In der öffentlichen Diskussion über die Covid-19 Pandemie und die Eindämmungsmaßnahmen haben sich schnell zwei unvereinbare Fronten herausgebildet. Zwischen dem eifrigen Befürworten staatlicher Eingriffe und dem wirren Verschwörungsamalgam der Zweifler*innen und Leugner*innen scheint es kaum Platz für eine kritische Auseinandersetzung zu geben. Der Philosoph und Berliner Gazette-Autor Kilian Jörg zeigt, warum eine differenzierte Kritik der “Corona-Maßnahmen” unter diesen Umständen besonders wichtig ist.
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Die eine Seite sieht im Virus Covid-19 die größte, globale Gesundheitsbedrohung seit einem Jahrhundert und begrüßt mit einer seltenen Form von Eifer jeden staatlichen Eingriff in bürgerliche Bewegungsfreiheiten als bittere, aber notwendige Vernunfteinsicht. Mancherorts werden härtere Restriktionen sogar empathisch eingefordert, wenn sich Staaten als zögerlich gegenüber der Implementierung von seit zumindest 1945 undenkbaren Kompetenzerweiterungen erweisen.
Die andere Seite sieht in „Corona“ tendenziell eine reine Erfindung und diffuse Verschwörung von Eliten, bei denen Namen wie Bill Gates oder George Soros sowie Stichwörter wie „Durchimpfung der Gesellschaft“, „Pharmaindustrie“ und „Panikpolitik“ in einen wilden Topf der Paranoia geworfen werden. Die zumindest nachvollziehbaren Bedrückungsgefühle werden zu teils antisemitisch angehauchten Verschwörungstheorien zugespitzt. Die persönliche Entrüstung gegenüber noch vor kurzem unvorstellbaren Freiheitsbeschränkungen wird zu einer negativen Welterklärung zusammengezimmert, bei der wenige Mächtige mal wieder die „kleinen Leute“ an der Nase herum führen.
Das Dilemma der differenzierten Sicht
In dieser Zuspitzung der diskursiven Großwetterlage scheint mir eine ausgewogene Analyse des Problems ungeheuer erschwert zu sein. Wenn man eine gewisse biopolitische Überreaktion unserer spätkapitalistischen Staaten in den Anti-Corona-Maßnahmen ausmacht, wird man oft ohne weitere Nachfrage in das Eck der „Corona-Leugner“, Nazis und Trumpisten gestellt, die aus Egoismus eine Tugend machen. Wenn man mit so genannten „Corona-Gegnern“ über eine differenzierte Sicht der Lage zu diskutieren versucht, kommt man selten über ein „das ist alles Blödsinn“ hinaus und sieht bedrückt dabei zu, wie aus berechtigten, kritischen Ansätzen schnurstracks eine paranoide Welterklärung wird, der man nur mehr den Rücken zukehren kann.
Die Corona-Krise ist ein ungeheuer komplexer Problemzusammenhang, bei dem Expertisen aus mehr Fachbereichen gefragt sind, als irgendein einzelner Mensch glaubwürdig vertreten könnte. Schon durch diesen Umstand lässt sich ein mündiger und erwachsener Diskurs schwer führen. Durch die oben angesprochene Bifurikation in zwei oppositionelle Lager wird er beinahe verunmöglicht, da schon bei den leisesten Indizien der Zugehörigkeit zur anderen Seite der Dialog durch die Performance von moralischer Entrüstung oder hochnäsigem Besserwissertum abgebrochen wird.
In den folgenden Aphorismen möchte ich im Sinne von Donna Haraway‘s Staying with the trouble der Komplexität treu bleiben und einige Fragen stellen und Beobachtungen treffen, die mir im Diskurs unterrepräsentiert scheinen. Ich möchte versuchen, der magnetischen Wirkung dieser beiden Diskurspole zu entgehen und ohne den Anspruch auf endgültiges Wissen das Denken über ein historisch kaum vergleichbares Ereignis anregen. Um nicht unnötig den falschen Schein der Objektivität zu erhaschen, folgende Klarstellung: Ich bin der gegenwärtig hegemonialen Coronapolitik sehr kritisch gegenüber eingestellt, allerdings nicht weil ich in ihr eine Verschwörung sehe, sondern eine besorgniserregende, autopoetische Zuspitzung biopolitischer Sicherheitsaparate, für die niemand persönlich etwas kann, denen jedoch wirkungsvoll entgegenzutreten die meisten unserer Führungspersönlichkeiten zu inkompetent, unreflektiert, eingespannt und mutlos sind.
Hätte es besser laufen können?
Covid-19 wird als ein „Jahrhundertvirus“, die globale gesundheitliche Bedrohung als „einzigartig“ beschrieben. Das mag so sein. Aber gerade wenn dem so ist, möchte ich die unschuldig gemeinte Frage stellen: Hätte es unter diesen Umständen tatsächlich besser laufen können, als es de facto gelaufen ist? Bis auf wenige, sehr lokal und zeitlich kurz gebliebene Ausnahmen ist das Gesundheitssystem nirgends zusammengebrochen. In vielen Ländern und in den allermeisten Regionen war es bislang niemals auch nur annähernd an der Auslastung. Genauso wenig ist die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln nicht gestört geworden oder die zivilstaatliche Ordnung zusammengebrochen. Auch kennt nicht „jeder jemanden, der an Corona gestorben ist“, wie es der österreichische Bundeskanzler in gewohnt apokalyptischer Manier Ende März verkündete.
Anfangs folgten die vielfach belachten „Panikkäufe“ sowie das inflationäre Bunker- und Prepperwesen genau solchen Bildern: der Angst vor dem Zusammenbruch des gesellschaftlichen Zusammenhalts aufgrund einer Pandemie. Aber selbst diejenigen, die sich nicht im Supermarkt um das letzte Klopapier prügelten, konnten sich solchen Angstbildern anfangs wohl nicht ganz erwehren: Auch mich haben sie immer wieder im Traum verfolgt, selbst wenn ich sie rational als „irrationale Panikverlagerung“ einstufte.
Heute, ein gutes halbes Jahr später, können wir uns allesamt auf die Schulter klopfen und sagen: Zumindest so schlimm ist es nicht geworden! Die Bilder, die wir aus Hollywoodfilmen und dem Geschichtsunterricht kennen, sind nicht eingetroffen. Auch wenn wir zur Zeit in der sogenannten „zweiten Welle“ und den nächsten Lockdowns stehen, wird heute wohl kaum jemanden mehr von solch apokalyptische Ängsten verfolgt. Man sperrt sich halt nochmal für ein paar Wochen ein, um „das Schlimmste“ zu verhindern. Man kann gut gemeint optimistisch argumentieren, dass wir – als Gesellschaften – gelernt haben, katastrophenresistener zu werden: „Das Schlimmste“ bedeutet für die allermeisten im Bezug auf Corona heute „nur“ mehr ein furchtbares Zunehmen der so genannten Übersterblichkeit, nicht aber „das Ende der Welt wie wir sie kennen“. Natürlich ist auch eine massiv erhöhte Übersterblichkeit nichts, was man feiern kann, aber im Angesicht einer Pandemie (wie anderer Katastrophen, die uns wahrscheinlich in der Zukunft erwarten werden) könnte es auch noch viel schlimmer werden. Wir haben diese Katastrophe bislang einigermaßen gut überstanden.
Auch wenn bei dieser Analyse wohl beide der oben skizzierten Fronten zustimmen würden, geht die Begründung für das Warum weit auseinander. Die einen sehen den bisher einigermaßen glimpflichen Hergang der Pandemie – der in vielen Ländern nichtmal zu einer signifikanten Übersterblichkeit geführt hat – als Bestätigung der Wirksamkeit der Maßnahmen, die anderen nehmen den selben Grund als Anlass für Spott an der „panischen Überreaktion“: Es ist ja doch nichts gewesen! Für die einen ist der bisherige Verlauf der Pandemie Anlass für ein „weiter wie bisher“ mit – sofern es notwendig wird – weiteren Lockdown-Phasen und für die anderen der Grund, das Ganze als Scharade abzublasen.
Man muss sich hier meiner Meinung nach nicht unbedingt positionieren. Wichtiger erscheint es mir, für eine Zukunftsperspektive dieses oben skizzierte Paradoxon wahrzunehmen: Denn je weiter die befürchtete Katastrophe mit der die harten Restriktionen legitimiert werden und die tatsächliche Wahrnehmung der Katastrophe auseinander klaffen, desto schwieriger wird es die Restriktionspolitik aufrechtzuerhalten. Schon jetzt zeigt sich viel mehr Widerwille an den Coronarestriktionen als in der sogenannten „ersten Welle“. Eine Tendenz, die sich bei etwaigen dritten, vierten und fünften Wellen wohl fortführen würde.
Was ist Übersterblichkeit?
Das Konzept der Übersterblichkeit regiert zur Zeit die Diskurse. Am Anfang war es die Sterblichkeitsrate, über die sich heute interessanterweise kaum mehr schlüssiges Zahlenmaterial finden lässt, dann – für eine kurze Zeit – die Wiederinfektionsrate und heute die Übersterblichkeit, die die Zahl sein soll, die entscheidet, wie schlimm Covid tatsächlich ist und also Maßnahmen legitimiert oder delegitimiert.
Sehen wir mal von der verständlichen Irritation ob der Geschmacklosigkeit über Tote nur in abstrakten Zahlen zu denken ab, sollte man meiner Meinung nach zumindest kurz innehalten, um zu hinterfragen, was denn Übersterblichkeit genau bedeutet.
Die Übersterblichkeit einer Gesellschaft bemisst sich nach dem Abweichen eines langjährigen Mittelwerts wie viele Menschen normalerweise pro Woche sterben. Dieser errechnete Normalwert gibt eine statische Konstanz vor, die in Wirklichkeit auf kein Jahr zutrifft. Ein Beispiel: Der fünfjährige Mittelwert der Sterblichkeit im März in Deutschland beträgt 89 600 Menschen, im März 2018 starben allerdings 107 100 Menschen, im März 2019 86 700, im März 2020 87 400. Die Kurven eines individuellen Jahres sind stets abweichender und „beschwingter“ als jene der langjährigen Norm – das liegt in der Natur der Sache. Dies bedeutet auch, dass „Übersterblichkeit“ kein singuläres Ereignis ist, sondern – wie es das Sprichwort sagt – die Ausnahme ist die Bestätigung der Regel, die diesen Mittelwert erst konstituiert. „Übersterblichkeit“ passiert ihrem Wesen nach immer; Die Frage ist nur, wie hoch sie ist und wie lange sie andauert. Im Falle Deutschlands lässt sich hierbei zwischenzeitlich festhalten, dass die Kurve zum Beispiel 2018 um einiges ausladender war als jene des „Pandemiejahres 2020“ – mit dem Unterschied, dass sich damals niemand für Übersterblichkeit interessierte.
Davon abgesehen muss noch festgehalten werden, dass das Denken und Handeln in Kategorien von Übersterblichkeit dem Wesen nach konservativ ist: Ein Mittelwert konstituiert sich aus dem Bisherigen und postuliert es als den Normalwert für die Gegenwart und Zukunft, von dem diese dann abweichen kann oder nicht. Das Problem ist hierbei, dass Vergangenes stets als normal und Gegenwärtiges vor diesem Hintergrund stets als Abweichung erscheint. „Normal“ sind zum Beispiel demnach die durchschnittlich 47.000 an Herzinfarkt oder ca. 98.000 an den Folgen von Schlaganfällen verstorbenen pro Jahr (bei denen die Altersverteilung übrigens beinahe kongruent zu der von Coronabetroffenen ist), genauso wie die ca. 3.000 Verkehrstoten oder 27.000 Verstorbenen an den Folgen von psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen. Unsere Gesellschaft hat sie als „normal“ anerkannt und unternimmt vergleichsweise wenig, sie einzudämmen (was sich durchaus durch Maßnahmen wie der Förderung von gesünderer, vegetarischer Ernährung oder alternativer Verkehrsmittel erzielen ließe).
Aus der Perspektive der „Übersterblichkeit“ können die mit Covid-19 Verstorbenen hingegen dem Wesen der Statistik nach nicht normal erscheinen, da es sich um einen neuen Virus handelt. Das Handeln gegen eine „erhöhte Übersterblichkeit“ fußt auf der Grundannahme einer statischen Gesellschaft, bei der jede Veränderung als „nicht normal“ erscheinen muss. In einer Zeit, in der die Überalterung der europäischen Gesellschaft, die globale Erwärmung (Stichwort: Hitzetote, ein Grund für diverse europäische Übersterblichkeitsphasen in den Sommermonaten der letzten Jahre) sowie die Wahrscheinlichkeit von ökologischen Katastrophen stark zunehmen wird, muss man also aufpassen, dass nicht jede Veränderung der Übersterblichkeit zu einem unreflektierten Alarmismus führt, der auf statischen Annahmen einer unveränderlichen Gesellschaft und Umwelt aufbaut.
Bislang gab es in manchen europäischen Ländern und Regionen zeitweise signifikante Übersterblichkeiten, in anderen zumindest bisher nicht (z.b. in Österreich, Dänemark, Nord Irland, Ungarn, Slowenien, Norwegen und Griechenland). Viele der diesjährigen Übersterblichkeiten wurden mit Covid-19 in Verbindung gebracht, andere mit Hitzewellen (so zum Beispiel in Deutschland im August). In Ländern ohne rigide Lockdown Politik, allen voran Schweden, ist die Übersterblichkeit zwar leicht erhöht, aber um ein Vielfaches weniger erhöht als in Ländern mit massiven Lockdowns wie Spanien und Frankreich. Allerdings darf man hierbei nicht übersehen, dass je größer das Feld wird, desto allgemeiner und auch hinfälliger die Aussagekraft solcher Vergleiche von schwer miteinander vergleichbaren Regionen ist. Es ist komplex und eine Reflexion der Übersterblichkeit sollte genauso wenig zu Alarmismus wie zu kompletter Negierung der Gefahr führen. Es ist letztendlich nur ein Tool unter vielen, eine problematische Lage zu beurteilen – mit biopolitischen Gefahrenpotential des Imaginären einer statischen – und als solches statisch zu bewahrenden – Weltgesellschaft.
Technikgläubigkeit
Der Hoffnungsträger, der den verlängerten Ausnahmezustand der zweiten Lockdown-Welle in Gang hält, ist die Impfung. Es ist ein bisschen wie Weihnachten: Noch einmal soll man brav sein und sich selbst quarantänisieren, dann gibt es bald schon das „Geschenk“, die Impfung, die uns eine schrittweise „Rückkehr zur Normalität“ ermöglichen soll. Auch hier lohnt es sich einen Moment lang innezuhalten, um die inhärente Technikgläubigkeit als Legitimationsvehikel der Shutdown-Politik zu hinterfragen.
Es ist bemerkenswert und daher festzuhalten, dass noch am Anfang der Corona-Pandemie die Entwicklungsdauer eines Impfstoff von Forschung über Testphase bis Massenproduktion auf mindestens fünf Jahre geschätzt wurde. Ein halbes Jahr später, bei der Verkündung der zweiten europäischen Lockdown-Phase, scheint fast jede/r mir bekannte Politiker/in den erneuten Shutdown zusammen mit dem hoffnungsvollen Beschwören der kommenden Impfung im Frühjahr zu präsentieren. Dies ist innerhalb der Logik natürlich absolut legitim: Warum sollte man nicht auf den Impfstoff hoffen? Doch ist es tatsächlich realistisch, dass ein solcher Impfstoff in benötigter Masse in schon wenigen Monaten verfügbar sein kann? Vergessen wir nicht, dass hierfür nicht nur die Zeit der Erforschung benötigt ist, sondern auch die der massenhaften Produktion – Und wir reden hier von Stückzahlen in Milliardenhöhe, die dann noch an die betreffenden Institutionen ausgeliefert werden müssten (das Konfliktpotential im Rennen darum, wer als erster den Impfstoff hat, wurde bereits vielfach diskutiert). Hinzu kommt, dass Testungen der Langzeitfolgen des Impfstoffs gänzlich unter den Tisch fallen. Können wir sicher sein, dass wir uns nicht in eine Art „Contergan 2“ hineinmanövrieren, wenn wir schon bald die ersten Impfstoffe massenhaft verteilen?
Diese Fragen lassen sich zwar kompetent stellen, aber schwer kompetent beantworten. Es ist denkbar, dass unter dem gegenwärtig forcierten Fokus auf globaler Ebene so manches bisher als unmöglich Angenommenes möglich wird und also die Erforschung, Produktion und Distribution gehörig beschleunigt wird. Wenn man ganz optimistisch sein möchte, könnte man selbst das Risiko von Langzeitfolgen dadurch minimieren, dass man bereits erprobte Medikamente nur minimal abändert. In den letzten Wochen gab es bekanntermaßen auch bereits die ersten Ankündigungen von großen Pharmakonzernen, dass ein wirksamer Impfstoff schon bald Realität sein wird. Bislang hat das aber vor allem zu Höhenflügen der Aktienkurse dieser Konzerne geführt (der CEO von Pfizer hat seltsamerweise alle seine Aktien nach dem Tag der Bekanntgabe des neuen Impfstoffs mit hohem Gewinn verkauft – nicht unbedingt ein beruhigendes Zeichen).
Doch was wäre gewonnen, wenn dieser Impfstoff tatsächlich im Frühjahr geimpft werden könnte? Wie oft, wie regelmäßig müsste man sich dann impfen? Würden wir dann jede und jeden dazu zwingen, sich impfen zu lassen? Kann man dann noch nationalstaatliche Grenzen übertreten, wenn man nicht geimpft ist? Wird man als Ungeimpfte/r sozial ausgegrenzt? Wer übernimmt die Kosten der Impfung? In den reichsten Ländern mit guten Gesundheitssystem ist es sogar noch denkbar, dass der Staat die Kosten für alle übernimmt. Aber in ärmeren Ländern oder solchen ohne staatliches Gesundheitsversorgung (wie den USA) würde „Geimpftsein“ bald ein neuer Grund von sozialer Ausgrenzung sein, der auch in europäischen Wohlfahrtstaaten durch Migration und „Sans Papiers“ bald seinen Horror entfalten wird: Die Papierlosen, Asyl-Ansuchenden und rechtlich Ausgegrenzten werden dann neben rassistischen Stereotypisierungen auch noch Ausgrenzungen durch Stigmatisierung als Gesundheitsrisiko erleben. Sich hinter der hohlen Versprechung der bald kommenden Impfung zu verstecken reicht nicht. Auch wenn man an ihre Auslieferung im Frühjahr glaubt, wirft diese mehr Fragen auf als dass sie Antworten gibt.
Und dann muss man noch die Was wäre wenn?-Frage stellen. Was wäre, wenn der Impfstoff nicht im Frühjahr lieferbar ist? Werden dann jedes Halbjahr Lockdown-Phasen die Realität? Irgendwann müsste man sich dann die Frage stellen, die heute aufgrund des komfortablen Impf-Versprechens umgangen wird: Wie viel sind wir bereit zu opfern, um die erhöhte Sterblichkeit in manchen Segmenten der Gesellschaft zu manchen Spitzenzeiten zu verhindern? Wäre die Gesellschaft mehrheitlich jetzt noch dazu bereit, in den Lockdown zu gehen, wenn es kein Impf-Versprechen gäbe?
Mir scheint, dass der Status der Impfung im gegenwärtigen Coronadiskurs in die kulturbildende Tradition einer naiven Technikgläubigkeit fällt. „Wir“ – als abendländisch geprägte Gesellschaft – sehen ein Problem und identifizieren die Lösung mit einer technischen Innovation, nicht mit einer Änderung des Verhaltens, das oftmals zumindest Mitverursacher des Problems sein kann. Genauso wenig bedenken wir die Folgeprobleme, die eine Technologie als Lösung für ein Problem nach sich ziehen kann.
Seine problematischen Auswüchse hat diese Tendenz im Bereich des ökologischen Problemfeldes: Durch das Versprechen von bereits entwickelten (z.b. das Elektroauto, die Solarzelle, „klimaneutrales Fliegen“) und der Fiktion von bald kommenden Innovationen (Wasserstoff-Motoren, Kernfusion, Geoengineering) wird der Möglichkeit einer radikaleren (und utopischeren) Veränderung unserer Lebensform ausgewichen, die sich auch der Ursachen von Problemen annimmt.
Der Corona-Impfstoff scheint mir hier als Fiktion (denn noch ist er nicht mehr als) eine ähnliche Funktion einzunehmen: Wir sind weder bereit, die herrschende Situation der verlängerten Ausnahmezustände radikal auf ihre Angemessenheit zu hinterfragen, weil das Versprechen auf einen Impfstoff den unbequemen Lockdown als singuläres (oder zumindest nur zweimal auftretendes) Ereignis erscheinen lässt, das man noch irgendwie durchstehen kann. Noch sind wir bereit, an den Ursachen der Pandemie (der globalisierten Wirtschaft, des massiven Eingriffs in nicht-menschliche Umwelten mit katastrophalem Biodiversitätsverlust und Umweltschäden) tatsächlich etwas zu verändern: Schließlich wird allerorts beschworen, dass der Lockdown nur so weit tragbar ist, wie es „die Wirtschaft“ irgendwie aushält. Deswegen darf man zum Beispiel in Frankreich seinen Wohnort nicht verlassen, außer man fährt zur Arbeit.
Machen wir uns nichts vor: Es gibt nicht „die Wirtschaft“ (als monolithischen, undifferenzierten Block) und der Lockdown schadet bei Weitem nicht allen Wirtschaftstreibenden. Während Kleinunternehmer_Innen, Kulturschaffende, Ladenbesitzer_Innen und das riesige Heer an neuem und altem Prekariat stark wirtschaftlich unter den massiven Freiheitsbeschneidungen leidet, registrieren die global agierenden Giganten wie Facebook, Amazon, Netflix etc. Rekordgewinne. Jene monopolähnlichen Technikkonzerne, die „die Wirtschaft“ unter digitalen und neoliberalen Vorzeichen im letzten Jahrzehnt bereits massiv verändert und prekarisiert haben, profitieren massiv von dieser Krise. Social Distancing und #staythefuckhome passen super für Konzerne wie Amazon, Facebook und Co. Eine monopolbildende Dynamik des „digitalen Kapitalismus“ wird durch die Krise beschleunigt, die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf.
Interessanterweise bauen die meisten als Produkt verkauften Versprechen dieser Technikgiganten auf einer sehr ähnlichen naiven Technikgläubigkeit auf, wie die gegenwärtig allerorts beschworene Impfung gegen Covid-19.
Problematische Verwechslungen
Die Angst – teilweise sogar Panik – vor Covid-19 begann mit den staatlichen Lockdown-Maßnahmen. Ich erinnere mich noch sehr klar daran, als Corona ein ironischer Witz für die allermeisten war, solang er noch „nur“ in China war, die Beunruhigung jedoch spürbar anstieg, als es in Italien „begann“ und dann gleichzeitig mit dem Beschluss der Staaten, ähnliche Lockdown-Maßnahmen zu beschließen, die Stimmung gänzlich kippte. Dies ist auf den ersten Blick auch nicht verwunderlich: schließlich kann man ein Virus nicht mit freien Auge sehen und die Gefahr einer Pandemie ist eine sehr abstrakte, die sich anfangs am leichtesten an der Reaktion von übergeordneten Institutionen bemerkbar macht. Interessant ist hier en passant zu bemerken, dass es mit der vielfach beschworenen „Politikverdrossenheit“ und dem Misstrauen gegenüber den politischen Institutionen zumindest in Europa nicht so weit reicht wie pessimistisch befürchtet: Scheinbar ist eine große Mehrheit der Bürger_Innen bereit, ihren Politiker_Innen und Führungspersönlichkeiten im Krisenfall das Vertrauen zu schenken, dass sie richtig und verständnisvoll handeln. Wo früher allerorts bemängelt wurde, dass Politiker_Innen nur der Stimmung des Wahlvolkes wie ein Fähnchen im Wind folgen, ist von diesem Vorwurf im Krisenfall wenig übrig geblieben.
Vor einem Virus kann man also schwerlich konkret Angst haben, vielmehr führen die Diskurse, Mediennachrichten und politischen Maßnahmen über den Virus zu einer Wahrnehmung von Bedrohung und es obliegt jeder/m Einzelnen, zu entscheiden, wie viel Vertrauen sie/er in diese abstrakten Instanzen legt. Aus dieser wesentlichen fuzzyness des Objekts der Angst lässt sich auch die Frontenbildung bezüglich der Einschätzung des Virus erklären: Vor einem die Zähne fletschenden Tiger werden die Einschätzungen der Gefahr der direkt Betroffenen wenig abweichen, bei so abstrakten Entitäten wie „Covid-19“ oder auch der „Klimaerwärmung“ gibt es hingegen vielmehr Vermittlungsdistanz und damit also Interpretationsspielraum.
Ein problematischer Nebeneffekt dieser fuzzyness der Bedrohung ist die Tendenz der Vermengung von Kategorien, die man besser getrennt halten sollte. So ist mir in Eigen- und Fremdbeobachtung mehrmals aufgefallen, dass die Unterscheidung von Angst vor dem Virus von Angst vor Bestrafung bei Nichteinhaltung der (teils absurden) Restriktionen und Angst vor sozialem Stigmata als „Unverantwortliche/r“ nicht immer klar zu treffen ist. Mein bestes Beispiel ist hier die generelle Maskenpflicht im nicht-privaten Außenbereich in Spanien (das ein ganzes Land als „nicht-privater Außenbereich“ definiert wird, ist schon an sich interessant), in dem ich neulich noch Wandern war. Selbst wenn man alleine Wanderenden begegnet, tragen die meisten eine Maske und auch wenn man mit genügend Abstand im freien und windigen Hügelland ohne Maske aneinander vorbei geht, fühlte ich oftmals eine gewisse Scham, die nicht klar in eine Angstkategorie einzuordnen war. Ich nehme an, jede/r kennt ähnliche Begegnungen.
Weiters scheint mir im ganzen Diskurs auf weiter Strecke eine Verwechslung von Risiko und Gefahr zu passieren. Laut Wikipedia ist Gefahr „eine Situation, die eine negative Auswirkung zur Folge haben kann.“ Risiko hingegen wird ganz allgemein als „die Möglichkeit des Eintritts künftiger Ereignisse, die nachteilige Auswirkungen wie Verlustgefahren in sich bergen“ definiert. Während sich Gefahr also auf eine konkrete Situation bezieht, ist Risiko das Ergebnis einer probabilistischen, statistischen Berechnung ohne konkreten Situationsbezug. Es ist eine abstrakte Zukunftsprognose aus Bisherigem und bereits bekannten Datenlagen, die nicht vollständig sein und also auch nicht zutreffen müssen. Wenn wir unsere Handlungen und Ängste also bloß auf das Risiko einer Infektion ausrichten, kann weder die Spezifität der bestimmten Situation (wie der windige, nordspanische Hügel) mit in die Reflektion aufgenommen werden, noch wird die Möglichkeit offen gehalten, dass wir nicht bereits alles über das Virus und seine konkreten Gefahrenpotentiale wissen (können). Dann läuft die Corona-Politik Gefahr, sich symbolischer Maßnahmen gegen ein allgemeines, rein abstrakt errechnetes Risiko zu bedienen, anstelle zu reflektieren, wie sich die situationsspezifischer Gefahren einer a) Ansteckung, b) Erkrankung und c) schweren Erkrankung minimieren ließen.
Und hier kommen wir fließend zur letzten Verwechslung, die ich abschließend thematisieren möchte: Infektion ist nicht gleich Erkrankung ist nicht gleich schwere Erkrankung. Es ist mittlerweile hinreichend bekannt, dass ca. 85% der Infektionen ohne Symptomentwicklung verlaufen (sie also von außen als „gesund“ erscheinen) und nur wenige Prozent einen „schweren Krankheitsverlauf“, der über übliche Grippesymptome hinaus geht, erleben (ich lasse die Horrormeldungen über die „unerwarteten Nebenwirkungen“, die von schweren Gehirnschäden bis Herzinfarkten und Organschäden an dieser Stelle aus und verweise auf ihre meist singulären Nennungen und die Dynamik, wie man einem an sich langweiligen Journal Paper breite mediale Aufmerksamkeit verschafft: Schocknews anhand von unquantifizierbaren Nischenphänomenen).
Natürlich liegt hierin auch ein Risiko (keine Gefahr), denn schließlich kann sich so der Virus „unsichtbar“ über weite Strecken verteilen bis er bei Wirt_Innen angelangt ist, die ein schwerer oder gar tödlicher Verlauf trifft. Allerdings scheinen mir die herrschenden Lockdown-Maßnahmen keinesfalls hauptsächlich auf die Vermeidung von konkreter Gefahr eines schweren Krankheitsverlaufs angelegt zu sein, sondern sperren pauschal alle nicht-arbeitenden Bürger_Innen zuhause aufgrund eines abstrakt errechneten Risikos ein. Selbst wenn man noch nicht genug über die Auslöser für schwere Krankheitsverläufe wüsste (lokal erhöhte Umweltverschmutzung, Vorerkrankungen, erhöhtes Alter, etc. ist bereits bekannt), würde man es sich durch diese pauschalen Maßnahmen erschweren wenn nicht gar verunmöglichen, mehr über die konkrete Gefahrenpotentiale von Covid-19 herauszufinden.
Der Dualismus wird er Komplexität nicht gerecht
Freund_Innen aus den USA erzählen mir, dass man in manchen Städten automatisch als Trumpist identifiziert wird, wenn man keine Maske trägt. Auch in Europa wird man allzu leicht in das Eck von rechten Verschwörungstheoretikern gestellt, wenn man gewisse Bedenken an der Sinnhaftigkeit der herrschenden Corona-Politik äußert. Hierbei hat sich ein interessanter Wandel vollzogen: Während ursprünglich die Gegner der hegemonialen Staatspolitik und der herrschenden Ordnungsversuche tendenziell als „links“ identifiziert wurden und sich auch zumeist als solche identifiziert haben, sind es in der öffentlichen Wahrnehmung heute zunehmend die „Rechten“, die sich gegen liberal-demokratische Rechtsstaaten und ihre Ordnungen auflehnen, während die (politisch etablierte) Linke die Vernunft in der Ordnung anzuerkennen bereit ist. Ob diese Zuordnung so zutrifft, sei dahingestellt: Immerhin erleben wir in diesem Jahr trotz Lockdowns massive Klimaproteste und Besetzungen („Danni“, BER, etc.), die sich eindeutig gegen die herrschende Ordnung stellen und tendenziell als „links“ und „coronaeinsichtig“ eingestuft werden. Genauso scheint bei Anti-Corona-Demos besonders gerne auf die Nazis, die unhinterfragt mitlaufen, hingewiesen zu werden, welches zumeist (und verständlicherweise) zur Delegitimierung der gesamten Demo ausreicht.
Mit den wenigen Aphorismen in diesem Text will ich Stellen ausweisen, an dem die eingangs beschriebene Bipolarität der Fronten im Corona-Diskurs nicht ausreicht, um dem gigantischen Problem „Corona“ gerecht zu werden. Entgegen der herrschenden Tendenz zur Frontenbildung, sollten wir uns bemühen, jenseits der einfachen „Freund – Feind“ Zuordnung sich der Komplexität der Lage anzunehmen, um aus ihr einigermaßen ungeschoren, und im besten Fall sogar gestärkt, herauszukommen.
Sehr geehrter Herr Jörg,
zuerst vielen Dank für Ihre Darstellungen.
Ich möchte Ihnen aber kurz mitteilen, dass viele tausende
Anders-, Quer-, Geradeaus- und wie auch immer Denker durch Petitionen, e-mails und Briefe an die Öffentlich- Rechtlichen Sender darum nachgesucht haben, einen echten
ergebnisoffenen Diskurs von Wissenschaftlern zu ermöglichen. Die Sender haben das abgelehnt oder einfach nicht gemacht. So blieb Corona eine Glaubensfrage.
Die wissenschaftliche Fundierung wurde nicht von den Kritikern verhindert, sondern von der Bundesregierung und den Leitmedien.
Aber ich will nicht glauben! Die gebündelte “Weisheit” der Wissenschaft muss erarbeiten und sprechen dürfen – und natürlich nicht nur solche, die den Katechismus der
sogenannten “Rechtgläubigen” ganz gut beten können.
In den letzten 9 Monaten wurden die selbständig Denkenden
auf ziemlich jede erdenkliche Weise aussortiert, da fragt sich so ein selbständig Denkender eben: Was passiert hier eigentlich gerade? Und sucht nach Antworten.
Der von Ihnen genannte dritte Weg hätte der erste sein müssen, dann wäre der zweite gar nicht erst entstanden.
Mit freundlichen Grüßen
Verena Repers