Gute Krisen, schlechte Krisen? Unsere Vorstellung von Normalität braucht dringend ein Update


Seit der “Finanzkrise” streiten zwei zeitdiagnostische Positionen: Zum einen die VertreterInnen der “Gelassenheit”. Sie sagen im Grunde: Krisen hat es immer gegeben. In linker Variation: Der Kapitalismus ist eine ununterbrochene Krise – also sind die aktuellen Krisen nichts Besonderes, sie sind normal. Die rechte Fassung lautet: Naja, die “Finanzkrise” war schon ganz schön heavy, aber die Genies unserer Zentralbanken haben alles normalisiert. Doch was ist unter den aktuellen Bedingungen normal? Der Soziologe und Berliner Gazette-Autor Jürgen Link stellt seine Theorie zur Normalisierung zur Diskussion.

*

Den oben genannten stehen die Normalismusskeptiker, wie man sie nennen könnte, entgegen. Sie diagnostizieren eine Schlag auf Schlag eskalierende Kette von Krisen mit den aktuellen Höhepunkten der sog. “Flüchtlingskrise”, der Populismuskrise und einer politischen Hegemoniekrise, als deren deutlichstes Symptom sie die inzwischen präkollaptive Lage der SPD und der globalen Sozialdemokratie überhaupt betrachten. Sie sagen: Die aktuelle Kumulation von Krisen ist keineswegs normal oder wieder normal, wir stecken in einem historischen Moment (Kairos) von außergewöhnlichem Kontrollverlust.

Dieses Patt zweier Zeitdiagnosen ist der Ausgangspunkt meines Buchs Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus.. Es beruht auf der Annahme, dass unser Kairos tatsächlich nicht normal ist, dass es zwar durchaus normale Krisen gibt, dass die aktuellen aber nicht normal sind, dass “Kontrollverlust” also Denormalisierung, Verlust der Normalität, mithin das Gegenteil der allbekannten Normalisierung bedeutet.

Was steckt hinter der Normalismustheorie?

“Kontrollverlust” weist auf “Kontrollgesellschaft”: Das ist ein theoretisches Angebot, dass meines Erachtens aber nur Teilaspekte von Normalismus erfasst. Wenn die Frage lautet: Normalisierung oder Denormalisierung, dann ist theoretisch grundsätzlich zu fragen, was eigentlich “normal” bzw. umgekehrt was eigentlich “anormal” ist und wie Normalitäten produziert werden bzw. wie sie in die Krise geraten können. Solche Fragen versucht die Normalismustheorie zu beantworten. Diese Theorie sieht sich nicht als Ersatz für Technologie-, Kapitalismus- und Demokratietheorien, sondern als deren notwendige Ergänzung. Sie stellt also auf neue Weise die Fragen: In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich im 21. Jahrhundert? und: Was bedeutet eigentlich die womöglich spezifische Krisenhaftigkeit des Kairos?

Die vorgeschlagene Antwort besteht in einer Analyse der Konstellation von Normalismus, Antagonismus und Postmoderne. Postmoderne, gemeinsam mit Posthistorie bzw. französisch Posthistoire so etwas wie der harte Kern einer ganzen Serie von Postismen, impliziert im Grunde eine Dialektik, die sie selten expliziert, am deutlichsten beim ursprünglichen Fukuyama. Es ist als Epochenbegriff ein schwammiger Begriff, der den bereits vieldeutigen der Moderne mit einem noch mehrdeutigeren Post kombiniert.

Ich schlage in meinem Buch vor, den gordischen Knoten zu durchschlagen und eine einfache Definition zu geben, die außer für Postmoderne gleich auch für Posthistorie gilt: Postmoderne ist eine historische Epoche, deren Eliten auf der Basis des Axioms denken und handeln, dass es keine historischen Antagonismen mehr gibt bzw. dass alle verbleibenden anscheinend antagonistischen Konfrontationen wie etwa die mit dem militanten Islamismus tiefenstrukturell bereits überwunden sind und sich daher mit historischer Notwendigkeit im Auslaufen befinden. Damit bin ich bei meinem zweiten Titelbegriff Antagonismus.

Der Zusammenhang zwischen Postmoderne und Antagonismus

Das ist ein Grundbegriff der Dialektik von Hegel und Marx und etwa auch der ersten Frankfurter Schule. Aber abgesehen von Fukuyama halten die Postmodernen diesen Begriff meistens für obsolet und mit Luhmann für nicht “operativ”. Marx definiert folgendermaßen: “Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus […]” (MEW 13,9). Aus entsprechenden Kontexten bei Marx geht hervor, dass Antagonismus konkret Kompromissunfähigkeit eines kollektiven, massenhaften Konflikts impliziert, einschließlich einer Tendenz zu gewaltsamer Kollision, mithin zu Krieg und/oder Bürgerkrieg bzw. Revolution. Für mein Buch ist der Zusammenhang zwischen Postmoderne und Antagonismus der Ansatzpunkt, also das Axiom von der angeblichen tiefenstrukturellen Antagonismuslosigkeit unserer Epoche.

Das hat am klarsten Francis Fukuyama mit seiner These vom Ende der Geschichte ausformuliert, die genau in diesem Sinne eines Axioms zu lesen ist, das wiederum auf einer geschichtsphilosophischen und sogar strikt hegelianischen Deutung des Ereignisses vom Kollaps des Sowjetblocks beruht. Diese Deutung lautet im Klartext: Der letzte Antagonismus war nicht der ökonomisch-soziale zwischen Kapital und Arbeitskraft, sondern der rein politische zwischen kapitalistischer Demokratie und marxistischer Diktatur, so dass wir seit deren Kollaps eben keine Antagonismen mehr haben.

Von diesem Axiom aus komme ich dann schließlich zu meinem dritten Begriff Normalismus. Und zwar so: Das postmoderne Axiom von der Antagonismuslosigkeit bedeutet also so etwas wie eine tiefenstrukturelle Garantie dafür, dass alle Konflikte, die eben nicht mehr antagonistisch sein sollen, durch friedliche Kompromisse aufgelöst werden können. Ich frage nun nach der Basis dieser Garantie – was garantiert die Garantie durchgängiger Kompromissfähigkeit? Und ich antworte: Das soll der Normalismus garantieren. Womit ich beim Normalismus bin.

An der Normalität gescheitert?

Meine kurze und kompakte Standarddefinition: Unter “Normalismus” sei die Gesamtheit aller sowohl diskursiven wie praktisch-intervenierenden Verfahren, Dispositive, Instanzen und Institutionen verstanden, durch die in modernen Gesellschaften “Normalitäten” produziert und reproduziert werden. Nun sagen manche: Eine Theorie des Normalismus ist überflüssig, weil allgemein bekannt ist, was normal ist. Ist das wirklich so? Seit Enzensberger Anfang der 1980er Jahre seinen Essay Zur Verteidigung der Normalität publizierte, wollte ich es genauer wissen – hatten wir 68er womöglich eigentlich die Normalität bekämpfen wollen und waren wir womöglich an der Normalität gescheitert?

In meinem neuen Buch ist das Wesentliche dieser Theorie nochmals zusammengefasst, upgedatet und an aktuellen Entwicklungen verdeutlicht. Der Kernpunkt, den ich u.a. gegen Luhmann, aber auch in Auseinandersetzung mit Negri und Hardt entwickle, ist ein historischer: Normalismus im engen Sinne ist eine erst in der Moderne entstandene Klaviatur sozialer Regulierung. Und zwar deshalb, weil sie flächendeckende und routinemäßige Verdatung aller relevanten Massen von Objekten und Subjekten, also Menschen, voraussetzt, über die frühere Gesellschaften nicht verfügten. Das ist also die These, dass moderne Gesellschaften sicher wissenschaftlich-technische Gesellschaften, kapitalistische Gesellschaften, massendemokratische usw. Gesellschaften sind, aber eben auch verdatete Gesellschaften, was oft vergessen wird, obwohl es jüngst im Kontext von Big Data nicht mehr zu übersehen ist (ein Kapitel meines Buchs handelt von Big Data und fragt, was Big Data für den Normalismus bedeutet).

Normalismus setzt also Verdatung voraus, ist aber nicht identisch damit. Normalismus ist eine Klaviatur sozialer Regulierung, die an “normalen” Massenverteilungen interessiert ist und solche Verteilungen durch aktive Intervention, etwa soziale Kompensierungen, herzustellen versucht, wo sie fehlen. Deshalb das Ideal der mittigen Normalverteilung und des schlangenförmigen Normalwachstums. Diese beiden Kurven sind sozusagen die Seele einer normalistischen Kurvenlandschaft, wie ich sage. Und diese Kurvenlandschaft liegt der sogenannten “Sprache der Märkte” und auch einem großen Teil der massenmedialen äußeren und inneren Bildschirme zugrunde, an denen sich der “Normalbürger”, wie Frau Kramp-Karrenbauer sagt, bzw. der “Normalmensch”, der mit Angela Merkels “Menschen” gemeint ist, orientiert. Dorther also weiß der Normalbürger, was normal ist, wo die Normalität aufhört, also die Normalitätsgrenze liegt, und was folglich nicht normal und damit anormal ist.

Die zunehmende Gewaltförmigkeit in unserer postmodernen Welt

Wie hängen nun, was sozusagen das theoretische Knochengerüst des Buches betrifft, Normalismus und Antagonismus zusammen? Auch ich kritisiere, in diesem Punkt wie Luhmann, die dialektische Fassung des Antagonismusbegriffs als nicht operativ. Ich schlage daher eine neue Fassung dieses Begriffs vor: Antagonismus in operativer Fassung heißt irreversible, also unumkehrbar eskalierende und schließlich ›ausbrechende‹ Denormalisierung. Diese Definition ist also die Konsequenz der These, dass die implizite Garantie des postmodernen Axioms von der Antagonismuslosigkeit und damit von der universellen Kompromissfähigkeit von Konflikten eben der Normalismus ist. Diese These ist nicht nur meines Erachtens falsch und unbegründet, wie es ja die zunehmende Gewaltförmigkeit in unserer postmodernen Welt auch ganz ohne theoretische Begründung nahelegt.

Was aber Theorie nicht überflüssig macht, weil die Frage nach Auswegen oder auch nur “Fluchtlinien”, wie es bei Deleuze und Guattari heißt, auf Theorie, allerdings eine praktisch anwendbare Theorie, verwiesen bleibt. Wenn demnach die scheinbare Garantie für das Axiom der tiefenstrukturellen Antagonismuslosigkeit in der Postmoderne auf dem impliziten Vertrauen in einen sozusagen unschlagbaren Normalismus beruht, dann besteht operative Analyse von Antagonismen in der Analyse der Grenzen des Normalismus und der Tendenzen irreversibler Denormalisierung. Das führt in Überlegungen, die man in dem Buch nachlesen kann und die im einzelnen nicht kurz ›herunterzubrechen‹ sind, wie der Jargon lautet. Da gibt es auch zugegebenermaßen schwierige, doch nicht unzugängliche Abschnitte. Das ist aber immer auch ein über große Strecken leichter zu lesendes empiriebezogenes Programm, das sich auf aktuelle Krisentendenzen bezieht, wie es in meinem Untertitel heißt: Krise, New Normal, Populismus.

Das theoretische Knochengerüst des Buches ist also durchgängig mit dem Fleisch aktuell empirischer Krisenentwicklungen gefüllt. Die Populismuskrise zum Beispiel besteht meines Erachtens strukturell darin, dass die Demokratie des Modells Deutschland präzise als Normaldemokratie mit einem politischen Normalspektrum sowie einem entsprechenden zweigeteilten (rechts/links) Anormalspektrum funktioniert, dass das Normalspektrum Normalparteien definiert und also per definitionem antagonismuslos ist und dass die Populismen aber Antagonismen artikulieren. Die populistische ›Störung‹ liegt demnach darin, dass das postmoderne Axiom der Antagonismuslosigkeit auf spezifisch politischer Ebene gestört wird. Das kann man also genauer in meinem Buch nachlesen, wo ich dann auch die kontroverse Populismustheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, in der der Antagonismusbegriff in einer m.E. “subjektiv” verengten Fassung eine zentrale Rolle spielt, ausführlich diskutiere.

Transnormalistische Auswege?

Die Analyse der “Flüchtlingskrise” schließlich setzt das Kapitel über globale Normalitätsklassen voraus, das hier nicht resümiert werden kann. Diese Krise ist der Musterfall einer womöglich irreversiblen Denormalisierung, wie es schon der zeitweilige Kollaps der Verdatung im Jahre 2015 erweist. Was also, wenn normalistisches Management in Fällen wie exemplarisch der “Flüchtlingskrise” kollabiert? Muss der Normalismus dann notständisch, sonderpolizeilich oder sogar militärisch verteidigt werden? Oder wäre das die paradoxe Selbstbeseitigung von Normalitäten und am Ende des Normalismus insgesamt? Aber gibt es denn überhaupt Alternativen zum Normalismus, also so etwas wie transnormalistische Auswege? Dieses Problem diskutiere ich im letzten Teil meines Buches.

Das ist zum Lesen gedacht, aber einen Punkt will ich abschließend nennen: Ich denke, dass als Voraussetzung das faktische Diskussionsverbot von Antagonismen im hegemonialen, also normaldemokratischen mediopolitischen Diskurs durchbrochen werden muss. Die Artikulation von Antagonismen und die Erörterung ihrer Behandlungsmöglichkeiten darf nicht dem sogenannten Rechtspopulismus, der im wesentlichen ein Neorassismus ist, überlassen bleiben. So begrüßenswert demokratische Massendemonstrationen sind: Mit “Herz statt Hetze” ist es nicht getan – das ist eine Parole, die ganz im Sinne des postmodernen flexiblen Normalismus Antagonismen leugnet. Mein Buch läuft, soviel sei verraten, auf Leugnung dieser Leugnung heraus, und zwar, wie ich denke, ganz operativ.

Anm. d. Red.: Das Buch von Jürgen Link “Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne” ist bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. Das Foto oben im Text stammt von Mario Sixtus und steht unter CC-Lizenz.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.