genau darum geht es.
Es ist nie die Frage, was die Menschen gern hätten oder benötigen, sondern immer die, was kann man dran verdienen.
und die Entwicklung auf dem “Wissensmarkt” ist deutlich genug – Studiengebühren (bei gleichbleibend magerster Qualität), verschärftes copyright, restriktives Vorgehen.
Darüber sollte man auch unbedingt nachdenken.
sonst wird jede gute Idee auch nur wieder in eine Verkaufsidee verwandelt.
@YeRainbow
Genau da liegt die Idee des Learner´s Garden: wir wollen hier in der Community Online-Tools ausfindig machen, erproben, beschreiben, kritisieren, entwickeln, die kostenlos für jeden verfügbar sind. Kommerzielle Anbieter werden hier rausgeschmissen, wenn sie für ihr Produkt Werbung machen. Wir wollen, dass die Lernenden die Kontrolle über ihre Daten behalten und nicht die Unternehmen und Institutionen.